Sonntag, 1. Dezember 2013

Die Jagd

In einer dänischen Kleinstadt wird der Erzieher Lucas von einem fünfjährigen Mädchen beschuldigt, sich ihr exhibitionistisch gezeigt zu haben. Mit strengem Determinismus zeigt Regisseur Thomas Vinterberg den Niedergang eines Mannes, der Ziel einer dörflichen Hexenjagd wird und fast alles verliert: „Die Jagd“ ist ein konsequent grausamer Film, der trotz (oder gerade wegen) seiner fast aseptischen Erzählweise außergewöhnlich emotionalisiert und nur schwer auszuhalten ist.

Thomas Vinterbergs Regiearbeiten sind von Ups und Downs geprägt: sein erster Langfilm „Zwei Helden“ wurde von der Dänischen Filmakademie ausgezeichnet, berühmt wurde Vinterberg aber mit „Festen“ (Das Fest, 1999). Dieser für die Dogma-Bewegung geradezu paradigmatische Film dürfte aus größerer zeitlicher Distanz möglicherweise anders gesehen werden, weil einige der prägenden Stilmittel der Dogma-Bewegung später als pseudorealistischer Manierismus in ganz normalen Unterhaltungsfilmen auftauchten: wackelige Kamera, abrupte Schnitte und eine hektische Bildsprache sieht man heutzutage auch gelegentlich im TATORT. Und wenn man gehässig ist, dann könnte man auch die US-Serie „The Shield“ als Dogma-Film einorden. Aber das wäre zu viel des Guten.
Ab 2000 hatte Vinterberg mit neueren Projekten weniger Erfolg. Erst mit „Submarino“ (2010) gelang dem Dänen wieder ein größerer Erfolg. Für den zwei Jahre später entstandenen Film „Die Jagd“ erhielt Thomas Vinterberg bei den Internationalen Filmfestspielen von Cannes schließlich den Europäischen Filmpreis für das beste Drehbuch.

Laborversuch in der Tradition des Naturalismus

Der geschiedene Pädagoge Lucas (sehr präsent von Mad Mikkelsen gespielt, der zuletzt in der Serie „Hannibal“ glaubwürdig am Image des kultivierten Bösewichts feilte), gerät völlig unschuldig in die missliche Lage. Der Zuschauer weiß dies von Anfang an, es gibt keine Zweifel. Klara, die Tochter von Lucas’ gutem Freund Theo (Thomas Bo Larsen), hat sich ihn den einfühlsamen Kindergarten-Erzieher verguckt und himmelt ihn an. Als Klara Lucas auf den Mund küsst, weist dieser das Mädchen zurück und versucht ihr zu erklären, dass Kinder und Erwachsene das nicht machen dürfen. Als das beleidigte Mädchen von der Kindergartenleiterin Grethe nach dem Grund ihrer Verstimmtheit gefragt wird, erzählt Klara, dass ihr Lucas seinen erigierten Penis gezeigt hat. Das Motiv hatte das Mädchen zuvor auf einem pornografischen Bild gesehen, das ihr älterer Bruder herumgereicht hatte. Die Katastrophe beginnt, als Grethe mit einem Pädagogen das Mädchen befragt und dieser mit suggestiven Fragen das Kind in die Enge treibt. Der Vorwurf wird erneuert, man glaubt Klara.

Stilistisch erinnert Erzählung kaum noch an den Dogma-Stil. Vinterberg setzt die Geschichte fast diskret ins Bild und rückt damit die Geschichte ins Zentrum. Natürlich erinnert das Motiv des unschuldig Verdächtigten ein wenig an Hitchcock, aber in „Die Jagd“ gibt es keine handlungsorientierte Spannungsdramaturgie, sondern eine, deren Suspense, also das Mehrwissen des Zuschauers, wie die alten Dogma-Filme unübersehbar den naturalistischen Traditionen der skandinavischen und deutschen naturalistischen Literatur verpflichtet ist. Und dieser ist, gut zu sehen in Gerhart Hauptmanns Theaterstück „Die Ratten“, streng genommen ein deterministisches Modell der Welt. Zwar akribisch realitätsnah bis in die sozialen Verästelungen der Sprache, aber auch grausam in der Darstellung unausweichlicher menschlicher Katastrophen. Im Naturalismus entkommt man seinem Schicksal nicht.

