Dienstag, 11. Juni 2019

Chernobyl - der Horror der Fakten

Was hat HBO nach „Game of Thrones“ noch im Köcher? Eine ganze Menge. Mit der Miniserie über den Super-GAU, der sich 1986 im Kernkraftwerk Tschernobyl nahe der ukrainischen Stadt Prypjat ereignete, katapultierte sich HBO innerhalb weniger Tage in der IMDB auf Platz 1 der „Top Rated TV Shows“.

Mit Showrunner Graig Mazin, der bis lang nicht gerade mit anspruchsvoller Kost glänzen konnte, und dem schwedischen Musiker und Regisseur Johan Renck, der nur vereinzelt in den Regielisten von „Breaking Bad“, „The Walking Dead“ und „Vikings“ aufgetaucht ist, haben zwei wenig prominente Filmemacher nun ein gewaltiges TV-Gewitter inszeniert, das zu den dichtesten und unangenehmsten im aktuellen Serien-Kosmos gehört. „Chernobyl“ geht nicht nur unter die Haut, sondern schlägt auch auf den Magen



Hirnlose Verdrängungswut

Wer sich alle fünf Episoden anschaut, wird daher schon nach der allerersten die Erfahrung machen, dass sich die Akteure des Geschehens in den Tagen nach dem Super-GAU an der Schwelle zum Wahnsinn befanden. Das überforderte Team in der Reaktorzentrale, die Physiker, die alles bewerten mussten, ohne der Parteilinie zu widersprechen, die Vertreter des sowjetischen Politapparates, die fieberhaft nach Schuldigen suchten, um nicht selbst in den Fokus gerückt zu werden und natürlich besonders die quasi zum Tode verurteilten Einsatz- und Räumungskräfte, die sich in das Heer der zahllosen Oper einreihten. 
Es ist keine psychischer oder ein epochaler technologischen Wahnsinn, beides auch, sondern vielmehr ein Wahnsinn, der sich systemisch in einer geballten Inkompetenz und einer geradezu hirnlosen Verdrängungswut entlud. Man hatte die Büchse der Pandora geöffnet, ohne es zu ahnen, und als die Verdammnis hereinbrach, taten die Verantwortlichen so, als gelte es nun einen kleinen Brand mithilfe der lokalen Feuerwehr zu löschen.

„1:23:45“ heißt die erste Episode und gemeint ist damit die Uhrzeit, als der Schichtleiter Alexandr Akimov (Sam Troughton) während eines aus dem Ruder gelaufenen Tests die Notabschaltung des Reaktors auslöste. Die funktionierte nicht, im Gegenteil. Als Folge eines eskalierenden Prozesses wurde in Sekundenbruchteilen die Auslastungsgrenze der Anlage sogar um das Hundertfache des Nennwerts erhöht. Simpler beschrieben: der Reaktor flog dem Personal um die Ohren, der strahlende Kern lag komplett frei, die Kernschmelze war nur eine Frage der Zeit und in der Atmosphäre bildete sich eine radioaktive Wolke, die Tausende Kilometer weitgetragen wurde. 

Und auf den Dächern ihrer Häuser oder auf Brücken standen die Menschen von Prypjat und schauen sich ein farbenfrohes Spektakel an, während sanft der Fallout wie Schneeflocken auf sie herniederrieselt. Sie ahnen nicht das Geringste. Keiner von ihnen hat überlebt.

Gleichzeitig handeln die Verantwortlichen in der Leitzentrale nach dem Motto: Es kann nicht sein, was nicht sein darf. Ein explodierender Reaktor? Unmöglich, hat es noch nie gegeben. Fehleranalyse und möglicherweise Selbstkritik? Unmöglich, das wäre in einem parteigelenkten kommunistischen System, das sich gegenüber dem Westen keine Blöße geben will, nicht nur beruflicher, sondern auch existentieller Selbstmord. Und so wird verdrängt, was unerhört ist und nicht sein kann, weil es nicht sein darf.

