Sonntag, 23. Juni 2019

Mackie Messer – Brechts Dreigroschenfilm

Wer sich für deutsche Literatur- und Theatergeschichte interessiert und auch für einen der genialsten Dichter und Denker des 20. Jh., der kommt um Joachim A. Langs Film nicht herum. Schwere Kost? Ja! Aber leicht serviert. Der Film macht Spaß, auch Zuschauern, die zuletzt in der Schule mit Bertolt Brecht zu tun hatten. Lang ist ein ausgezeichneter Brecht-Kenner und so zeigt er in „Mackie Messer – Brechts Dreigroschenfilm“, wie das eine mit dem anderen zusammenhängt: Denken macht Spaß, ist aber kein Zuckerschlecken.

„Mackie Messer“ ist ein opulentes Stück Kino mit ausgezeichneten Darstellern, aber auch eine Lektion darüber, was Brecht vorschwebte, als er Ende der 1930er Jahre die „Dreigroschenoper“, seinen großen Theaterhit, auch auf die Kinoleinwände der Weimarer Republik bringen wollte. Die Filmproduzenten wollten Unterhaltung, Brecht dagegen mehr Politik. Man zog vor Gericht und Brecht machte aus dem Prozess ein Lehrstück. Der deutsche Regisseur Joachim A. Lang zeigt nun, wie der „Dreigroschenfilm“ hätte aussehen können.



Und der Haifisch, der hat Zähne. Und die trägt er im Gesicht.
Und Macheath, der hat ein Messer. Doch das Messer sieht man nicht.

Wer kennt diese Moritat nicht? Die meisten werden sie schon einmal gehört haben, auch wenn sie nicht wissen, dass sie aus einem der spektakulärsten Theaterstücke der Weimarer Republik stammt: Bert Brechts „Dreigroschenoper“. Die war 1928 ein unerwarteter Erfolg. Im Vorfeld hatte es zu viel Zoff gegeben: Urheberrechtsprobleme, Probleme mit dem Regisseur und den Darstellern – die Premiere stand auf dem Spiel. Das „Stück mit Musik in einem Vorspiel und acht Bildern“ wurde dann 1928 im Theater am Schiffbauerdamm in Berlin uraufgeführt und das Publikum tobte. Zunächst wurde keine Hand gerührt, dann brachen beim „Kanonensong“ alle Dämme. Es wurde frenetisch geklatscht und Zugaben wurden gefordert.

Was gab es zu sehen? Brecht hatte nicht nur seine Vision eines neuen Musiktheaters in eine saftige Geschichte gepackt. Der junge Dramatiker hatte auch geschickt John Gays 1728 entstandene „Beggar’s Opera“ adaptiert, die für ihn von Elisabeth Hauptmann (Peri Baumeister) übersetzt worden war. Kurt Weills geniale Musik machte dann aus den Gesangsstücken der „Bettleroper“ grandiose Welthits. Damals nannte man das noch „Gassenhauer“. 

Den erbitterten Kampf zwischen Jonathan Peachum, dem Anführer der Londoner Bettlermafia, und Macheath aka Mackie Messer, einem gefürchteten Gangster, erzählte Brecht in der „Dreigroschenoper“ als Parabel. Zwei Kriminelle, die sich als „Geschäftsleute“ bezeichnen, haben einen heimlichen Traum von Bürgerlichkeit. Aufstiegsträume hatten bereits die Ganoven in den amerikanischen Gangsterfilmen der 1930er Jahre, aber der Marxist Brecht nutzte diesen Topos, um auf plakative und damit eingängige Weise zu zeigen, dass die bürgerliche Klasse im Kapitalismus keinen Deut besser ist als Macheath und Peachum und dabei eine Kriminalität an den Tag legt, die den Taten der Ganoven aus der Gosse um Längen überlegen war. Dies begreift am Ende auch Macheath:

Wir kleinen bürgerlichen Handwerker, die wir mit dem biederen Brecheisen an den Nickelkassen der kleinen Ladenbesitzer arbeiten, werden von den Großunternehmern verschlungen, hinter denen die Banken stehen. Was ist ein Dietrich gegen eine Aktie? Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank? Was ist die Ermordung eines Mannes gegen die Anstellung eines Mannes? 


