Mittwoch, 8. Juni 2011

Hereafter - Das Leben danach


Es kann sein, dass man Filme macht, weil es Spaß bereitet. Besonders dann, wenn man es kann. In den zahlreichen Dokus der frisch auf den Markt geworfenen Bluray des letzten Clint Eastwood-Films Hereafter sieht man den Meister möglicherweise aus diesem Grund pausenlos lächeln. Ja, einige Mitstreiter behaupten sogar in den wie üblich vor gegenseitigem Lob überbordenden Interviews, dass nur jemand, der mehr weiß als alle anderen, so wissend lächeln kann. Und dann sieht man den über Achtzigjährigen, der kein Rentenalter kennt, immer wieder auf seinem Regieklappstuhl am Meer sitzen, entspannt den Blick in die Ferne gerichtet.
Klar ist nur, dass der Mann Spaß hat. Aber was hat er uns zu sagen? Und was erzählt er uns für Geschichten?

In Hereafter sind es gleich drei Episoden, die zusammengehalten werden müssen: da ist die französische Journalistin Marie (Cecile de France), die während eines Urlaubs von einem Tsunami erfasst wird, ertrinkt und wieder ins Leben zurückkehrt. Ihre Nahtod-Erfahrung wird die Existenz der TV-Ikone gründlich auf den Kopf stellen.
Und da sind die Zwillinge Marcus und Jason (Frankie und George McLaren), die an ihrer drogenabhängigen Mutter hängen. Als Jason auf der Flucht vor einer Streetgang vor ein Auto läuft, kann Marcus den Tod seines Bruders nicht verwinden – auch seine neue Pflegefamilie kann ihm nicht helfen. Marcus sucht verzweifelt nach Möglichkeiten, mit seinem Twin Kontakt aufzunehmen.
Der Fabrikarbeiter George Lonegan (Matt Damon) wiederum wäre in der Lage, Marcus’ Verzweifelung zu lindern – er kann mit Toten kommunizieren, betrachtet diese Gabe aber eher als Fluch denn als Segen. Das Medium entzieht sich der zuvor sehr erfolgreich praktizierten Kommerzialisierung seiner Fähigkeit und will nur noch leben, anstatt gegen Bezahlung mit den Toten zu sprechen.

Skript mit Erfolgsgarantie?
Frankreich, Großbrittanien, USA – die Figuren in Hereafter sind kreuz und quer über den Erdball verstreut und sie alle machen Erfahrungen mit dem Tod, die sie nicht verarbeiten können. Es ist klar, dass das Schicksal sie zusammenführen wird - oder besser gesagt: der Drehbuchautor. Der allerdings scheint, auch dies verrät das Bonusmaterial recht ausgiebig, per se schon ein Qualitätssiegel zu besitzen.
Peter Morgan wurde für The Queen (2006, Stephen Frears) und Frost/Nixon (2008, Ron Howard) für den Oscar nominiert und für so ein Kaliber lassen Stars wie Matt Damon schon einmal alles liegen, um bei der Umsetzung eines Morgan-Skripts mit dabei zu sein. Erst recht, wenn der Regisseur Clint Eastwood heißt.

Der erzählt die Geschichte mit seiner bekannten ruhig-lakonischen Art und das macht durchweg Vergnügen. Zum Beispiel, wenn man sieht, mit welcher Pointiertheit Eastwood aus scheinbar harmlosen, eher bedeutungsarmen Szenen durch genaues Hinsehen und sorgfältiges Inszenieren einen verborgenen Kern herausschält, der uns eine Figur wieder ein Stück näher gebracht hat. Das kann Clint Eastwood wirklich gut und das ist auch die große Stärke seines Films – man glaubt den Figuren nicht nur ihre Nöte bis in das letzte Detail, sondern auch ihre Marotten und Verspieltheiten.
Eastwood hat offensichtlich viel Spaß an diesem Erzählen und dies tut er auf eine wunderbare entschleunigte Art und Weise, die kapriziösen Pointen aus dem Weg geht. Wenn George beispielsweise in einem Kochkurs seine Partnerin, deren Augen verbunden sind, kleine Köstlichkeiten in den Mund schiebt, um sie raten zu lassen, worum es sich handelt, dann wird dies auf eine dezent-sinnliche Weise selbst zu einer kleinen cineastischen Meisterleistung. Über so etwas freut man sich genauso wie über die Vorliebe von George für Charles Dickens, die ihn am Ende nach London führt. Klar, dies ist nur ein Drehbuchtrick, aber gleichzeitig sind es ja solche Details, die Figuren eine liebenswerte Tiefe geben.