Das sind nicht die einzigen Bilder, die fassungslos machen. Kein Wunder, denn der Zuschauer weiß schließlich mehr. Und genau dieser Wissensvorsprung sorgt für ein klammes Gefühl, und das verdichtet sich im weiteren Verlauf der Serie zu einer Übelkeit, der man sich schlecht entziehen kann. Denn die nuklearen Schneeflocken kann man wenigstens sehen, die Strahlung nur dann, wenn man direkt in den freigelegten Reaktorkern blickt. Dies ist aber das Todesurteil. Und so wird der einzige aus dem Team, der wahrheitsgetreu zu sagen wagt, was da gerade geschieht, aufs Dach geschickt, um sich „ein Bild zu machen.“

 

Ein exzellenter Cast

Die eigentlichen Hauptfiguren treten erst später in der Serie auf. Sie beruhen auf fast alle auf tatsächlichen Vorbildern. Eine davon sieht man im Prolog der ersten Folge, es ist der von Jared Harris bedrückend gut gespielte Chemiker Waleri Legassow, der spätere Leiter der Untersuchungskommission. Sein politisches Testament spricht er zwei Jahre später auf Tonband-Cassetten, dann erhängt er sich. Jared Harris („The Crown, „The Expanse“) ist in seiner Mischung aus energischer Tatkraft und Wahrheitsliebe, Verzweiflung und tiefer Resignation unwiderstehlich. 

Das ist er auch bei den verzweifelten Versuchen, den von David Dencik gespielten Michail Gorbatschow von den Fakten zu überzeugen. Dencik spielt Gorbatschow, der 1988 noch Generalsekretär des ZK der KPdSU war, als nüchternen, aber messerscharf kalkulierenden Technokraten. Gorbatschow ist die letzte Instanz in der Hierarchie der Macht, und er weiß das auch. Er weiß auch, dass er der Einzige ist, der sich das Verdrängen der Fakten nicht erlauben kann. Und erhält Legassow von ihm den Auftrag, alle erforderlichen Maßnahmen einzuleiten.
Der Wachhund an seiner Seite wird von Stellan Skarsgård gespielt. Es ist der Apparatschik Boris Schtscherbina, der nur für kurze Zeit glaubt, dass man den GAU verheimlichen und totschweigen kann. Schtscherbina und Legassow begeben sich nach Prypjat. Schtscherbina, der die zuständige Regierungskommission leitet, lernt schnell. Aus dem arroganten Apparatschik wird ein Pragmatiker, der für Legassow viele Hindernisse aus dem Weg räumt. Stellan Skarsgård spielt dies sehr unterkühlt, es entsteht die Charakterstudie eines ambivalenten Mannes, der zu spät die Erfahrung macht, dass er seiner Ignoranz zum Opfer gefallen ist. Später entsteht sogar eine Art von Männerfreundschaft, spätestens als Schtscherbina erfährt, dass er mit hoher Wahrscheinlichkeit in einigen Jahren an Krebs sterben wird. Tatsächlich starb der echte Boris Schtscherbina vier Jahre später.

Was die beiden Männer aber wirklich verbindet, ist das Wissen darum, dass sie Abertausende in den Tod schicken müssen, um eine Katastrophe von globalem Ausmaß zu verhindern. Auch hier bietet die Serie drastische Bilder, etwa wenn Freiwillige das Wasser aus einem Auffangbecken ablassen müssen, um eine Dampfexplosion zu verhindern. Sie müssen in einen Bereich vorstoßen, in dem die Strahlendosis bereits nach einer Minute tödlich ist. Bizarr wirken auch die nackten Bergleute, die teilweise mit bloßen Händen einen Tunnel unter dem Reaktor graben mussten, um eine Kühlung des Reaktors zu er ermöglichen.

Dritte im Bunde ist die Wissenschaftlerin Ulana Khomyuk (Emily Watson), die auf eigene Faust nach Prypjat reist, um mehr über die Hintergründe zu erfahren. Diese Figur wurde von den Autoren erfunden, um die zahllosen Wissenschaftler zu repräsentieren, die sich nach Legassows Suizid und der Auswertung seiner Aufzeichnungen gegen die Vernebelungstaktik der Partei wehrten und dafür verfolgt oder interniert wurden, bis endlich die baugleichen Reaktoren technisch überarbeitet wurden.

Ulana Khomyuk wird später auch in dem Moskauer Krankenhaus von den sterbenden Mitgliedern der Leitzentrale einiges erfahren, das ein neues Licht auf die Vorgänge wirft. Eigentlich als Nebenrolle gedacht, gelingt es der Darstellerin (1996 Europäischer Filmpreis für ihre Rolle in „Breaking the Waves“) ihrer investigativen Rolle wichtige Facetten zu geben, die wie ein Katalysator der allgemeinen Verunsicherung wirken.


