Sonntag, 28. April 2019

„Avengers: Endgame“: Wie Kino funktioniert

Die Rekorde werden purzeln. 643 Mio. US-Dollar hat der neue Marvel-Film in den ersten drei Tagen eingespielt, die 2 Milliarden-Grenze wird vermutlich keine sein. Die Fans strömen weltweit ins Kino und wollen sich ungestört bespaßen lassen, die Kritiker (längst nicht alle) wittern Eskapismus und finstere Mächte am Werk. 
Ja, „Avengers: Endgame“ ist augenbetäubend, größenwahnsinnig und nicht frei von Logiklöchern. Aber er ist auch ernsthaft, witzig, charmant und menschlich. Aber nie langweilig. Gutes Kino halt.


Schon wieder diese Steine!

Drei Stunden Blockbusterkino lassen sich kaum zusammenfassen. Erst recht nicht im MARVEL-Universum. In den Marvel Studios hat man wenigstens eine eigene Geschichtsschreibung etabliert. In ihr ist „Avengers: Endgame“ der vorletzte Film der „The Infinity Saga“ genannten drei Phasen, die 2008 mit „Iron Man“ begannen und im Sommer dieses Jahres mit „Spider-Man: Far From Home“ zu Ende gehen werden. Dazwischen liegen elf minuziös geplante Jahre, in denen die neuen Figuren mit Solofilmen etabliert wurden und zyklisch immer wieder die „Avengers“ auftauchten. Nach dem Kampf gegen die Post-Faschisten der Organisation Hydra und etlichen Zerwürfnissen in der Gruppe rückte immer mehr das mythologische Hauptthema der „Saga“ in das Erzählzentrum: die Suche nach den Infinity-Steinen. Sie geben die Macht über nahezu alles: Raum, Zeit, Realität und vieles andere mehr. Mit ihnen leistet am Ende von „Infinity War“ einer der differenziertesten Schurken in diesem schillernden Comic-Kosmos seinen persönlichen Beitrag zum Problem der galaktischen Überbevölkerung und der Ressourcenverknappung: der von Josh Brolin trotz wächserner Maske aufregend gespielte Superschurke Thanos tötet die Hälfte allen intelligenten Lebens im Kosmos – und damit auch einer Reihe von Comic-Helden, die allesamt zu Staub zerfielen. Wie dies rückgängig gemacht wird, davon erzählt der zweite Teil.
Es ist davon auszugehen, dass MARVEL-Mastermind Kevin Feige nach diesem gigantomanischen zweiteiligen Metaplot das Worldbulding nicht auf kleiner Flamme weiterköcheln lassen wird. Und vielleicht wird es ja dann auch in 20 Jahren professionelle MARVEL-Historiker geben, die uns – natürlich quellenbasiert – die Zeitlinien des Marvel Cinematic Universe (MCU) erklären. 
Das MCU musste man bereits vor elf Jahren streng von den Comic-Vorlagen separieren. Diese allein sind schon aus quantitativen Gründen zur Lebensaufgabe jener nerdigen Fans geworden, die sich mit den seit 1939 ins Bilderleben gerufenen Figuren auskennen, etwa mit Captain America, der 1941 zum ersten Mal in den Pulp-Magazinen auftauchte. Wie sich dieser superpatriotische Superheld über die Jahrzehnte entwickelte, bis er als ständig grübelnder Held im MCU landete, ist schon eine eigene Geschichtsschreibung wert. In ihr würde sich kondensieren, wie sich die USA ideologiegeschichtlich und pop-kulturell darstellen lassen.


Trauerarbeit und ein depressiver Schurke

Nun, zurück zu Thanos. Oder besser gefragt: Wie erzählt man von den Folgen eines völlig überdimensionierten galaktischen Supergaus, ohne sich angesichts dieses bizarren Plots lächerlich zu machen? Man zeigt eine intime Trauerphase und durchkreuzt mit einer erstaunlichen Handlungsvolte die Erwartungen des Publikums.

„Avengers: Endgame“ beginnt daher mit einer besonderen Art von Erinnerungsarbeit. Die erste Szene zeigt Clint Barton aka „Hawkeye“ (Jeremy Renner) mit seiner Familie beim Picknick. Während Barton seiner Tochter das Bogenschießen beibringt, löst sich seine Familie in herabbröselnden Staub auf, alle sind weg. Einige Sequenzen später wird man Barton als rächende Killermaschine in Japan finden – er mordet gegen sein Trauma an, rund um den Globus. Ein Mann, der alles verloren hat und mit seiner neuen Lebensaufgabe nicht wirklich klarkommt.

