Sonntag, 30. Oktober 2022

Im Westen nichts Neues - Edward Bergers Remake ist schrecklich sehenswert

Edward Bergers deutsch-amerikanisch-britische Koproduktion „Im Westen nichts Neues“ (All Quiet on the Western Front) ist eine der Premium-Produktionen, die NETFLIX in regelmäßigen Abständen auf dem Streaming-Markt platziert, um Imagepflege zu betreiben und die Kundenbindung auszubauen. Und wie immer, wenn der Streaming-Anbieter dies tut, löst dies reflexhaft heftige Wut bei einigen Kritikern aus.
Bashing verwickelt sich in Widersprüche, die entstehen, wenn eine Meinung die Analyse aushebelt und die Rezension zu einer Glaubensfrage macht. Einer kritischen Auseinandersetzung mit Edward Bergers Film kann dies nur im Wege stehen. Seine Neuverfilmung des gleichnamigen Romans von Erich Maria Remarque ist überwältigend, und zwar im guten wie im schlechten Sinne. Auf jeden Fall polarisiert er. Offenbar auch die Filmkritiker und auch davon wird die Rede sein.

„Recycling des Todes“

Kriegs- und Anti-Kriegsfilme sind so alt wie das Kino. In den modernen Vertreter des Genres verlassen sich die Macher immer noch auf brachial-naturalistische Erzählungen, aber sie suchen auch nach neuen Stilmitteln. Sam Mendes‘ „1917“ wurde in einer Einstellung gedreht. Das visuelle Chaos einer über das Schlachtfeld rasenden Kamera spiegelte ungeschnitten das Chaos der blutigen Kämpfe wider.
Andere Filmemacher versuchen, einen möglichst originellen Prolog zu entwickeln. Die Ästhetisierung des Kriegs im Film war nie ein Tabubruch.

Die Intentionen sind klar: der Zuschauer soll entweder überwältigt oder mit ästhetischen Mittel emotional aufgeladen werden. Steven Spielbergs „Saving Private Ryan“ wurde durch den brutalen Naturalismus der Eingangssequenz stilprägend. Das Gemetzel während der Landung der Alliierten in der Normandie trieb 1998 allerdings die Zuschauer in Scharen aus den Kinosälen. Der Kritiker Jan Distelmeyer beschrieb Spielbergs Prolog als Versuch, dem Zuschauer die Illusion einer quasi-körperlichen Erfahrung zu vermitteln. So funktionieren auch Computerspiele. Tatsächlich wollte Spielberg davon erzählen, dass mitten im Massenschlachten die Rettung eines Einzelnen nicht sinnlos geworden ist.

Edward Bergers Film beginnt dagegen mit einem ruhigen Stillleben. Unbewegte Kameraeinstellungen zeigen Wälder und Bäume, es herrscht Stille. Dann zeigt die Kamera einen Fuchsbau, in dem eine Füchsin und ihre Jungen schlafen, bis ein junger Fuchs damit beginnt, an den Zitzen der Mutter zu saugen. Die wacht erst dann jäh auf, als fernes Grollen zu hören ist. 
Dann zeigt die Panoramatotale einer Kameradrohne ein Schlachtfeld, in dessen Schlamm und inmitten der rauchenden Trümmer unzählige tote Soldaten liegen. Man kann nicht anders als bei diesem Prolog an Terrence Malicks „The Thin Red Line“ (1998) und seine Naturmystik zu denken: der Natur ist es egal, was rings um sie herum geschieht. Angesichts der Jahrmillionen, die die Natur auf dem Buckel hat, ist das kurzfristige Erscheinen einer blutrünstigen Spezies auf dem Planeten nur eine kurze banale Episode.