Ja, alle spielen phantastisch und werden mit respektvoller Milde von Eastwood skizziert, auch denn, wenn es emotional ans Eingemachte geht. Dies gilt auch für die belgische Darstellerin Cécile de France, deren Charakter nach dem Nahtod-Erlebnis von ihrem Lover, dem Programmdirektor ihres TV-Senders, langsam ausgebootet wird, erst recht, als sie damit beginnt, statt der geplanten Mitterand-Biografie ein spirituell angehauchtes Buch über ihre Erlebnisse zu schreiben. Und auch die Zwillinge McLaren spielen in ihrem ersten Film beeindruckend und es ist im Making of durchaus spannend zu sehen, wie es Eastwood schafft, eine entspannte Atmosphäre zu schaffen, in der auch Kinderdarsteller offenbar ganz ohne Druck an ihr darstellerisches Limit geführt werden. 
Ganz klar, es macht Spaß Hereafter zu sehen.

Das letzte Bollwerk vor dem Blick ins Nichts
Diese kleine Eloge an den Meister deutet aber bereits die Kritik an, denn jenseits aller handwerklichen Petitessen muss man letztendlich auch etwas zu erzählen haben. Erst recht, wenn es um den Tod und die damit verbundenen religiösen und metaphysischen Implikationen geht, denen Eastwood in seinen Interviews über den Film eher skeptisch gegenübersteht.
Die Gewissheit des Todes ist eine universelle Erkenntnis, der Umgang der Menschen mit dieser schmerzlichen Erkenntnis ist jedoch untrennbar mit dem kulturellen Wissenskonsens verbunden, mit dem wir unsere Wahrnehmung organisieren. Während die traditionelle europäische Metaphysik bis in die Aufklärung hinein die Existenz Gottes als conditio sine qua non voraussetzte und damit die christliche Heilsbotschaft mit der Gewissheit eines Lebens nach dem Tode verband (ein Modell, das keineswegs alle Religionen teilen), führte die zunehmende Säkularisierung eine andere, aber keineswegs weniger schlichte und minder schwer beweisbare Lesart des Themas ein – einen primitiven Materialismus, dessen Vertreter eher den totalen „Check-out“ (Eastwood) vertreten: das Licht geht aus, es folgen Leere und Nichts.
Die moderne Hirnforschung geht sogar einen Schritt weiter. Sie weiß, dass die mystischen Gefühle im rechten Temporallappen sitzen und dass kosmische Glückseligkeiten nach Belieben durch entsprechende Stimulierungen  aufgerufen werden können. Diese Entzauberung der Welt drängt aus der wissenschaftlich-empirischen Weltdeutung immer stärker in das Alltagswissen vor, und damit in unseren Wissenskonsens. Doch wissen tun wir, und es tut gut, sich an Kant und Popper zu erinnern, eigentlich nur wenig.

