Mittwoch, 29. Juni 2011

Die kommenden Tage

Deutschland 2010 - Regie: Lars Kraume - Darsteller: Bernadette Heerwagen, Johanna Wokalek, Daniel Brühl, August Diehl, Susanne Lothar, Ernst Stötzner, Jürgen Vogel, Vincent Redetzki - Prädikat: besonders wertvoll - FSK: ab 12 - Länge: 129 min.

Es kam wie es kommen musste: auch im Filmclub gab es heftige Kontroversen über „Die kommenden Tage“. Dem einen war es zu wenig SF-like, dem anderen sagten die konventionellen Figuren nicht zu. Da ging es uns eben auch nicht besser als den Filmkritikern, die sich in überwiegender Anzahl entschlossen haben, den Film zu verreißen. Dabei wurde nicht immer zimperlich verfahren. So kam einer meiner ehemaligen Berufsgenossen offenbar zu dem Schluss, Details des Films umzubiegen (ach ja, eigentlich bin zu höflich: man muss schon von fälschen reden), um den Film in den gewünschten Kontext hineinzuzwingen. Man möge entschuldigen, wenn ich hier nicht Ross und Reiter nenne.
Warum diese Aufregung?

Eine politische deutsche Familiengeschichte
 „Die kommenden Tage“ ist (möglicherweise) ein politischer Film. Ich weiß zwar selbst nicht ganz genau, was dies genau ist, aber wir können uns darauf einigen, dass Regisseur Lars Kraume, der auch für das Drehbuch verantwortlich ist (wie schön: Autorenfilm! Hat ihm bei der Kritik allerdings auch nicht geholfen), eine Geschichte erzählt, die uns zeigt, wo unser Land im Jahre 2020 möglicherweise ankommen könnte. Es ist eine Geschichte über den Terrorismus, über Bundeswehrsoldaten, die für ein schwer zu vermittelndes Interessengemenge in fremden Ländern längst nicht mehr ‚zivil‘ agieren, sondern handfest zu den Waffen greifen. Natürlich, um Ressourcen zu verteidigen (wem auch immer sie gehören mögen).
Wir sehen auch, wie Europa sich vor den Wirtschaftsflüchtlingen aus Afrika und Asien abschottet, eine hohe Mauer baut und sie von FRONTEX (nur am Rande: die gibt’s tatsächlich, das ist nicht Science Fiction) verteidigen lässt.
Kraume zeigt uns, dass dies leider nicht hilft, dass in deutschen Städten Notunterkünfte wie Pilze aus dem Boden schießen und dass sich in den Supermärkten die Regale leeren (vermutlich, weil die Dritte-Welt-Länder kein preiswertes Obst mehr liefern), während in der Gesellschaft die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinander geht.
„Die kommenden Tage“ erzählt auch vom Irrwitz des Terrorismus – sehr subjektiv, nicht immer befriedigend, aber durchaus schlüssig in Zeiten, in denen nur noch wenige begreifen, warum auch junge Deutsche zum Islam konvertieren und sich dem Dschihad anschließen.
Und das alles, die disparaten Teile, oft nur durch kurze Einstellungen angedeutet und nicht weiterverhandelt, und die konsistenten, werden durch ein episches Konstrukt zusammengehalten, das man kurz und bündig eine deutsche Familiengeschichte nennen darf.
Das ist nicht neu. Ich darf dezent daran erinnern, dass Edgar Reitz in zweiten Teil seines seines Epos „Heimat“ nichts anderes getan hat, als relativ zeitnah eine Familiengeschichte zu erzählen, um die Geschichte der Sechziger zu entkernen.
Michael Haneke hat dagegen in „Das weiße Band“ den Blick auf die deutsche Geschichte gleich um 100 Jahre zurück verlegt. Das scheint sicherer zu sein und wohl am sichersten ist es, gleich die „Buddenbrocks“ zu verfilmen, denn wenn Filmemacher von der jüngeren Vergangenheit berichten oder gar einen Science Fiction-Film über unsere nahe Zukunft machen, scheint sich die Masse der Kritiker dezent zurückzuziehen.