Wie zeigt man den unsichtbaren Tod?

Wer Zahlen, Daten und Fakten dieser Katastrophe nachlesen will, kann sich in der Wikipedia informieren oder den verblüffenden Reisebericht des Kernphysikers Walter Ruegg lesen, der keineswegs dadurch diskreditiert wird, dass er für die Website Nukleria e.V. geschrieben hat. Dort wird für „moderne und sichere Kernenergie“ geworben. 
Möglicherweise gibt es tatsächlich sichere Kernkraftwerke und möglicherweise wird sich Tschernobyl nicht wiederholen. Der zweite Teil der Hypothese hat sich aber bereits erledigt. Dank Fukushima.
Man kann – wer will - daraus lernen, dass Sicherheit immer ein Sicherheitsversprechen ist und dass es keinen tolerablen Grenzwert für Nuklearkatastrophen gibt. Eine ist bereits eine zu viel. Die Atomruine in der heutigen Ukraine wird je nach Spaltprodukt und Halbwertzeit mindestens noch einige Jahrhunderte unter einer Sicherheitshülle, dem Sarkophag, vor sich hinglühen. Plutonium ist damit einige Tausend Jahre beschäftigt, Uran nimmt sich einige Milliarden Jahre Zeit für seinen Zerfall. 
Soweit zur Zukunft.
Blickt man zurück, so hätte das allerschlimmste Szenario in Tschernobyl dazu geführt, dass große Teile der Ukraine für Jahrhunderte unbewohnbar geblieben wären. Soweit kam es nicht, aber viele ließen dafür ihr Leben, und es ist peinlich genug, dass man sich über die genauen Zahlen auch heute noch streitet, als würde dies eine Rolle spielen. Tausende sind einen anonymen Tod gestorben.

Obwohl „Chernobyl“ mit einer geradezu unbarmherzigen Genauigkeit den Ablauf und die Folgen des Reaktorunfalls bebildert, geht es in der HBO-Serie nicht nur um Zahlen, Daten und Fakten. Eher schon um die Schuldfrage, die sich beinahe automatisch nach so einem folgenschweren Unglück stellt. Was Graig Mazin und Johan Renck aber tatsächlich erzählen, ist eine weitere Geschichte: Wie zeigt man den unsichtbaren Tod?
Strahlung kann man nicht sehen, aber anfassen.
In der ersten Episode nimmt ein Feuerwehrmann ein Stück Grafit in die Hand. Die kurze Berührung führt zu einer folgenschweren nuklearen Verbrennung. Sein Kollege Vasily wird später in einem Moskauer Krankenhaus vor sich hinsiechen. Die Körper der Verstrahlten lösen sich auf, sie schmelzen förmlich und selbst Opiate helfen nicht mehr gegen die Schmerzen. Ganz am Ende wird der Tod in „Chernobyl“ dann doch sichtbar.


Morituri te salutant

„Die Todgeweihten grüßen dich!“ Angeblich sollen die römischen Gladiatoren beim Betreten der Arena den Kaiser mit diesem Spruch begrüßt haben. In der HBO-Serie gilt dies für die meisten Figuren, denen man nicht nur bei ihren lebensgefährlichen Einsätzen, sondern auch beim qualvollen Sterben zusieht. Nicht alle bezahlten mit dem Tod, aber sehr viele erkrankten schwer. Dies galt auch für die Liquidatoren, die zu Hunderttausenden zur Reaktorleiche gekarrt wurden, um Aufräumarbeiten vorzunehmen. Die Strahlenbelastung war so extrem, dass sie nur wenige Sekunden lang arbeiten konnten. Von den 800.000 Männern, die eingesetzt wurden, sollen 50.000 gestorben sein. Auch über diese die Zahlen streitet man noch heute.

