Sonntag, 7. Juli 2019

Spider-Man: Far From Home

Nach dem furiosen „Endgame“ schließt Marvel die Phase 3 seines Marvel Cinematic Universe mit einem neuen Solo-Film von Spider-Man ab. Doch der von Tom Holland gespielte Spinnenmann hat es nicht nur mit gefährlichen Widersachern zu tun, sondern auch mit Kräften aus einer Parallelwelt, die an ihm zerren. Es ist unsere Welt und es sind vor allen Dingen die Verwerfungen des Medienmarktes, die darüber entscheiden werden, was aus ihm wird.
„Spider-Man: Far From Home“ ist vor diesem Hintergrund ein spannender Film geworden. In einem kompliziert gewordenen Erzählkosmos, in dem Parallelwelten und Zeitreisen für viele Rätsel sorgen, befindet sich der neue Marvel-Film irgendwo zwischen LSD-Trip und einer netten Coming-of-Age-Geschichte. Ordentliches Popcorn-Kino, aber sicher kein weiterer Höhepunkt des Marvel-Kosmos.




Ach ja, da war doch was?

Natürlich war da was. Stellen Sie sich vor, dass ein allmächtiges Monster in Ihrer Realität mit einem Fingerschnips jeden zweiten Menschen in eine Wolke aus Asche verwandelt hätte. Man darf sich das ruhig einmal ausmalen. Milliarden sind tot im ganzen Universum gilt die tödliche Quote - gut, die kennt man ja nicht. Aber doch nicht die eigene Familie, Freunde, Arbeitskollegen, jeder zweite halt? Doch fünf Jahre später kommen sie zurück. Was dann?
Nicht nur in Comics, sondern auch im Kino kann man so etwas mühelos erzählen. In den meisten Filmen werden solche Geschichte dann aber nicht weitererzählt. Der Abspann läuft, das Licht geht an, der Film ist vorbei. In Marvel-Filmen geht alles aber weiter, dort kamen Milliarden Tote in
„Endgame“ zurück. Alles nun nur ein „Blip“? Der Fingerschnips aus
„Infinity War“ wurde erst wortstark „The Decimation“ (Dezimierung) genannt. Nun heißt er offiziell „The Blip“ (Piepston) – eine Marginalisierung, die pointiert widerspiegelt, mit welchen Dilemmata sich die Macher des neuen Marvel-Films offenbar auseinandersetzen mussten.

Fünf Jahre mussten die irdischen Überlebenden im Marvel-Universum mit einem globalen Trauma leben. Vermutlich wären die meisten Länder nicht nur
volkswirtschaftlich in die Knie gegangen. 
Fünf Jahre später – nennen wir es ein Wunder – wurde alles rückgängig gemacht. Die Toten kehrten zurück, allerdings um kein Jahr gealtert. Bösartig formuliert: die Erde musste die größte Migrationswelle ihrer Geschichte verkraften. Auch dies Anlass genug, um erneut in die Knie zu gehen: ökonomisch, kulturell, sozial und vor allen Dingen emotional.
Wie erzählt man nach einem Weltuntergang und dessen magischer Reparatur alles vernünftig weiter? Will das der Zuschauer in einer Welt, die ohnehin schon kompliziert genug ist, überhaupt so genau wissen? Mal abgesehen davon, dass die mehrjährige Trauerarbeit, von der durchaus spannend und ernsthaft in „Endgame“ erzählt wurde, für die Katz gewesen wäre, stellt sich auch ohne empathische Auseinandersetzung mit der Handlung eine künstlerische Frage:  Wie hält man den Erzählkosmos des Marvel Cinematic Universe (MCU) zusammen, wie bewahrt man ein Mindestmaß an erzählerischer Stringenz?
Ganz einfach: Man hält sich nicht lange mit solchen Fragen auf. Und so entpuppt sich in einer der ersten Szenen von „Spider-Man: Far From Home“ das nostalgische Gedenken an die im Kampf gegen Thanos gefallenen Helden als von Schülern der New Yorker Midtown School of Science and Technology produziertes Video. Anschließend wird im schuleigenen Kanal ein wenig darüber gemault, dass die Zurückgekehrten sich damit abfinden müssen, dass der jüngere Bruder nunmehr der ältere geworden ist. Ja, das sind Verwerfungen, mit denen man sich erst mal abfinden muss!