Derweil driftet Iron Man (Robert Downey Jr.) mit Nebula (Karen Gilian) im Schiff der Guardians durch das Weltall. Luft und Lebensmittel werden knapp und es ist weniger der omnipotente Iron Man als vielmehr ein völlig von Arroganz befreiter Tony Stark, der stark depressiv seine letzte Nachricht für die Nachwelt aufzeichnet. 
Gerettet werden die beiden Überlebenden dann von Captain Marvel (Brie Larson), die als des Königs rettender Bote auftritt. Sie bringt Nebula und einen sichtlich abgemagerten Tony Stark ins Avengers-Hauptquartier, wo die überlebenden Mitglieder der Truppe gegen Starks Widerstand beschließen, mit einem allerletzten Versuch die Katastrophe rückgängig zu machen. Tatsächlich gelingt es den von Captain America (Chris Evans) und Thor (Chris Hemsworth) angeführten Rest-Avengers, den Schurken ausfindig zu machen, der auf einem entfernten Planten als Hobby-Gärtner herumwerkelt. Aus dem Größenwahnsinnigen ist ein traurig-melancholischer Antiheld geworden, der lustlos vor sich hinlebt. Als er gesteht, die Infinity-Steine zerstört zu haben, ist der Plan der Avengers gescheitert. Ohne die Macht der Steine kann das Universum nicht gerettet werden. Thor enthauptet Thanos ohne weitere Diskussionen. So schnell wurde noch kein Schurke ins Jenseits befördert.


Dramaturgisch ist das geschickt. Wer eine finale Schlacht mit Thanos erwartet hatte, blieb im Kinosaal mit einigen Fragen zurück. Und die Trauerarbeit derjenigen, die den Supergau überlebt haben, ging nun erst recht weiter. Tote Schurken machen nicht glücklich. Und so war ein MARVEL-Film selten so düster und so weit von einer neckischen Comic-Erzählung à la „Guardians of the Galaxy“ entfernt wie in „Endgame“. Die Drehbuchautoren Christopher Markus und Stephen McFeely und Anthony und Joe Russo setzen geschlagene sechzig Minuten lang auf ein klassisch anmutendes Drama, das fast ohne Action und kalauernde Witze auskommt. Selbst „Rocket“, dem Waschbären, ist das Lachen vergangen.

Im Blockbusterkino, das sich für gewöhnlich kaum noch Zeit für eine vernünftige Exposition gönnt und es bereits nach wenigen Sekunden krachen lässt, ist das eine verblüffende und vielleicht auch nicht ganz risikolose Entscheidung des Kreativteams um Kevin Feige gewesen. Allerdings wird das erste Drittel von „Endgame“ von einer schlüssigen Psychologie geprägt, die die Superhelden vom Sockel stößt und ihre Identität in Frage stellt. Übrig bleiben Menschen, die schlicht und einfach trauern und ihr Leben neu konfigurieren müssen. Dem Film gelingen dabei nicht zum letzten Mal große emotionale Kinomomente. Irgendwie ein wenig „Vom Winde verweht“ oder zumindest „Titanic“. Doch ein Reboot ist nicht so leicht. Schon gar nicht mit einem Fingerschnipsen.


Zurück in die Zukunft

Fünf Jahre später geht es nicht allen besser, aber anders. Steve Rogers kümmert sich als Leiter einer Selbsthilfegruppe um traumatisierte Menschen, Tony Stark ist mittlerweile Vater geworden und führt mit Pepper (Gwyneth Paltrow) ein zurückgezogenes Leben auf dem Land. Thor kümmert sich dagegen kaum noch um seine Asen und ist – die fette Plauze macht es sichtbar – zum Schweralkoholiker mutiert. Der „Hulk“ hat wundersam eine Metamorphose vollzogen, sieht wie ein geschrumpfter Hulk aus, allerdings mit der Intelligenz von Bruce Banner. Man wurstelt sich halt durch.

Erst mit dem überraschend aus dem Quantenraum zurückkehrenden Scott Lang aka „Ant-Man“ (Paul Rudd), bahnt sich eine Wende an. Er hat von der Katastrophe nichts mitbekommen hat und läuft zunächst völlig konsterniert durch fast menschenleere Straßen, die so aussehen wie die dystopischen Schauplätze in „The Walking Dead“. Lang, der nur fünf Stunden weg war, in denen allerdings für alle anderen fünf Jahre vergangen sind, schlägt Steve Rogers und Natasha Romanoff aka „Black Widow“ (Scarlett Johansson) die Möglichkeit von Zeitreisen vor. Natürlich quer durch den Quantenraum. Nur wenn man die Infinity-Steine aus der Vergangenheit in die Gegenwart hole, könne die Uhr zurückgedreht werden, vermutet der Ameisenmann.