Es ist interessant, wie 1993 der SPIEGEL den grandiosen Flop (Heimat I und sein Schabbach in den Zeiten des Nationalsozialismus hatten noch 4 Millionen gesehen, das Fortspinnen der Geschichte in den 60er Jahren wollte kaum mehr als eine Million Zuschauer sehen) von „Heimat II“ mit einem Rekurs auf die Verflachungstendenz in den Medien kommentierte: „Kein Wunder also, dass zur Sendezeit der Reitz-Chronik Schwachsinnsstreifen wie "Manta Manta" oder die Unterhaltungsschabracke "Das Traumschiff" mit einem Vielfachen der Zuschauer davonfuhren. Im Zeitalter des Fast-food-TV ist bündige Kürze gefragt, statt der Unerklärbarkeit der Welt das patente Sinnsurrogat, statt des Lebens langen Atems die Kurzatmigkeit zwischen zwei Cliffhängern, den Spannungshebern der Serie.“ (http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13682401.html).

Allerdings teilte das Magazin dann auch saftige Hiebe aus, die darin gipfelten, dass Reitz dann doch wohl zu elitär und versponnen ein Bild der 60er und 70er entworfen habe. Ich kann mir nicht helfen: Heimat II hielt ich immer für den besten Teil der Reitzschen Trilogie, weil in die bittersüßen Liebesgeschichten und die kleinen Problemchen der Münchener Künstler-Schickeria immer wieder viel Zeitgeist der Sechziger eindiffundierte. Auch der Kommentar Reitz´ zum Elend des deutschen Terrorismus hatte mehr zu erzählen als der trotz aller berechtigten Kritik unterschätzte „Baader-Meinhof-Komplex“.
Was lernt man daraus? Es ist schwer kalkulierbar, unter welchen Bedingungen ein Sujet, in dem Politisches und Geschichtliches neben durchaus auch melodramatische Einzelschicksale gestellt wird, den Zuschauer emotional und intellektuell erreicht. Und es ist noch schwerer zu verstehen, warum die deutsche Kritik geradezu aufgeregt mit Schimpfkanonaden herumfuchtelt, wenn es ein Filmemacher überhaupt versucht. 

Zwei Schwestern
Film ist zunächst einmal nicht analytisch, auch nicht, wenn es um Politik und Zeitgeschehen geht. Er infomiert auch nicht unmittelbar, auch wenn sich dies der eine oder andere wünscht. Zur Grammatik der Narration gehört zunächst die Kunst, sich geschmeidig konventionellen Erzählmustern anzupassen und dann in diese Disparates einzuschmuggeln, was an den Sollbruchstellen wenigstens irritiertes Innehalten auslösen sollte.
Das gelingt Kraume recht gut. Er steckt den Rahmen der Kernerzählung mit einem Prolog und einem Epilog ab, die beide im Jahre 2020 spielen und lässt im Off eine seiner Hauptfiguren erzählen: es ist die etwas naivere der beiden Schwestern Laura (Bernadette Heerwagen) und Cecilia Kuper (Johanna Wokalek). Während also Laura im Zug sitzt und gen Süden reist, erzählt sie im Off davon, wie in Europa die Zivilisation verteidigt wird und dabei den Bach runtergeht. Kraume blendet zurück auf das Jahr 2012 und auf die Familie, die zumindest den Alt-Sechzigern immer schon als verdächtiger Schoß des Übels galt. Nun gibt es aber bei den Kupers keine Alt-Nazis, nein, der Herr Papa arbeitet im weitesten Sinne für Kunden aus der Energieindustrie, während im Fernsehen die Nachrichten vom zweiten Golfkrieg über den Bildschirm flimmern.
In dieser Familie wird Politik von der Eltern nur am Rande registriert, dafür gerät anderes aus den Fugen: Laura und Cecilia wissen nicht, ob ihr Vater (Ernst Stötzner) tatsächlich auch der biologische Vater ihres ganz offensichtlich drogenabhängigen Bruders ist, die Mutter (Susanne Lothar) reagiert gereizt, überfordert und resigniert auf den sich anbahnenden Zerfall der Familie. Und ein und aus geht auch Cecilias Freund Konstantin (August Diehl): frech, renitent und anmaßend.
„Doch die Erzählstruktur ist zu verstrickt, viele Handlungsstränge verlaufen ins Nichts, andere Themen werden nur oberflächlich angekratzt, große Zeitsprünge und Auslassungen sorgen für Verwirrung. Gerade am Ende wird alles aufgefahren, was nur geht, die Dramatik steigt ins Unermessliche und auch das ist einfach zu viel des Guten. Der fulminante, übertriebene Schluss macht die gesamte Geschichte zunichte und unglaubwürdig. Man verlässt das Kino völlig geplättet mit vielen offenen Fragen und fühlt sich von diesem wuchtigen Film fast erschlagen. Dennoch gelingt dem Film eine durchaus realistische Schilderung der Zukunft (Julia Binder, Bayern 3)“.