Aus der Bildungsfahrt wird großes Chaos

„Ich brauche keine Erkenntnis - ich brauche Unterhaltung", schrieb ein Leser im Forum einer Tageszeitung zu dieser und ähnlichen Fragen, die fast zwangsläufig im neuen Marvel-Film auftauchen - oder auftauchen sollten. Peter Parker (Tom Holland) muss sich diese Fragen allerdings auch stellen, immerhin ist sein Mentor Iron Man tot. Aber Peter ist ja selbst zu Asche zerbröselt, aber trotz Tod und Wiederauferstehung ist er der nette Junge aus der Nachbarschaft geblieben, der scheinbar immer 16 Jahre alt sein wird. Und da einige seiner Schul-Buddys ebenfalls Opfer von Thanos‘ Blip geworden sind, inklusive Peter Nerdfreund Ned Leeds (Jacob Batalon), gibt es zumindest in Peter schulischem Biotop eine gewisse Kontinuität des Alters. Die Botschaft: im MCU macht man erst alles kaputt, dann wieder ganz und alles war ein großer Jux.

Aber Peter hat ganz andere Sorgen. Er will unbedingt das Herz seiner ziemlich coolen Schulkameradin MJ (Zendaya Coleman) erobern. Und da passt es ihm ganz gut, dass seine Klasse auf eine Bildungsreise nach Europa geschickt wird: Venedig, Paris mitsamt Eiffelturm. Halt das, was Amerikaner sehen wollen, wenn sie europäische Kultur meinen. Peters Plan: sich der Angebeteten auf dem Eiffelturm zu offenbaren. 
Und endlich auch Urlaub von Spider-Man nehmen.
Man ahnt, dass dies Probleme geben wird. Denn Peter kann den Spider-Man in ihm nicht so ohne Weiteres loswerden. Und obwohl ihn „Happy“ Hogan (Jon Favreau) davor warnt, ignoriert Peter einen Anruf von Ex-S.H.I.E.L.D.-Direktor Nick Fury (Samuel L. Jackson) und packt nicht einmal seinen Spider-Man-Suit in den Koffer. Seine Tante May (Marisa Tomei) tut genau dies aber heimlich – in kluger Vorahnung, denn bereits in Venedig wird die anfänglich überdrehte Bildungsreise mitten im Chaos landen – und „Spider-Man“ wird fernab von seiner netten Nachbarschaft in N.Y. nun auch in Europa gebraucht, um das Böse zu bekämpfen.


„Spider-Man: Far From Home“ hat Mastermind Kevin Feige als Abschluss der Phase 3 des MCU geplant. Das Filmskript geschrieben haben Chris McKenna und Erik Sommers, die eher für eine heitere Tonalität stehen und dies zuvor für „Ant-Man and the Wasp“ und „Spider-Man: Homecoming“ unter Beweis gestellt haben. Regie führte wie in „Homecoming“ erneut Jon Watts. Ein Kreativteam also, dass sich deutlich von den Filmen abgrenzt, die Anthony und Joe Russo auf die Leinwand gebracht haben („The Return of the First Avenger“, „The First Avenger: Civil War“, „Avengers: Infinity War“ und „Avengers: Endgame“). 
Ob es überhaupt noch mit den Avengers weitergehen wird, steht in den Sternen, aber unterm Strich stehen die Russo-Filme eher für erwachsene MCU-Filme. „Spider-Man: Far From Home“ ist garantiert keiner, aber für Projekte, in denen sich der Spaßfaktor an einem deutlich jüngeren Publikum orientiert, hat Kevin Feige halt auch seine Spezialisten.

Und die haben den neue Spider-Man-Film als klamaukigen Coming-of-Age-Film konzipiert: überdreht, randvoll mit Sitcom-Gags, die nicht schlecht sind, aber nicht immer zünden, und einem pflichtschuldigen CGI-Feuerwerk, das wieder einmal verblüffende Schauwerte abliefert, wenn es ums Kaputtmachen geht. Aber keine Story, die restlos überzeugen kann. Die Fans werden es sicher anders sehen, doch man sollte ehrlich sein: „Spider-Man: Far From Home“ will vor allem eins - einen Schlussstrich ziehen unter eine Dekade, die 2008 mit „Iron Man“ begann und 2019 mit dem epochalen „Endgame“ seinen vorläufigen Höhepunkt erlebte.
„Spider-Man: Far From Home“ ist also ein Film, in dem von „Captain America“ (Chris Evans) kaum noch die Rede ist und „Iron Man“ (Robert Downey Jr.) wenigstens noch auf Fotos zu sehen ist. Denn Iron Man aka Tony Stark ist  mittelbar verantwortlich für das psychologische Dilemma, das McKenna und Sommers ihrer Figur auf den blau-roten Anzug geschrieben haben. Stark hat den nicht sonderlich ambitionierten Spidey als seinen Nachfolger bestimmt. Eine Rolle, die der spätpubertierende Superheld nicht auf Anhieb akzeptieren kann. Einen mehr als symbolischen Wert hat daher Iron Mans Nachlass, und das ist eine Superbrille namens E.D.I.T.H., mit der Spider-Man den vollständigen Zugriff auf alle Daten und Technologien von Stark Industries erhält. Mehr Fluch als Beförderung.