Das Kino interessiert sich indes nicht für unseren rechten Temporallappen, sondern für unsere Träume. Und den so genannten Wissenskonsens manipuliert es ohnehin nach Kräften. Aus dem philosophischen Restzweifel schält es die Legitimierung für eine Reihe recht unterhaltsamer Spekulationen über das Danach heraus. Wohlwollend betrachtet entlastet es uns sozusagen von den Zumutungen der wissenschaftlichen Moderne – das letzte Bollwerk vor dem Blick ins Nichts. Und die allergrößten Freiheiten nimmt es sich (zum Glück) dort heraus, wo Fantasie, große Gefühle, aber auch das Traumatische, das Triviale und Irrationale gefragt sind – im Genrefilm.
Als romantische Komödie deutete Hollywood das Thema in Here comes Mr. Jordan (Urlaub vom Himmel, Alexander Hall, USA 1941): ein tödlich verunglückter Boxer wird von einem Oberengel zurück auf die Erde geschickt, wobei sich das Leben nach dem Tod als konfliktreiches Verwirrspiel entpuppt. Der äußerst erfolgreiche Film (2 Oscars, 5 Nominierungen) wurde 1978 von Warren Beatty mit Heaven can wait (Der Himmel soll warten, 1 Oscar, 8 Nominierungen) neu aufgelegt.
Ohne Sentimentalitätsverdacht experimentieren in Flatliners (USA 1990, Joel Schumacher) Medizinstudenten mit künstlich hervorgerufenen Nahtod-Erfahrungen und müssen sich danach den plötzlich sehr real gewordenen Gespenstern ihrer Vergangenheit stellen. Immerhin lässt sich Schumachers subtiler Horror als kluge Analogie zu traumatischen Verdrängungen lesen, mit denen man sich letztlich im Diesseits aussöhnen muss.
Ghost (Ghost – Nachricht von Sam, USA 1990, Jerry Zucker) gewann zwei Oscars mit einer effektvollen Sentimentalisierung des Themas: ein hilfreicher Geist kämpft nach seiner irdischen Existenz für Rache und Gerechtigkeit – clever inszeniertes Kino der Emotionen, aber nicht ganz so heiter wie seine komödiantischen Vorgänger. Kurz zuvor hatte Steven Spielberg, der Exekutive Producer von Hereafter ist, mit Always (USA 1989) eine ähnliche Konstellation endgültig aus der Komödie ins Melodram verschoben und dabei kräftig auf die Tränendrüsen gedrückt.
Immerhin, so lernt man, kann man Oscars gewinnen, wenn man im Rahmen der Genrekonventionen dem Thema Tod augenzwinkernd begegnet. Das realistische Drama dürfte es nicht so leicht haben.

The Story ist the King
Hereafter versucht diesen Brückenschlag. Der Film ist realistisch, psychologisch über weite Strecken nuanciert, aber leider auch völlig humorlos. Die Erzählgeste des Film lässt keinen Zweifel an der Realität parapsychologischer Erfahrungen. Das berührt unangenehm, erst recht, wenn in Hereafter ein Verblichener tatsächlich aktiv ins Schicksal der Figuren eingreift. Das kann man als große Albernheit oder als weises Alterswerk betrachten. Für Letzteres hat es dann doch wohl nicht ganz gereicht, denn Peter Morgans Drehbuch ist leider zu unausgegoren, um Eastwoods Wahlspruch „The story ist the king“ gerecht zu werden. Es sind auch andere vermeidbare Nachlässigkeiten, gegen die Eastwoods Ensemble deshalb anspielen muss. Zum Beispiel erfährt man nur wenig über Maries Erfahrungen im Reich der Toten und auch die Visualisierungen des Jenseits bedienen eher Klischees. Andeutungen bleiben im dichten Nebel, auch dann, wenn sich am Ende  George und Marcus begegnen und ein letztes ‚Reading’ leider nur unentschlossene Dialogzeilen abliefert. Und geradezu ärgerlich ist der Kurzauftritt von Marthe Keller als engagierte Wissenschaftlerin, die von unwiderlegbaren Beweisen für ein Leben nach dem Tod spricht und dann doch nur völlig distanzlos an den skurrilen Karriere-Epilog der berühmten Todespionierin Elisabeth Kübler-Ross erinnert. Das berühmte Licht am Ende des Tunnels ist Hereafter in diesen Szenen eher nicht.

Natürlich lässt sich einwenden, dass ein minder einfühlsamer Regisseur dieses recht fade Skript gänzlich gegen die Wand gefahren hätte. Angeblich soll es ja nicht fertig gewesen sein, aber Eastwood reichte dann doch der Rohentwurf. So etwas hört sich am Ende ein wenig nach Rechtfertigung an, die man entweder augenzwinkernd durchgehen lässt oder als ärgerlich empfinden muss. Ich denke eher, dass es ohne Maß ist, wenn man von einem großen Regisseur ständig große Filme erwartet. Clint Eastwood hat in den vergangenen zehn Jahren fast 20 Filme gedreht, von denen man die Hälfte nicht vergessen wird. Da darf es auch mal solide Hausmannskost sein. Komisch ist nur, dass man sich Ende trotzdem irgendwie angenehm berührt fühlt.

Postskriptum: Wer sich über eine klassische Episode aus der Nahtod-Forschung informieren will, dem empfehle ich „Grenzerfahrung auf dem Operationstisch“ von Gerald M. Woerlee, http://www.heise.de/tp/artikel/21/21392/1.html (27.11.2005).

Noten: BigDoc = 3