Die Dreigroschenoper - zum ersten Mal à la Brecht verfilmt

Zweimal wurde die „Dreigroschenoper“ verfilmt. Einmal von G.W. Pabst, nach dem Krieg noch einmal von Wolfgang Staudte. Pabsts Film war großes Ausstattungskino, gemessen an den damaligen Möglichkeiten. Allerdings kämpfte man noch mit dem Ton, streckenweise wirkt der Film auch wie ein Stummfilm, der unbedingt die großartigen Songs präsentieren wollte. 
2018 versuchte sich der ausgewiesene Brecht-Experte Joachim A. Lang nun erneut an dem Stoff, aber auf eine Weise, die Brecht wohl gefallen hätte. Denn in Langs Film gibt es keine platte Wiedergabe des Theaterstücks für die Leinwand, sondern Brechts Kampf um (s)eine Verfilmung – noch deutlicher und zugeschnitten auf ein breites Kinopublikum, das nur selten den Weg ins Theater findet. Und so versucht Brecht (Lars Eidinger) in Langs Film die Produzenten von seinen Ideen zu überzeugen. Die spielen aber nicht mit, der Streit wird vor Gericht entschieden.

Ein „soziologisches Experiment“ nannte Bert Brecht den Prozess gegen die Nero-Film AG, die sich zuvor Brechts künstlerisches Einflussnahme auf die Verfilmung der „Dreigroschenoper“ entziehen wollte. Die Produzenten verteidigten sich mit dem Hinweis darauf, dass Brecht versucht habe, dem Film eine radikale politische Tendenz zu geben. Als „politisch neutrale Firma“ könne man das nicht hinnehmen. Brecht und sein Mitkläger Kurt Weill unterlagen vor Gericht. 
G.W. Pabst konnte 1931 die Dreharbeiten abschließen, der Film wurde ein Erfolg und zwei Jahre später von den Nationalsozialisten verboten. Das soziologische Experiment im Gerichtsaal war aus Brechts Sicht bereits gelungen. Trotz Niederlage. Brecht hatte demonstriert, wie die Ehe zwischen Kunst und Kapital funktioniert. Eine Geschichte, die auch Joachim A. Lang in seinem Film rekonstruiert.



Die Widersprüche sind die Hoffnung (Brecht)

Berlin 1928: Bertolt Brecht und sein Komponist Kurt Weill (Robert Stadlober) haben mit allerletzter Kraft ein Scheitern der Premiere verhindert. Die „Dreigroschenoper“ wird bereits während der Premiere gefeiert und tritt ihren Siegeszug an. Nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen Ländern werden die Songs von Brecht und Weill in Nachtklubs und Varietés gesungen. Der zunächst kino-skeptische Brecht lässt sich auf einen Vertrag mit der Nero-Film AG ein, aber Produzent Seymour Nebenzahl (Godehard Giese) hat andere Vorstellungen von Filmen als Brecht. Er will großartige Schauspielkunst, viel Herzschmerz und am liebsten keine Politik. Es folgen lange Debatten um Brechts Vision einer Verfilmung.

Regisseur und Drehbuchautor Joachim A. Lang verzichtet bei der Rekonstruktion dieser Ereignisse auf anstrengende Dialoge, sondern setzt Brechts Vision visuell um: er zeigt den „Dreigroschenfilm“ so, wie ihn Brecht womöglich auch gedreht hätte. Eine filmische Phantasie über einen Film, den es so nie gegeben hat.

Für „Mackie Messer – Brechts Dreigroschenfilm“ hat Lang ein exzellentes Ensemble zusammengestellt, das natürlich Doppelrollen spielt. Tobias Moretti ist nicht nur der narzisstische Schauspieler, der als Macheath aufgrund seiner Eitelkeit fast die Premiere verhindert, sondern er gibt auch im Film den selbstverliebten und sarkastischen Gangster Macheath. Joachim Krol spielt eindrucksvoll seinen Widersacher Peachum als misanthropischen und scharfsinnig denkenden Analytiker der Armut. Hannah Herzsprung ist Polly, seine etwas naive Tochter, die ohne Zustimmung des Vaters den Gangster Macheath heiratet und damit eine tödliche Intrige auslöst. Claudia Michelsen interpretiert Peachums Frau als abgebrühte Person, während Christian Redl den korrupten Londoner Polizeichef Tiger Brown eher als Opfer denn als Täter anlegt. Denn Tiger Brown ist den raffinierten Winkelzügen und Erpressungen Peachums auf Dauer nicht gewachsen und wird seinen Freund Macheath unter den Galgen stellen.