Der Prolog von „Im Westen nichts Neues“ könnte also eine ästhetische Camouflage von Edward Berger („KDD-Kriminaldauerdienst“, 2008, „Deutschland 83“, The Terror“, 2018, „Your Honor“, 2020-2021) sein, aber er ist noch längst nicht zu Ende. Die Leichen werden vom Schlachtfeld abtransportiert, die Uniformen und Stiefel werden ihnen abgenommen. Alles wird akribisch gewaschen, die Einschusslöcher werden gestopft und die aus diesem Wiederverwertungsprozess gewonnenen Produkte werden von der Front abtransportiert, um in der Heimat neuen Rekruten in die Hand gedrückt zu werden. 

Es sind junge patriotische Männer, die den Hetztiraden ihrer Lehrer glauben und sich 1917 freiwillig zum Einsatz an der Front melden. Zu ihnen gehört auch der Abiturient Paul Bäumer (Felix Kammerer), dem bei der Musterung auffällt, dass sich in seiner Uniform ein Etikett mit einem Namen befindet. „Das war dem wohl eine Nummer zu klein“, erklärt ein Feldwebel beiläufig.
Was in diesem Prolog recycelt wird, ist der Tod. Die Post Mortem-Industrie bewertet den Wert von Uniformen und Stiefeln höher als die noch lebenden Körper der Soldaten, die sie so lange nachverwerten sollen, bis sie selbst tot sind. Allein diese Bilder machen Bergers Version von „Im Westen nichts Neues“ sehenswert.

Drei Verfilmungen eines „unpolitischen Romans“

"Im Grunde hat sich die Geschichte nicht verändert. Vor 100 Jahren sind die jungen Menschen in den Krieg gezogen und wurden von Demagogen durch Propaganda und Manipulation dazu bewegt, dies mit Begeisterungsstürmen zu tun. So ist es heute auch. Das hat sich nicht geändert" (Edward Berger).

Erich Maria Remarques Roman „Im Westen nichts Neues“ erschien 1928. Der in Osnabrück geborene Schriftsteller verarbeitete eigene, kurze Fronterfahrungen während des 1. Weltkriegs in einem von ihm „unpolitisch“ genannten Buch. Der später als bekennender Pazifist gefeierte Autor wollte davon erzählen, wie der Krieg auch die Überlebenden zerstört – ein öffentliches Bekenntnis zum Pazifismus blieb Remarque lange schuldig. Erst 1963 stellte er fest: „Ich dachte immer, jeder Mensch sei gegen den Krieg, bis ich herausfand, dass es welche gibt, die dafür sind, besonders die, die nicht hingehen müssen.“

Für Stefan Zweig war Remarques Roman ein vollkommenes Kunstwerk, der einflussreiche Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki hielt Remarque für begabt, tadelte aber Anfang der 1960er-Jahre die „provozierende Effekthascherei“ des Autors. Berühmt wurde Remarque dann wohl durch die schnelle Verfilmung des Buches, das in 50 Sprachen übersetzt wurde. Bis 2007 wurden über 20 Mio. Exemplare verkauft. 

Lewis Milestones „All Quiet on the Western Front“ dürfte seinen Anteil daran haben. Seine Adaption gewann bei der Oscar-Verleihung im Jahre 1930 in den Kategorien Bester Film und Beste Regie. Ungeachtet der Tatsache, dass an Milestones Film später deftig herumgeschnippelt wurde, feierte man den Film als ikonischen Meilenstein eines humanitären Pazifismus. Zu Recht, aber erst 2022 erschien eine 6-Disc-Ultimate Edition mit allen Schnitt- und Synchronfassungen.

Nicht ganz so berühmt wurde Delbert Manns gleichnamige Verfilmung aus dem Jahre 1979, die immerhin einen Golden Globe als beste TV-Filmproduktion gewann und sich noch mehr an der literarischen Vorlage orientierte als Milestones Film. Die Hauptrolle spielte Richard Thomas (John-Boy in „Die Waltons“) und mit Ernest Borgnine und Donald Pleasence war der Film auch sonst ordentlich besetzt.