Und so dreht sich alles, was danach passiert, eigentlich um E.D.I.T.H. In Venedig erscheint zunächst ein Wassermonster, das allerdings erfolgreich von einem neuen unbekannten Superhelden bekämpft wird. Seine Mission sei, so erklärt der alerte „Mysterio“, die völlig Vernichtung der sogenannten „Elementals“, Monster aus Wasser, Feuer, Erde und Wind, die aus Parallelwelten und anderen Dimensionen des Universums gekommen seien, um die Erde zu zerstören. 

„Mysterio“ dürfte den Comicfans durchaus als veritabler Widersacher Spider-Mans bekannt sein. Und „Mysterio“, der den bürgerlichen Namen Quentin Beck trägt, ist dann auch tatsächlich nicht der, den er vorgibt zu sein. Jake Gyllenhaal spielt den Schurken in neuem Spider-Man-Film angesichts der durchgehend kindgerechten Tonalität des Films nicht als rabenschwarzen ambivalenten Bösewicht à la Venom, sondern als narzisstische Persönlichkeit mit Weltherrschafts-Syndrom, der es fast schon etwas peinlich ist, so niederträchtig zu sein. Spider-Man aber ahnt nichts Böses und sieht in dem neuen Freund einen Ausweg und ist naiv genug, dem charmanten Bezwinger der Elemente seine Superbrille E.D.I.T.H. zu überlassen. Zu spät erkennt er, dass die Elementals eine Fake gewesen sind: holografische Projektionen, raffiniert von
Mysterios Team in Szene gesetzt. Danach kann der Meister der Illusionen nicht nur mit cleveren Hologrammen, sondern auch mit einem Heer von Drohnen nach der Weltherrschaft greifen.


Aus großer Kraft folgt große Verantwortung

Gut, das hat nicht nur Spideys längst verstorbener Onkel Ben gesagt, sondern auch ein gewisser Richard Nixon hat es von sich gegeben: „With great power goes great responsible.“ Spider-Man muss sich also auch diesmal mit seinem Rollenverständnis herumschlagen. Will er der nette Spinnenmann aus der Nachbarschaft bleiben oder ist er der, den Tony Stark in ihm gesehen hat: ein neuer Leader der Avengers? Zumindest von denen, die übrig geblieben sind? Immerhin zieht er sich ein Superhelden-Kostüm an, ein etwas schäbiges mit Reißverschluss.

So viel Psychologie muten Jon Watts und sein Kreativteam dem Zuschauer immerhin zu. Dass Spider-Man nach all den dramatischen Ereignissen des Infinity War erneut auf das Niveau eines spätpubertierenden 16-Jährigen zurückgedimmt wird, zeigt dagegen ein beschränktes Interesse an psychologischer Plausibilität. Spidey funktioniert so, als hätte es nach
dem gelungenen „Homecoming“ nichts Weltbewegendes gegeben. So ist „Spider-Man: Far From Home“ irgendwie ein Zwischenfilm, ein Gatekeeper zwischen Phase 3 und 4 des MCU, der weder die großen Fragen nach „Endgame“ restlos aufklären will noch daran interessiert ist, den Figuren eine allzu große Tiefe anzudichten.
Unterhaltsames Popcorn-Kino bietet der Film allemal, auch wenn man das Gefühl hat, dass der Film mit einer substanziellen Story wenig im Sinn hat und in Sachen Erzähllogik auch nicht allzu viel investiert hat. Etwa, wenn Nick Fury klagt, dass er nach fünfjähriger Abwesenheit nicht mehr über ausreichend Informationen verfügt, dafür aber offenbar immer noch über eine gewaltige S.H.I.E.D.-Logistik. 
Auch die wilden Hologramm-Sequenzen Mysterios, die Spider-Man in einen Strudel LSD-ähnlicher virtueller Pseudowelten stürzen lassen, sprechen symbolisch eher für eine Torpedierung der gewohnten Wahrnehmung und weniger dafür, dass sie dabei einer kohärenten Storylogik folgen. Das allerdings hat einen Kritiker nicht davon abgehalten, dem Film eine gesellschaftskritische Tiefenperspektive unterzujubeln. Stichwort: Fake News.