So sieht man in Langs Film einen Film im Film: Während sich Brecht und Nebenzahl streiten, entstehen wie durch Geisterhand die Settings, so wie es sich Brecht vorstellt. In prächtigen Bildern erklärt Brecht dem Produzenten seinen „Dreigroschenfilm“, aber er kommt mit Nebenzahl auf keinen grünen Zweig. 
Beide Erzählebenen hat Lang subtil im Bildschnitt zusammengefügt: mal stehen Brecht und Nebenzahl vor der Filmkulisse, dann springt man nach einem Schnitt direkt in den Film – meist auch an einer anderen Kolorierung zu erkennen.


V-Effekte und Verdoppelung der Fiktion: Langs Film ist auch ein Programm

Damit setzt Lang filmästhetisch eine der wichtigsten Ideen des Epischen Theaters um, eine Theorie über das Theater, die Brecht im Wesentlichen erst nach der Dreigroschenoper entwickelte. Der Illusionscharakter einer geschlossenen Diegese wird gesprengt, die sogenannte Vierte Wand, die den geschlossenen Raum der Vorführung als eigene Realität etabliert, wird beiseitegeschoben – die Fiktion erweist sich als handmade, als Konstruktion eines Autors. 
Diese Direktadressierung des Publikums wird durch Schrifteinblendungen unterstützt und auch die Schauspieler sprechen direkt das Publikum an.

Wer „House of Cards“ kennt, wird kein Problem damit haben, wenn eine Figur den Zuschauer direkt anschaut und dabei ihre heimlichen Motive offenlegt. Für Brecht ging es um weit mehr, denn das Epische Theater war kein formalistisches Konzept (was ihm ausgerechnet einige Parteigänger der SED später vorwarfen), sondern der Versuch, dem Publikum das Denken beizubringen, und zwar auf ein Weise, die Vergnügen bereitete. 
Die mussten aber erst einmal lernen, dass es im Theater nicht im Sinne der Poetik des großen Aristoteles zugehen sollte. Also nicht Furcht und Mitleid erleben (Schaudern und Jammern nannte es der griechische Philosoph im Original), auch keine Reinigung der Leidenschaften durch eine Katharsis. Der Zuschauer sollte Im Theater nicht erschüttert nach Hause wanken, sondern sich genüsslich zurücklehnen und seine Erkenntnis genießen. Anti-aristotelisch nannte Brecht sein Theater daher und brachte es ziemlich grob auf den Punkt:


„Glotzt nicht so romantisch!“

 

Auch die Brecht‘schen V-Effekte (Verfremdungseffekte) waren Teil dieser Programmatik. Sie richtete sich störrisch gegen die aristotelische Poetik– und die stellte nun mal die Identifikation mit den Figuren und die Einfühlung in sie in den Mittelpunkt. Damit hatte Brecht nichts am Hut. Mit Einfühlung auch nicht. Theater war etwas Künstliches, das seine Künstlichkeit selbstbewusst ausstellte: Fiebert nicht mit, ihr Zuschauer, die Figuren sollen euch nur zeigen, wie es um die Dinge bestellt ist.

Wie bringt man Brechts Theatertheorie und sein längst vergessenes Filmprojekt aber auf die Kinoleinwand? Nun, man zeigt es einfach. Joachim A. Langs „Mackie Messer – Brechts Dreigroschenfilm“ ist daher nicht nur ein soziologisches, sondern zuallererst ein ästhetisches Experiment. 
Zum Glück hat Lang nur gelegentlich eine germanistische Puzzlearbeit vorgelegt, sondern einen witzigen Film, der Brechts bahnbrechendes Theaterstück und dessen fiktive Verfilmung clever mit den Bedingungen des Filmemachens verknüpft und gleichzeitig Auskunft darüber gibt, was den Brechts „Episches Theater“ überhaupt bedeutet. Das ist nicht wenig. Lang wurde prompt vorgeworfen, sein Film sei zu intellektuell. Das stimmt.

Dazu gehörte dann auch die Kritik an der Brecht-Figur, denn Lang legte dem Darsteller Lars Eidinger nur Sätze in den Mund, die Brecht tatsächlich gesagt und geschrieben hat. Auf einige Kritiker wirkte dies hölzern, auf mich enorm authentisch. Und dass Eidinger verzweifelt gegen diese vermeintliche Eindimensionalität anspielen musste, ist beileibe nicht zu erkennen. 