Spätestens nach der zweiten Verfilmung gab er außer ökonomischen keine wirklich überzeugenden Gründe für eine weitere Kinofassung. Es sein denn, man findet neue Blickwinkel. Berger hält sich zunächst an die Kerngeschichte der Vorlage: die patriotische Indoktrinierung Paul Bäumers und seiner Schulfreunde, ihre vollständige Desillusionierung an der nordfranzösischen Front, als französische Granaten viele von Pauls Schulkameraden töten. Auch die militärische Barbarei des berüchtigten Stellungskriegs, bei dem die Soldaten beider Kriegsparteien immer wieder in das MG-Feuer und einen Hagel von Granaten hineinliefen, um bestenfalls 100 m Terrain zu gewinnen, führen alle drei Verfilmungen ausgiebig vor. Essentiell ist die Szene, in der Paul einen französischen Soldaten ersticht und entsetzt dem nicht enden wollenden Sterben zusehen muss.

Hier enden die Gemeinsamkeiten. Edward Berger, der zusammen mit Lesley Paterson und Ian Stokell das Drehbuch verfasste, ging beim Scriptwriting deutlich freier mit der Vorlage um als seine Vorgänger. So ist zum Glück der sadistische Unteroffizier Himmelstoß verschwunden, der in Milestones und Manns Film als Archetypus die menschenverachtende Seite des Krieges verkörperte, aber wie auch andere Figuren (z.B. Paul Bäumers Lehrers) so grell überzeichnet wurde, dass man die Figur heute nur noch als komödiantische Einlage wahrnehmen würde.

Weniger klug ist Bergers Verzicht auf eine wichtige Episode aus Remarques Roman. Nämlich Pauls Heimaturlaub, der auch in Lewis Milestones Film zeigte, dass für die überlebenden Frontkämpfer in der Gesellschaft kein Platz mehr sein würde: Niemand würde ihren Erfahrungen Glauben schenken. Pauls Besuch der Heimat hätte auch in Bergers Film das Framing im deutschen Kaiserreich allegorisch in das Hier und Heute überführen können. Für Kaiser, Gott und Vaterland zu kämpfen heißt heute nämlich anders.

Also eine vertane Chance. Dass Frontkämpfer Ideologien und Kriegspropaganda dekonstruieren können und nicht nur in einer militanten Gesellschaft schnell lästig werden, ist ein Tropus, der in den Kriegs- und Antikriegsfilmen immer wieder auftaucht. Zum Beispiel in William Wylers „The Best Years of our Lives“ (1946), in Ted Kotcheffs „Rambo“ (1982) und etwas subtiler in Michael Ciminos „The Deer Hunter“ (1978). Cimino war es, der Erich Maria Remarques Intentionen wohl am besten umsetzte.

Stattdessen setzt Berger voll und ganz auf Naturalismus und stellt Paul Bäumer in den Fokus des Films. Der österreichische Schauspieler Felix Kammerer spielt die Rolle bei seinem Spielfilmdebüt exzellent. Gecastet wurde er wegen seines unschuldigen Gesichts. Pauls Schulkameraden wie Albert Kropp (Aaron Hilmer) und Frantz Müller (Moritz Klaus) erhalten dagegen nur ein schwaches Rollenprofil. Ohnehin werden die meisten von Granaten zerfetzt, fallen im MG-Feuer, werden in den Unterständen begraben oder von Panzerketten zerquetscht. Wenn die Munition ausgeht, wird mit Messern, Helmen, Steinen und Bajonetten getötet, der Feind mit Spaten erschlagen, während die Franzosen bei ihren Gegenstößen mit Flammenwerfern auch jene abfackeln, die sich ergeben wollen. Und wenn Granaten einen Körper zerfetzen, zeigt Berger dank moderner Tricktechnik, wie sich Körper in auseinanderfliegende Fleischfetzen aus Blut, Knochen und Gedärmen verwandeln.