Aber „Chernobyl“ überzeugt nicht durch Fakten und Zahlen, sondern weil es den Serienmachern gelungen, dem Zuschauer Ausmaß und Bedeutung dieses System- und Technologieversagens ein Gesicht zu geben. Gute Geschichten sind immer Geschichten über authentische Figuren. Und eine Tragödie ist immer von der Glaubwürdigkeit einer Geschichte abhängig, die diesen Figuren einen emotionalen Unterbau gibt. Was der Serie dann auch mehr als beklemmend gelingt.
Als Zuschauer, und das macht aus „Chernobyl“ ein kleines Meisterwerk der Serienkunst, spürt man das Grauen körperlich. Und emotional. Dazu gehören Szenen, die das Abstrakte greifbar machen, etwa wenn eine alte Frau in Episode 4 („The Happiness of All Mindkind“) einem Soldaten, der sie evakuieren will, beim Melken etwas über die Geschichte der Sowjetunion erzählt, in der das Grauen des Stalinismus und der Einmarsch der deutschen Wehrmacht fast ununterscheidbar eine Lebensgeschichte der Verzweiflung geprägt hat. Der Soldat hört schweigend zu und erschießt danach die Kuh. Einige Kilometer weiter ziehen andere Soldaten und auch unvorbereitete Zivilisten durch die Dörfer, um alle Tiere zu töten. Man sieht dies minutenlang und man sieht, wie schwer das ist.

Über allem liegt der minimalistische Soundteppich der isländischen Komponistin Hildur Guonadóttir wie ein emotionales Leichentuch, das sich langsam und klagend, aber auch verfremdend in die Bilder hineinfrisst und sich anhört, als würde die Geschichte auf einem fremden, tödlichen Planeten spielen, auf den man besser keinen Fuß setzt. Guonadóttir hat diese Musik in einem alten Atomkraftwerk in Litauen eingespielt und dürfte nicht unerheblich für den Erfolg der Serie sein.

In der letzten Episode der Serie wird dann abgerechnet. Legassow, der inzwischen vor der Internationalen Atomenergie-Kommission (IAEO) ausgesagt hat und dort, wie er lapidar feststellt, gelogen hat, räumt im Prozess gegen drei Mitglieder des Reaktorteams mit der Fabel vom menschlichen Fehler auf. Denn offenbar hat er bereits früher Probleme mit dem Reaktortyp RBMK-1000 gegeben, die baulichen Schwächen seien den Verantwortlichen bekannt, man habe aber billig bauen müssen und wollen. Damit ist ein Schicksal besiegelt und nur sein Bekanntheitsgrad rettet ihm das Leben.

Michail Gorbatschow soll später gesagt haben, dass Tschernobyl der eigentliche Auslöser für den Zusammenbruch der UdSSR gewesen ist. Inwieweit Tschernobyl und Glasnost zusammenhängen, mögen die Historiker beantworten. Die politischen Dimensionen des Super-GAUs sind als Kritik an einem repressiven System in der der Serie deutlich zu erkennen. Diktaturen können folgerichtig nie flexibel genug sein kann, weil sie den freien Diskurs unterdrücken und andere Prioritäten definieren. Nur sollte man nicht vergessen, und das ist das einzige Manko einer ausgezeichneten Serie, dass es auf der Sitzung der IAEO nur bedingt um eine rückhaltlose Aufklärung ging, sondern womöglich um andere Interessen. Bis heute wird der IAEO vorgeworfen, Lobbyarbeit für die Atomindustrie zu betreiben. Zu vermuten ist daher, dass es auch im Westen genug Interessen gab, um eine Anti-Atomkraft-Stimmung erst gar nicht aufkommen zu lassen.

Trotz dieser Kritik ist Graig Mazin und Johan Renck eine bahnbrechende Serie gelungen, deren Zahlen und Fakten exakt recherchiert wurden, die ihre Wirkung aber über das emotionale Nacherleben einer Katastrophe entfaltet, die sich jederzeit wiederholen kann. „Chernobyl“ ist so gesehen zugleich Horrorfilm und post-apokalyptische Dystopie. 


Schön wäre es gewesen, wenn die Macher im Abspann Bilder der Menschen gezeigt hätten, die heute zu Tausenden Tschernobyl besuchen.
Die meisten Besucher finden diese Reise einfach nur geil.


Note: BigDoc = 1


Chernobyl – HBO 2019, Miniserie (5 Episoden) – Creator: Graig Mazin – Regie: Johan Renck – D.: Jared Harris, Stellan Skarsgard, Emily Watson u.a.