Aus diesem Ensemble werden sich die beiden Hauptstränge der Geschichte herausschälen: Cecilia wird aufgrund ihrer sexuellen Abhängigkeit dem zunächst nur als Spaß-Protestierer auftretenden Konstantin bald zu den „Schwarzen Stürmen“ folgen, einer Untergrundbewegung, die sich rasch zu einer gewaltbereiten Terrorbewegung entwickelt; die eher brave Laura, eine Promotionsstudentin, die sich nicht von ungefähr mit Evolutionsbiologie beschäftigt (da wirft halt gelegentlich auch mal eine hübsche Dialogzeile ab), wird sich in den schwer kranken Aussteiger Hans (Daniel Brühl) verlieben. Hans (er hat tatsächlich zuvor bei Lauras Vater in der Anwaltskanzlei gearbeitet, was man, nun ja, durchaus als über-konstruiert empfinden darf) droht zu erblinden und hat seinen schicken Anzug mit wetterfester Kleidung getauscht, um sich an der Schwelle zum Sehverlust als Hobby-Ornithologe seinen privaten Neigungen hinzugeben. In einer untergehenden Welt, wie er selbst konstatiert.
„Man fragt sich, welchen 2000-Seiten-Roman Kraume hier auf zwei Stunden eindampfen musste. Dabei hat er sich die disparaten Handlungsstränge und die arg verquasten Dialoge alle selbst ausgedacht“ (Philipp Bühler, Berliner Zeitung).

Bestandsaufnahme, Science Fiction und Melodram - zu viel des Guten?
Kraume hat zugegebenermaßen sehr viel in den Grundaufbau seiner Geschichte hineingepackt. Die Figuren sind allesamt miteinander vernetzt, ihre Lebensgeschichten  tragen trotz der vielfältigen Facetten etwas Typologisches und Lehrbuchaftes in sich. Daran kann man sich kritisch abarbeiten, besonders auch weil die politischen Analogien unschwer auch als private sichtbar werden und leicht zu entziffern sind: der Weg der Emanzipation, wie immer sie auch ausfallen mag, ist besonders im deutschen Kino immer auch eine Befreiung von der Familie und hin zu der Familie. Dies gilt offenbar für Aussteiger und Angepasste.
Cecilia wird mit den „Schwarzen Stürmen“ einen radikalen Gegenentwurf zur restaurativ-konservativen Familien-Keimzelle finden: sexuell libertär, verschwörerisch, am Ende autoritär-faschistisch; Laura will und wird mit dem rührend sensiblen Hans eine nette Kleinfamilie gründen, die fähig, sich hermetisch gegen die Außenwelt abzuschirmen, auch wenn man dazu nicht unbedingt in eine Hütte in den Alpen ziehen muss, wie es Hans vorschlägt.
Beide Schwestern werden (mehr oder weniger) an ihren Träumen zugrunde gehen: Laura wird sich von Hans trennen, weil eine seltene genetische Anomalie es verhindert, Kinder mit ihm zu zeugen; Cecilia wird trotz gelegentlicher Gegenwehr dem zynisch-charmanten Konstantin folgen und daran zerbrechen, dass ausgerechnet ihr Freund seine Schwester als bürgerliche Tarnkulisse missbraucht und mit ihr ein Kind zeugt.
„Wie diese Figuren für divergierende Lebenskonzepte einstehen müssen, ist allzu exemplarisch und lässt kaum Ironie erkennen – vermag aber doch zu faszinieren, denn in der eleganten Verknüpfung der Zukunftsvision mit Melodrama-Klischees gelingen Lars Kraume zahlreiche zwingende Szenen“ (Patrick Seyboth, epd-Film).