„Für Kaiser, Gott und Vaterland“ - die verräterische Sprache

Wie geht man mit diesem Body Horror um? Es sind Bilder, die nicht nur Kritiker gerne als „schonungslos“ bezeichnen. Wie in solchen Filmen gesprochen wird, ist eine Sache. Wie dann über Filme geschrieben wird, ist eine andere. So ist „schonungslos“ ist angesichts der brutalen Bilder genau genommen ein Euphemismus. Sprache wird verräterisch, wenn sie sich Vokabeln bedient, die sich wie Propaganda, Werbung oder Marketing anhören. Oder wenn sie floskelhaft wird. Oder anti-faktisch.
Letzteres ist ärgerlich. So wurde Edward Bergers brutal-authentische Darstellung des Stellungskriegs in einer Kritik als zweieinhalbstündiges Dauergemetzel bezeichnet: Bergers Film sei wie der Prolog von Spielberg „Saving Private Ryan“, aber auf 148 Minuten aufgeblasen.
Dies stimmt nicht. Bergers Film besteht aus zwei Teilen. Der erste zeigt Paul Bäumers Erfahrungen an der nordfranzösischen Front im Frühjahr 1917. Dann folgt ein Intermezzo mit Matthias Erzberger (Daniel Brühl) und Bergers Film macht einen Sprung in den November 2018, also in die letzten Tage vor dem Kriegsende. Paul ist mittlerweile ein Soldat geworden, für den das Töten zur täglichen Routine geworden ist, aber Berger zeigt auch die Soldaten in den langen Pausen zwischen ihren Einsätzen, ihre permanente Suche nach Nahrung. Das Pacing wird deutlich ruhiger, etwa wenn Paul und sein bester Kumpel, der kriegserfahrene Stanislaus Katczinsky (Albrecht Schuch), versuchen, bei französischen Bauern Hühner zu klauen. Oder wenn sie ganz einfach darüber sprechen, was sie nach dem Krieg tun wollen.

„Im Westen nichts Neues“ ist also kein zweieinhalbstündiger Splatterfilm, wie uns der Kritiker weismachen will. 
Der hatte zudem „lange Schlachtszenen, unterlegt mit dröhnender Heavy-Metal-Musik“ gesehen und gehört. Auch das ist Bullshit. Die Filmmusik von Volker Bertelmann (Nominierung für Oscar und Golden Globe: „The Lion“, 2016) besteht aus einem nuancierten Klangteppich, manchmal aus verfremdeten Geräuschen, ein Sound, der sich fragmentarisch und minimalistisch ausbreitet, zu brachialen 3-Ton-Harmonien wechselt (z.B. Bertelmanns „Remains“), um sich dann beinahe introvertiert von den Bildern abzuwenden. Bertelsmann gehört zu den weltweit besten Filmkomponisten – und wer sich Score und Soundtrack anhören möchte, wird statt Heavy Metal dann Bachs „Ich rufe zu dir, Herr Jesu Christ“ hören.

Meinungsjournalismus oder miserable Recherche?

Auch die in vielen Kritiken verwendete Floskel vom “sinnlosen Krieg“ hilft dem Zuschauer nicht wirklich. Wenn Sinn mit „Bedeutung“ oder „Zweck“ korreliert, dann ist kein Krieg sinnlos gewesen. Man muss ja nicht jede Bedeutung und jeden Zweck akzeptieren, erst recht nicht, wenn Historiker wie Ian Morris die These vertreten, dass Kriege zu technischen Innovationen führen und letztlich Frieden und Fortschritt vorantreiben. 

Kriege sind auch kein „Zivilisationsbruch“, denn unsere Geschichte besteht aus einer Abfolge von Kriegen – unterbrochen von mehr oder weniger langen Pausen. Statt sprachlicher Gemeinplätze ist etwas anderes interessanter: die in den letzten 2000 Jahren entwickelten Bemühungen, die radikal-pazifistische Ethik der Bergpredigt mit einer Definition des „gerechten Kriegs“ in die Schranken zu weisen. Die prominenten Anwälte der Gerechtigkeit heißen u.a. Augustinus, Thomas von Aquin und Nietzsche. Und aktuell hat der Katechismus der Katholischen Kirche von 1997 einige Kriterien entwickelt, die beschreiben, wie ein gerechter Krieg Gottes Ordnung und die Sicherheit und Freiheit der Völker wiederherstellen kann. In welche Dilemmata man hineinrutscht, wenn man sprachlich an der Oberfläche schürft, habe ich in meiner „Dunkirk“-Kritik ideologie- und filmkritisch untersucht.