Heinrich Breloers „Brecht“ verweigert sich der Figur

Joachim A. Langs Film weist aber auch über sich hinaus. Dabei gerät Heinrich Breloers Film „Brecht“ in den Fokus, der erst kürzlich bei ARTE und ARD zu sehen war. Breloers ambitioniertes Doku-Drama sezierte in zwei Teilen den jungen Brecht (Tom Schilling) und dann im zweiten Teil den alten Brecht (Burghart Klaußner) bei dem misstrauisch durch die SED beäugten Aufbau eines sozialistischen Theaters am Schiffbauerdamm. Denn das, was das „Berliner Ensemble“ auf die Bühne brachte, hatte nur bedingt etwas mit dem „Sozialistischen Realismus“ zu tun, den die Partei forderte. Und wer die Jahrzehnte zuvor ausgetragene „Realismus-Debatte“ kennt, an der auch Brecht beteiligt war, dem war klar, dass Bert Brecht so etwas wie ‚Pilcher für Kommunisten‘ unerträglich finden würde.

Breloer hat einiges davon auf den Punkt gebracht, aber der 77-jährige Adolf-Grimme-Preisträger hat sich dann doch an dem Thema verhoben. In seinem Zweiteiler fällt der Begriff „Episches Theater“ nur einmal (ich hoffe, dass ich mich nicht verzählt habe), ansonsten sieht man ca. 180 Minuten lang, wen Brecht so alles unter seine Bettdecke geholt und wie Helene Weigel darunter gelitten hat. SPIEGEL ONLINE brachte es zutreffend auf den Punkt: „Brecht und #MeToo: Heinrich Breloers Zweiteiler sollte das große Porträt eines großen Intellektuellen werden - herausgekommen ist ein wackliges TV-Stück über einen eitlen Geck und ewiggeilen Dichterfürsten.“

Breloers Film war ein Statement: „Ich will Brecht vom Podest holen!“ Dazu wäre aber mehr nötig gewesen als ein sex-fixiertes Biopic. Vielleicht hat Heinrich Breloer, dem wir einige brillante Filme verdanken, auch nur gedacht: Brecht heute den TV-Normalos zu erklären, kann nicht klappen - zu intellektuell. Daran gemessen konnte Joachim A. Langs Film nur als Sieger aus dem Wettstreit hervorgehen. Und das ist dann auch der Fall.


Und was hat man nun davon?

 

Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral (Brecht)

„Mackie Messer – Brechts Dreigroschenfilm“ ist zunächst ein wunderbares Stück Kino. Die 135 Minuten machen einfach Spaß. Lang fängt nicht nur das flirrende Berlin der dem Ende entgegenfeiernden Republik in starken Bildern ein, auch die Settings, etwa Peachums Bettlerfabrik, sind fantastisch und gelegentlich makaber. Das schmuddelige London, irgendwann im Viktorianischen Zeitalter verortet, ist eine Augenweide. Das macht Spaß, aber wo bleibt das Denken?
Das schiebt der Brecht-Kenner Joachim A. Lang dem Zuschauer häppchenweise unter. Leider nicht immer so, dass man damit etwas anfangen könnte. Joachim A. Lang haut gerne mal Zitate raus, die möglicherweise nicht mal angehende Literaturwissenschaftler zuordnen können, etwa: „Die Lage wird dadurch so kompliziert, dass weniger denn je eine einfache ‚Wiedergabe der Realität‘ etwas über die Realität aussagt. Eine Photographie der Krupp-Werke oder der AEG ergibt beinahe nichts über diese Institute. Die eigentliche Realität ist in die Funktionale gerutscht. Die Verdinglichung der menschlichen Beziehungen, also etwa die Fabrik, gibt die letzteren nicht mehr heraus. Es ist also tatsächlich ‚etwas aufzubauen‘, etwas ‚Künstliches‘, etwas ‚Gestelltes‘."
Verdinglichung als marxistischer Kampfbegriff meint: der Mensch wird zur Ware, die Ware wird quasi mythologisch überhöht und saugt die Eigenschaften auf, die zuvor der Mensch besaß. In Zeiten von Amazon, Samsung und Mercedes kann man das rekonstruieren, wenn man weiß, wie Branding funktioniert. Und wenn man darüber nachdenkt, ob unsere Konsumgüter nicht am Ende des Tages mehr Identität besitzen als diejenigen, die sie produziert haben.
Möglicherweise sind solche Passagen einigen Kritikern auf die Nerven gegangen, andere – man muss es leider feststellen – haben den Film ganz einfach nicht verstanden, weil sie keine Ahnung von Brecht haben. Ganz unrecht haben sie aber nicht, denn Langs Film würde sich in jedem Seminar für Literaturwissenschaftler ausgezeichnet behaupten.