Das riecht alles, wie Seyboth richtig feststellt, ein wenig nach Melodrama und es ist nicht zu leugnen, dass der Plot seine ehrgeizigen Ziele offenbar nur umsetzen kann, wenn er seine Figuren emotional auflädt und gleichzeitig das Exemplarische und Typologische an ihnen betont. Zum Glück gelingt es Kraume, die Erzählstränge plausibel zusammenzuhalten und dabei die Glaubwürdigkeit der Figuren nicht einzubüßen.
Das liegt natürlich auch an den Darstellern. Während Johanna Wokalek nach ihre Gundrun Ensslin im „Baader-Meinhof-Komplex“ durchaus im Fach geblieben ist und August Diehl den abgezockten und sexuell omnipotenten Terroristen mit deutlicher Anlehnung an die Baader-Figur spielt (was keineswegs unplausibel ist), haben mich
Bernadette Heerwagen und Daniel Brühl noch mehr überzeugt – ihre Figuren laufen am wenigstens Gefahr, im Rollenklischee zu landen, ihre Glaubwürdigkeit wird durch ihre Fragilität und ihre Verletzlichkeit überzeugend begründet.
Und überhaupt ist Kraume dann am besten, wenn es nicht knallig zugeht.
„Der schlechteste Film mit der besten Besetzung: Lars Kraumes Film „Die kommenden Tage“ versammelt die Creme der deutschsprachigen Film- und Theaterszene, Stars wie August Diehl, Bernadette Heerwagen, Johanna Wokalek und Daniel Brühl. Was braucht man da noch ein gutes Drehbuch?... Die Dekadenz aber, von der „Die kommenden Tage“ erzählt und die in der mit einer reichen Kunstsammlung dekorierten Lounge-Wohnung ihre Schaltzentrale hat, besitzt durchaus ein Vorbild in der Wirklichkeit. Es ist eine maßlos gewordene Förderkultur, die das Teure und Pompöse über das künstlerisch Überzeugende stellt. Die Qualität eines Drehbuchs, die Überzeugungskraft eines Regiekonzepts, spielen beim Deutschen Filmförderfonds keine Rolle mehr. Welches Prestige will man damit gewinnen? Wie lange soll die Party noch weitergehen? Auf internationalen Festivals kann man einen Film wie diesen kaum unterbringen.“ (Daniel Kothenschulte, Frankfurter Rundschau. Programmatische Überschrift der Kritik: „Zu ernst um gut zu sein“.

Und damit nähern wir uns auch der Crux des Ganzen? Was will uns „Die kommenden Tage“ eigentlich erzählen? Fangen wir mit etwas anderem an: zunächst verbucht Kraumes Film bei mir einen Pluspunkt aufgrund des Umstandes, dass es ihn überhaupt gibt.
Das ist eigentlich skandalös, denn offenbar ist dies kein qualitatives, sondern ein rein quantitatives Argument. Aus gutem Grund: Ich mache keinen Hehl daraus, dass mir das Elend des deutschen Kinos seit Jahrzehnten auf den Geist geht. Bereits der Nachkriegsfilm hat aus meiner Sicht inmitten der restaurativen Grundstimmung im Lande filmhistorisch komplett versagt und sich einer Aufarbeitung der eigenen Geschichte verweigert. Und auch der Neue Deutsche Film der Sechziger blieb trotz seines unverkennbar großen Potentials eine Fußnote. Ich will mich auch nicht zu einer elitären Kritik an den aktuellen deutschen Box-Office-Hits versteigen. Stattdessen die These: abgesehen von einigen Ausnahmen (auch im öffentlich-rechtlichen Fernsehen, ja, es gibt sie, ich will dies nicht leugnen) schweigen das filmgeförderte deutsche Kino und das TV-Fernsehspiel, wenn es um Dinge geht, die die Menschen offenbar doch bewegen: Globalisierung, Arbeitslosigkeit, Finanzkrise, deutsche Kriegseinsätze im Ausland.
 