Fazit: Man hat beim Lesen schon das Gefühl, dass einige Filmkritiker viel Meinung und wenig Analyse produzierten, möglicherweise auch große Abneigungen gegen den Film entwickelten, weil er von NETFLIX produziert wurde.
Klar, das ist eine Unterstellung. Aber wenn ein Kritiker der Süddeutschen schreibt: „…„hier wird die Kunst mal wieder dem üblichen Netflix-Brimborium geopfert, weil die Zuschauer es gewohnt sind, dass es ordentlich rumst und ständig die Uhr tickt“ und ein anderer der Meinung ist, dass Bergers Film „Kriegskitsch“ ist und sich fragt, ob der Regisseur überhaupt das Buch gelesen habe und seinen Film  „mit einem Titel versehen (hat), der weltweit bekannt ist, der Prestige und einen guten Verkauf garantiert. Vielleicht sogar einen Oscar“, dann wird Animosität sichtbar. Vielleicht auch mehr.
Ich erinnere mich noch gut daran, dass einige Kritiker von Sam Mendes‘ gewiss nicht zimperlichen Film „1917“ (2019) begeistert waren, vielleicht auch, weil er in einer Einstellung gedreht wurde. Ästhetik verfeinert halt einiges – auch die Wahrnehmung. 
Ähnlich abstruse Reaktionen löste Mel Gibsons Pro-Kriegsfilm (!) „Hacksaw Ridge“ (2016) aus, in dem ein von Andrew Garfield gespielter pazifistischer Soldat ‚lernt‘, dass erst der Tod das Leben der Soldaten veredelt und es einem sinnvollen Zweck zuführt. Und Überleben nur Sinn macht, wenn man sofort wieder in den Kampf zieht. Trotz dieser Blödigkeit wurde Gibsons Ästhetisierung von Terror, Gewalt und Tod von einigen Kritikern gefeiert, weil man dem Film mit viel intellektuellem Aufwand humanistische Botschaften andichtete.

Der Krieg als Politikum

Berger kann man zumindest keine unangemessene Ästhetisierung vorwerfen - auch wenn die Kameraarbeit von James Friend technisch überragend ist - wohl aber die größte Distanz zu Remarques Roman. Zumindest was das Episodische betrifft und die Streichung einiger Figuren. 

Dafür hatte Berger beim Scriptwriting eine gute Idee, für die sich Remarque in seinem „unpolitischen Roman“ nicht wirklich interessierte: nämlich den historisch-politischen Hintergrund zu skizzieren. Berger baut dazu zwei Figuren in den Film ein: den fiktiven und von Devid Striesow hart am Rand zum Klischee gespielten General Friedrich und den deutschen Sozialdemokraten und Staatssekretär Matthias Erzberger (Daniel Brühl), der sich vergeblich für Verhandlungen und ein Ende des Krieges einsetzte. 
Erzberger war Leiter der Waffenstillstandskommission, die sich im November 1918 mit dem französischen Marschall Ferdinand Foch (Thibault de Montalembert) traf und schließlich für das Deutsche Reich am 11. November den Waffenstillstand von Compiègne unterzeichnete. Auf deutscher Seite waren zuvor 13,2 Mio. Soldaten umgekommen, auf der französischen waren es 8,4 Mio.