Ein sehr sinnlicher Film ist Langs Film trotzdem, anschaulich in der theoretischen Reflexion, glaubwürdig in der Darstellung Bert Brechts und manchmal auch so plakativ wie sein Theater. Doch eins sollte klar sein: angesichts der globalen Finanzkrisen, die wir erlebt haben, wirkt die Kapitalismuskritik in Brechts „Dreigroschenoper“ leicht angestaubt. Nur schunkelsüchtige Altlinke hauen sich die Schenkel wund, wenn sie „Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank?“ hören.
Immerhin zeigt die „Dreigroschenoper“, dass Brecht angesichts der Weltwirtschaftskrise und des aufziehenden Nationalsozialismus doch ein kluger Analytiker gewesen ist. Auch Lang scheint dies zu wissen. In seinem fiktiven „Dreigroschenfilm“ gründen Macheath und Peachum am Ende eine Bank und prompt werden die Skylines sattsam bekannter Banken gezeigt. Nicht gerade originell, aber da darf man ruhig ein wenig sentimental werden.


Wenn Sie nur etwas sehen wollen, was einen Sinn hat, müssen Sie auf ein Pissoir gehen (Brecht)


Was Brecht uns heute noch zu sagen hat, ist ein anderes Thema. Dass er mit seiner Systemkritik möglicherweise schon 1928 auf die Nase gefallen ist, ist nur einigen Zeitzeugen aufgefallen. So schrieb der Philosoph Elias Canetti über die Premiere der Dreigroschenoper: „Es war eine raffinierte Aufführung, kalt berechnet. Es war der genaueste Ausdruck dieses Berlin. Die Leute jubelten sich zu, das waren sie selbst, und sie gefielen sich. Erst kam ihr Fressen, dann kam ihre Moral, besser hätte es keiner von ihnen sagen können. Das nahmen sie wörtlich.“
Und Hannah Arendt schrieb viele Jahre später: „Das „einzige politische Ergebnis des Stückes war, dass jedermann ermutigt wurde, die unbequeme Maske der Heuchelei fallen zu lassen und offen die Maßstäbe des Pöbels zu übernehmen.“
Man muss nun nicht vom Scheitern Brechts berichten, aber zumindest wird ein Dilemma deutlich – und das ist brandaktuell. Es geht darum, dass sich das Publikum selbst eine eigene Deutung aneignet, die gnadenlos alles wegbügelt, was es nicht sehen will, und empört ist, wenn es nicht das zu sehen bekommt, was es erwartet hat. 


Betrachten wir das Ganze einmal unter ganz praktischen Aspekten. Brechts Episches Theater ist grandiose Vergangenheit. Schon in meiner Schulzeit wurden nur Brechtstücke im Deutschunterricht gelesen, die auf eine ethisch-humanistische Botschaft heruntergebrochen werden konnten: etwas die „Mutter Courage“. Geblieben sind einige narrative Bausteine, die man im Kino und in einigen TV-Serien gelegentlich findet. Nicht nur in „House of Cards“. Auch Lars von Trier ließ sich in „Dogville“ von Brecht inspirieren. 
Um so schöner ist, dass es Joachim A. Lang gelungen ist, einen bissigen, gedankenschnellen Brecht zu zeigen, immer mit dem Zigarrenstumpen im Mund, die Kunst der Selbststilisierung beherrschend wie kein anderer, aber scharfsinnig genug, um dort zuzudrücken, wo es am meisten wehtut. So einen wie ihn könnten wir heute wieder gebrauchen.



Wer A sagt, der muss nicht B sagen. Er kann auch erkennen, dass A falsch war (Brecht)


Mackie Messer – Brechts Dreigroschenfilm – Deutschland 2018 – Buch, Regie: Joachim A. Lang – Laufzeit: 135 Minuten – D.: Lars Eidinger, Tobias Moretti, Hannah Herzsprung, Robert Stadlober, Joachim Król, Christian Redl u.a.

Noten: BigDoc = 1