Gibt es den politischen Film?
Will man im Kino einigermaßen intelligente und provozierende Kommentare zu zeitnahen Themen sehen, muss man sich im britischen Kino bei Ken Loach (It’s a free world) und Mike Leigh (Vera Drake, Happy-Go-Lucky)  umsehen (allerdings ist die Situation des New British Cinema alles andere als viel versprechend, wenn man berücksichtigt, dass auch auf der Insel die gepriesenen Vertreter des Sozialrealismus eher ein Fall für das Cineasten-Festival als für die harte Kinokasse sind: http://www.nzz.ch/2004/06/04/fi/article9IOGA.html). 
Oder man schaut sich Frankreich um: zuletzt im Filmclub: „Welcome“, ein Film des Regisseurs Philippe Lioret aus dem Jahr 2009. Der lief zumindest im französischen Parlament.

Lars Kraume hat es wenigstens versucht, den Spagat zwischen einer Geschichte, die viele erreichen kann, und der Darstellung zeitnaher Themen in ein zugegeben anspruchsvolles Genre zu packen. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass sich ein deutscher Regisseur bislang an einen politischen Science Fiction-Film herangetraut hat und es geschafft hat, so zielsicher kleine verstörende Irritationen in ein mainstream-taugliches Format zu packen: die Entgleisung des in unserer Verfassung festgeschriebenen Verteidigungsauftrages unserer Bundeswehr? Zu weit hergeholt? Wirklich?  Die Angst vor den politischen und wirtschaftlichen Flüchtlingen, die bald ante portas stehen. Ist das zu strange angesichts der politischen Aufstände in Libyen, Tunesien und Syrien? Der unaufhörlich voranschreitende technologische Progress in einem Land, dem die Grundnahrungsmittel ausgehen? Tobt nicht seit Jahren ein Preiskampf um unsere Grundversorgung, um Lebensmittel, Energie und medizinische Versorgung, der deutlich die Unterschiede zwischen den prekären und den einigermaßen gesicherten Lebensverhältnissen abbildet? Wird uns etwas auf Dauer die Entscheidung erspart bleiben, entweder politisch zu reagieren oder uns in eine private Nische zurückzuziehen? Ich glaube nicht.
„Mutlos flüchtet sich Die kommenden Tage in Eskapismus-Ideale. Die Lösung aller Probleme findet sich ausgerechnet auf der Alm. Ein Aufbegehren gegen die eigene dystopische Vision lehnt der Film ab und entwirft trotz Systemversagen ein konservativ gezeichnetes Bild von Gut-Böse-Zuweisungen. Die Ereignisse der deutschen Gesellschaft aus den 1960er und 70er Jahren werden mit Problemen der Gegenwart vermischt, um aus beiden ein Bild der Zukunft zu stricken, das logischerweise recht unharmonisch und anachronistisch gerät.
Übrig bleibt die Frage, wem der Film als filmische Dystopie eigentlich als Warnung wovor dienen soll. Die kommenden Tage erscheint wie ein Lehrfilm, der einen leisen Appell an die gegenwärtige Regierungskoalition und gutbürgerliche Besitzstandswahrer richtet, grüne und soziale Reformen nicht zu vernachlässigen. Progressives und politisch mutiges Kino sieht jedenfalls anders aus“ (Till Boller in SCHNITT).


„Diese Negativ-Utopie mag auf den ersten Blick weit hergeholt erscheinen, in der Verdichtung der lebensweltlichen Umstände seiner Protagonisten aber erzielt Kraume hohe Plausibilität… Als Land, das man auf der ganzen Welt für seine spezifische "German Angst" schätzt und fürchtet, brachte Deutschland in den letzten Jahrzehnten erstaunlich wenig große Zukunftspanoramen hervor. Die paar aber, die gedreht worden sind, entwickelten enorme Wucht und Breitenwirkung - vom ARD-Zweiteiler "Welt am Draht", Rainer Werner Fassbinders paranoider mediengesellschaftlicher Betrachtung von 1973, bis zum ZDF-Dreiteiler "2030 - Aufstand der Alten" aus dem Jahr 2007, der vor dem Hintergrund einer überalternden Gesellschaft furios von neuen Verteilungskriegen erzählt.“ (Christian Buß im SPIEGEL).