Das ist zumindest ein diskutabler Ansatz, aber Berger scheitert dann doch mit seinem ambitionierten Versuch. Daniel Brühls Rolle als Matthias Erzberger beschränkt sich auf wenige Sätze, die zwar die unmittelbare Betroffenheit des Staatssekretärs über die ungeheuren Verluste auf beiden Seiten widerspiegeln, aber wenn Erzberger zu einem Gespräch beim Generalstab eilt, folgt im Film ein harter Schnitt. Man hätte gerne mehr erfahren.

Am Ende wird der fanatische Friedrich, der den Krieg an sich liebt, den „Verrat der Sozialdemokraten“ auf seine Weise beantworten. Eine Stunde vor Beginn des Waffenstillstands schickt Friedrich seine ausgelaugten Soldaten für ein letztes Gemetzel in die Schlacht. Und so erlebt der mörderische Wahnsinn seinen Höhepunkt, als die mit Messern, Helmen und Spaten geführten Mann-gegen-Mann-Kämpfe beendet werden, als der Zeiger auf 11.00 Uhr springt. Der Krieg ist vorbei, die Überlebenden sinken erschöpft zu Boden, andere schlendern an ihren ehemaligen Feinden achtlos vorbei, als sei nicht Besonderes geschehen. Und so gelingt einem Film, der weder vollständig gelungen noch vollständig in die Hose gegangen ist, am Ende ein entsetzliches Bild wie man es in einem Kriegsfilm noch nie gesehen hat.
Paul Bäumer ist zu diesem Zeitpunkt bereits tot. Er stirbt in Bergers Film genau zehn Sekunden vor Kriegsende. Auch das wurde Berger verübelt. Im Roman stirbt er nicht hyper-dramatisch in letzter Sekunde: „Er fiel im Oktober 1918, an einem Tage, der so ruhig und still war an der ganzen Front, dass der Heeresbericht sich nur auf den Satz beschränkte, im Westen sei nichts Neues zu melden.“

Edgar Bergers Film ist weder restlos überzeugend noch ist er vollständig misslungen. Als Literaturverfilmung ist er zu eigenwillig. Visuell ist Edward Bergers „Im Westen nichts Neues“ ein Fegefeuer, das alle Möglichkeiten moderner Technik ausreizt, den Zuschauer aber erschlagen zurücklässt. Die Darstellung des Stellungskriegs gehört eher zum Genre des „Combat Films“ (der sich fast ausschließlich auf Kampfszenen beschränkt), mit der Figur des Matthias Erzberger versucht Berger allerdings dieses Genre abzuschütteln und gleichzeitig das Episodische der ethisch argumentierenden Anti-Kriegsfilms mit politisch-historischen Querverweisen zu ergänzen. Dies gelingt nur ansatzweise, die Idee ist allerdings richtig.
Überflüssig ist der Film jedoch nicht. Aber Bergers Film kann ohne adäquate Rezeption seine inhärenten Widersprüche nicht ganz loswerden. Und adäquat bedeutet, dass man als Zuschauer filmhistorisch gut aufgestellt ist,
sprachkritisch mit Rezensionen umgehen kann, nicht jeder Kritik glaubt und lieber selbst recherchiert.
Dabei muss man sich allerdings klarmachen, dass
Edward Bergers „Im Westen nichts Neues“ mit voller Wucht auf die aktuelle Zeitgeschichte trifft. Kritiker und Zuschauer müssen angesichts der Gräule des Ukraine-Kriegs eine Antwort auf die Frage finden müssen, ob die Hypothese vom „gerechten Krieg“ richtig ist, ob „unvermeidbar“ die bessere Bezeichnung ist oder ob ein rigoroser Pazifismus die einzige Antwort sein kann. Edward Bergers „Im Westen nichts Neues“ zu sehen, während vor der eigenen Haustür ein brutaler Krieg tobt, ist daher eine Herausforderung.