Zu viel der Ehre! Wesentlich spannender dürften eher die Planungen des Marvel-Franchise durch Kevin Feige werden. Entwickelt sich die Spider-Man-Figur weiter in Richtung klamaukiger „Guardians“-Filme und hat Spidey überhaupt eine Zukunft im Marvel-Universum? 

Immerhin können Marvel und damit auch Disney aufgrund des Deals mit SONY nur befristete Nutzungsrechte für die Spider-Man-Figur beanspruchen. Und SONY bastelte bereits mit Ruben Fleischers „Venom“ (2018) am ersten Film seines „Sony’s Marvel Universe“, anscheinend aber in friedlicher Abstimmung mit Marvel. 
Das wird auch nötig sein, denn nach dem Box-Office-Fiasko von „The Amazing Spider-Man 2“ musste sich SONY eingestehen, dass die Ausrichtung ihrer Filme mit den Marvel-Produktionen nicht Schritt halten konnte. Trotzdem kann man sich nicht so recht vorstellen, dass sich Tom Holland in den nächsten Jahren für SONY durch die Lüfte schwingt, um seinem ultra-brutalen Widersacher Venom auf die Pelle zu rücken.

Wie sich diese Probleme auflösen, wird man sehen. Immerhin arbeitete Ex-SONY-Producerin Amy Pascal für „Spider-Man: Far From Home“ an der Seite von Kevin Feige als Executive Producer. Ob dies für eine mögliche Zusammenarbeit zwischen Sony und Marvel spricht?
Witzig daran ist, dass SONY die Rechte an anderen Figuren aus dem Spider-Man-Universum hält und quasi ein Spidey-Paralleluniversum aufbauen kann – allerdings ohne Spider-Man. Immerhin gelang SONY mit dem Animationsfilm „Spider-Man: Into the Spider-Verse“ ein schlagfertiger und rundum gelungener Film, der über 375 Mio. US-Dollar einspielte und nicht nur bei den Kritikern, sondern auch bei den Fans das Gefühl hinterließ, der beliebten Comic-Figur wirklich gerecht geworden zu sein. Tom Holland lobte die SONY-Produktion auf CBR.com als „one of the coolest films he has ever seen.“

Ob und wann es einen neuen Spider-Man-Film geben wird, ist unklar. Gerüchten zufolge werden die Fans des Spinnenmanns zwei Jahre müssen. Dann ist Tom Holland bereits Mitte Zwanzig. Wichtiger scheint aber zu werden, welche Politik Disney betreiben wird, damit das MCU in dem neuen Streamingsportal Disney+ eine prominente Rolle spielen kann. Dazu braucht man man neue Kinofilme, neue Serien und neue Figuren, um sie auf breiter Front nachverwerten zu können. Da Disney mit dem Kauf von 21th Century Fox auch 20th Century Fox mit seinen Filmen im Portfolio hat, dürfte damit zu rechnen sein, dass alsbald die X-Men im Marvel Cinematic Universe auftauchen. Welchen Platz 
Spider-Man erhält, wird man irgendwann erfahren.
Man sieht: Geschichten zu erzählen, ist nicht nur die Kunst der Geschichtenerzähler, sondern die möglichst geschickte Ausnutzung von Marktmacht und Lizenzen. Aus großer Kraft folgt aber große Verantwortung. Und das gilt nicht nur für Spider-Man. Möge die Macht mit ihm sein, würde Meister Yoda sagen. Das darf er auch, denn er gehört ja nun auch Disney…


Note: BigDoc = 3


Spider-Man: Far From Home – Executive Producer: Kevin Feige, Amy Pascal – Buch: Chris McKenna, Erik Sommers – Laufzeit: 129 Minuten – FSK: ab 12 Jahren – D.: Tom Holland, Jake Gyllenhaal, Damuel L. Jackson, Zendaya Coleman, Jon Favreau u.a.