Politische Filme mit einer Botschaft, die einer Handlungsanweisung ähneln und die uns die Welt bruchlos erklären, gibt es nicht oder sie sind Propaganda und bestenfalls Ideologie. Auf eine gewisse Weise bin ich bescheiden geworden: mir reicht es, wenn jemand nach einem Film irritiert blickt und stutzig wird. Wenn er danach eine Frage stellt, ist dies bereits der Anfang.
„Es ist bestimmt nicht wenig, was Kraume, der auch Autor und Produzent des Films ist, und diese seltene Freiheit weidlich nutzt, in seinen neuen Film hineinpackt. "Die kommenden Tage" ist zweifelsohne eines der ehrgeizigsten deutschen Filmprojekte der letzten Jahre und manche werden das alles schrecklich überladen finden, oder einfach ehrgeiziger, als es einem deutschen Film gebührt. Aber P.T. Andersons "Magnolia" und Afonso Cuarons "Children of Men", die diesen Film spürbar inspiriert haben, hat man so etwas auch nicht vorgeworfen.“ (Rüdiger Suchsland in TELEPOLIS).
„Jetzt mal ganz ehrlich, Scherz beiseite, genau genommen, wirklich, echt und ohne Scheiß: Warum sind wir eigentlich immer so schockiert davon, wenn jemand eine Wahrheit ausspricht?“ (Sophie Albers im STERN).

Postscriptum

Interessante Lektüre bietet ein Schrift der Friedrich-Ebert-Stiftung: „Mit Bilder bewegen – der politische Film heute“.
Im einleitenden Aufsatz „Die Wiederkehr des politischen Films“ gewährt Jan Hans einen (vielleicht zu optimistischen) Ausblick. Interessant sind seine Kriterien:
„Aus dem Programm des „politischen Films“ der 1970er Jahre sind drei Aspekte in der Diskussion geblieben:
• die Idee, dass Politik nicht auf der großen Bühne und in den Abkommen und Verträgen anschaulich wird, sondern in den Formen, in denen sie in den Lebensverhältnissen der Einzelnen greifbar wird („das Politische ist das Private“);
• die Vorstellung, dass es vor allem darum geht, ein Thema im allgemeinen Medienrauschen überhaupt sichtbar zu machen, es dem allgemeinen Diskurs zuzuführen („Öffentlichkeit herstellen“);
• schließlich der erklärungsbedürftige Satz Godards, man solle „keine politischen Filme, sondern Filme politisch machen“.

In „Das Politische, das Dokumentarische, das Utopische und der Film - Suchbewegungen mit offenem Ausgang“ schreibt Georg Seeßlen: Ein Film beginnt also politisch zu werden, wenn er die Ideologie infrage zu stellen beginnt, die in der Umwelt (im Abgebildeten), die in den eigenen Produktionsbedingungen (im Abbilden) und die in sich selbst (in der Abbildung). Eine besondere Methode dabei ist das, was man als den „transzendentalen Stil“ beschrieben hat. Der Begriff ist missverständlich, weil nur ein Teil der Regisseure und Regisseurinnen, die sich ihm verschrieben haben, damit eine spirituelle oder (wie etwa Robert Bresson) gar eine religiöse Dimension verbunden haben. Entscheidend in der Dramaturgie eines solchen Films (wir vereinfachen für den Zusammenhang, in dem wir uns bewegen) ist es, dass die Lösung eines Konflikts weder in den Bildern noch in den Erzählungen noch gar in den Charakteren liegt, sondern außerhalb des Filmes. Ein „transzendentaler“ Film zeigt das Elend der Menschen (ohne Ideologie, ohne Gerechtigkeit) und verfolgt es bis zu dem Punkt, an dem es wahrhaft unerträglich ist.
Was dann bleibt, ist nur die Empfindung der Gnade – oder die Revolte.“

Noten: BigDoc = 2, Mr. Mendez = 2,5, Klawer, Melonie = 3