Viele Rezensionen reagierten positiv auf Bergers Film, fanden aber nun in einem Fall eine Antwort. Nur am Rande: Die Vertreter des Osnabrücker Erich Maria Remarque-Friedenszentrums erwarteten Mainstream, mussten aber ihr Meinung ändern. "Während des Films war ich zwischendurch etwas irritiert, weil der Film so gar nicht der Romanvorlage folgt", bilanzierte Claudia Junk. "Als der Film zu Ende war, war ich begeistert, nicht jubelnd, sondern erschüttert begeistert."
 Dass der Ukraine-Krieg allerdings auch den Regisseur überraschte, weiß auch Thomas Schneider, der Leiter des Friedenszentrums: "Der Film wird als Kommentar zur gegenwärtigen Situation wahrgenommen. Obwohl das natürlich gar nicht intendiert wurde.“ Welche Antwort der Kommentar gibt, konnte Schneider aber nicht sagen.

Note: BigDoc = 2

Pressespiegel

„So stark der Film ist, so schmerzhaft ist er auch als Erfahrung. Aber vielleicht ist gerade das ein Grund, ihn sich anzuschauen, für die Generationen, die 75 Jahre im Frieden gelebt haben. Vor allem aber sollten ihn Machthaber wie Putin sehen, der gerade 300.000 Reservisten in den Krieg zitiert, der also zu genau denen gehört, die Remarque meint“ (Anne Sterneborg, rbbKultur).

„Dem Buch "Im Westen nichts Neues" kommt der Film "Im Westen nichts Neues" hingegen leider nur auf eine sehr flüchtige Art nahe. Während der fast zweieinhalb Stunden, die der Film dauert, fragt man sich zuweilen, ob Regisseur Berger Remarques Roman überhaupt gelesen hat. Oder ob er ihn, wenn ja, dann eventuell nur deshalb gelesen hat, um möglichst viel Originalmaterial zu streichen, damit er und seine Drehbuchautoren möglichst viel neues Material erfinden können“ (Hubert Wetzel, Süddeutsche).

„Diese Verhandlung im Zug wurde hinterher von Nationalisten benutzt, um Matthias Erzberger und generell der Politik die Schuld in die Schuhe zu schieben, dass sie versagt haben und den Krieg verloren haben. Gegen den Willen des Militärs, die einfach sagten, wir hätten ihn auch gewonnen, was natürlich überhaupt nicht stimmte. Das hat am Ende zum Zweiten Weltkrieg geführt und darauf wollte ich ein Schlaglicht werfen, dass das erst der Anfang war" (Edward Berger).

Quellen

•    Birgit Schütte (NDR): "Im Westen nichts Neues": Was sagen Remarque-Experten zum Film?
•    Bpb: Definition Kriegsfilm
•    Soundtracki: Im Westen Nichts Neues Soundtrack
•    Ben Alber (BR Klassik): Der Soundtrack zum deutschen Oscar-Kandidaten
•    Hubert Wetzel (Süddeutsche): Schlammschlacht.

Anhang

Die Figur des Matthias Erzberger hätte für einen filmischen Epilog sehr interessant sein können. Erzberger wurde 1921 von nationalistischen Offizieren ermordet, die Täter gehörten der „Organisation Consul“ an, die weitere politische Morde beging und später der SS unterstellt wurde. Erzbergers Mörder mussten sich nach dem Zweiten Weltkrieg vor einem deutschen Gericht verantworten, wurden zunächst freigesprochen, 1950 aber zu langen Haftstrafen verurteilt. 1952 wurden sie aus der Haft entlassen, während andere Mitglieder der Terrororganisation am Aufbau eines Vorläufers des Bundesnachrichtendienstes beteiligt waren.


"Im Westen nichts Neues" (All Quiet on the Western Front) – Deutschland, USA, GB – Regie: Edward Berger – Drehbuch: Lesley Paterson, Edward Berger, Ian Stokell – Laufzeit: 148 Min. – FSK: ab 16 Jahren – Musik: Voller Bertelmann – Kamera: James Friend – D.: Felix Kammerer, Albrecht Schuch, Moritz Klaus, Aaron Hilmer, Edin Hasanović, Daniel Brühl, Devid Striesow, Tobias Langhoff u.a.