Egal, was möglich ist: Es passiert immer das Schlimmste

Auch in „Die Jagd“ geht alles schief, wenn Lucas versucht, seine Unschuld zu beweisen. Vinterbergs Film funktioniert wie eine unbewegt protokollierte Vivisektion – denn wie in einem Laborversuch werden die personalen Beziehungen so arrangiert, dass an allen Knotenpunkten der Geschichte jeweils die denkbar schlechteste Entwicklung stattfindet.
So wendet sich Grethe nicht an einen professionellen Psychologen und später informiert sie nicht nur die Eltern von Klara, sondern gleich auch die anderen Familien der Kinder. Allerdings nicht ohne darauf zu verzichten, einen Leitfaden von typischen Missbrauchssymptomen zu verteilen. Das Unvermeidliche tritt: einige Kinder sind unruhig, haben Kopfschmerzen, schlafen schlecht oder haben schlechte Träume. Aus Lucas wird innerhalb kürzester Zeit ein Serientäter.

Selbst als Klara (klasse gespielt von der kleinen Annika Wedderkopp) ihrer Mutter gesteht, dass sie sich alles ausgedacht hat, ist es zu spät. Die Mutter blendet alles aus. Lucas hat nicht nur das Vertrauen seines Freunds Theo eingebüßt, sondern wird ohne Prozess dem vernichtenden Urteil der sozialen Gemeinschaft überlassen.
Nur Lucas’ Sohn Marcus und einige wenige Freunde halten zu dem Verdächtigten. An dessen Schicksal ändert sich auch nichts, als das Strafverfahren eingestellt wird, weil sich Klara an nichts mehr erinnern kann und die Beschuldigungen der anderen Kinder als pure Phantasie widerlegt werden können. Lucas bleibt das Opfer, denn „etwas ist ja immer dran an solchen Geschichten.“ Sein Hund wird getötet, im Supermarkt wird er zusammengeschlagen.

Um so erstaunlicher wirkt dann das traumwandlerische Ende des Films. Als Klara ihrem Vater gesteht, sie habe etwas Dummes gemacht, wird aus dem existenzialistischen Drama ein versöhnlicher Heimatfilm. Mit einem harten Schnitt transportiert Vinterberg seine Hauptfigur in die Gemeinschaft zurück. Alles scheint aufgeklärt, alles ist wieder in Ordnung. Lucas, der zuvor noch während der Weihnachtsmesse seinen Freund Theo verprügelt hat, sitzt lächeln inmitten seiner Freunde in einer Kneipe.

Ein behavioristisches Lehrstück

„Die Jagd“ ist kein Film über Kindesmissbrauch und Pädophilie. Inhaltsschwere Diskurse vermeidet Vinterberg. Natürlich kann man den Film als Manifest gegen Bigotterie und grausame Vorverurteilungen betrachten, aber auch dies greift zu kurz. Vinterberg schafft es stattdessen, die völlige Ausweglosigkeit eines unschuldig verfolgten Menschen als unausweichliches Schicksal zu protokollieren, das an die Nieren geht. Gerade die fast dokumentarische Nüchternheit des Films führt zu emotionalen Reaktionen, die den Zuschauer überrollen.
Hätte Vinterberg die Schuldfrage offen gelassen, wäre ein anderer Film entstanden. Der Hitchcocksche Suspense-Effekt indes hat bei Vinterberg wohl eher das Ziel, das existenzialistische Drama als Folge seiner Ausgangsbedingungen vorzuführen. Die grausame Einsicht des Experiments lautet: Die gleichen Ausgangsbedingungen werden auch in Zukunft zu den gleichen Ergebnissen führen. So gesehen ist „Die Jagd“ fast schon ein behavioristisches Lehrstück. Der zivilisatorische Boden, auf dem wir uns bewegen, besteht offenbar nur aus dünnem Eis.
Als Lucas in der letzten Szene mit den anderen Dörflern auf die Jagd geht und sich von der Gruppe entfernt, fällt ein Schuss, der ihn knapp verfehlt. Der Schütze entfernt sich unerkannt. Im Bonusmaterial gibt es ein alternatives Ende: dort wird Lucas erschossen.

Noten: Der Film wurde mehrfach unterbrochen, erregt diskutiert und mit spürbarer Betroffenheit fortgesetzt. Am Ende gab es von allen eine Zwei.

Jagten (2012), R.: Thomas Vinterberg, Drehbuch: Thomas Vinterberg, Tobias Lindholm; D.: Mads Mikkelsen, Thomas Bo Larsen, Annika Wedderkopp.