Damit leitet der Film eine Reihe von Subplots ein, die praktischerweise parallel montiert werden können, damit der Überblick nicht ganz verloren geht. Thor und Rocket sollen ins Jahr 2013 springen und den „Äther“ (Realitätsstein: verleiht Omnipotenz und Kontrolle über die Realität) auftreiben. 
Iron Man, Captain America, Ant-Man und Hulk begeben sich ins Jahr 2012, um in New York den „Tesserakt“ (Raumstein: Teleportation, Energiequelle), den „Gedankenstein“ (Telepathie, steigert Intelligenz und Weisheit) und „Das Auge von Agamotto“ (Zeitstein: Kontrolle über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft) zurückzuerobern. 
„War Machine“ (Don Cheadle) und Nebula müssen dagegen im Jahr 2014 den „Orb“ (Machtstein: enthält die gesamte Macht des Universums und macht unverwundbar) besorgen. Für den „Seelenstein“ (verleiht ewiges Leben) sind „Black Widow“ Natasha Romanoff und „Hawkeye“ Clint Barton zuständig.

Damit beginnt mit der rasant geplanten Zuspitzung von Tempo und Handlung auch der schwächere Teil des Films. Der eigenen Erzähllogik folgend, deutete bereits „Infinity War“ an, dass an Zeitreisen kein Weg vorbeiführt. Aber man muss entweder völlig distanzlos sein oder viel Humor mitbringen, um diesem Erzählmittel etwas abgewinnen zu können. Komödien oder Persiflagen können vielleicht etwas Witziges daraus machen, wenn das Murmeltier täglich grüßt. Ansonsten wirken diese Verstöße gegen die Kausalität ärgerlich. In der Science-Fiction sowieso - nicht nur wegen des Großvaterparadoxons. 

In Graphic Novels, Comics und im Fantasy-Genre gelten scheinbar andere Regeln. Dies ändert aber nichts daran, dass es nicht nur in der Physik Anforderungen an die Kausalität gibt, sondern auch in den schönen Künsten. In der Literatur und im Kino gibt es eine stillschweigende Übereinkunft darüber, dass Elben, Zwerge und Orks in der Tradition der Mythen, Sagen und Märchen und sonstige Fiktionen eine legitime Existenz besitzen. Allerdings erzeugen sie halt keine Paradoxien. Und sie verstoßen auch nicht zwangsläufig gegen die sogenannten Konsistenzbedingungen, die sicherstellen, dass alles widerspruchsfrei zugeht. 
Auch wenn Fans dies für reine Erbsenzählerei halten und sich ihren „Spaß“ nicht verderben lassen wollen: „Endgame“ zelebriert mit den streckenweise ziemlich durchgeknallten Reisen in die Vergangenheit ein lässiges „Anything goes“, das völlig losgelöst alles Erwartbare aushebelt und das logisch nicht zu Erwartende so präsentiert, als sei es das Normalste der Welt.

 

Der Reiz liegt im Detail: der Film hat Witz und Charme

Wohin dies führen kann, zeigte die zweite Season von „Star Trek: Discovery“, die auch bei bekennenden Trekkies Unmut auslöste. Gelinde gesagt. Was den Bullshit mit den Zeitreisen in „Endgame“ aber einigermaßen rettet, sind der Witz und der Charme und auch die Dramatik, mit denen die Episoden aufwarten. 
So befindet sich Captain America plötzlich mitten in der Handlung von „The Return of the First Avenger“ und muss sich dort prügeln – natürlich mit Captain America. Tony Stark dagegen trifft in der Vergangenheit seinen Vater – ein denkwürdiges Gespräch über Narzissmus und familiäre Werte. Und Thor kann per Zeitsprung in Asgard einen Teil seiner Schuldgefühle und Versagensängste bei einem Treffen mit seiner (eigentlich) toten Mutter verarbeiten.
Weniger spaßig geht es dagegen auf dem Planeten Vormir zu, wo der „Red Skull“ wieder einmal ein Opferritual fordert, bevor er den Seelenstein aushändigt. „Hawkeye“ und „Black Widow“ kämpfen erbittert darum, wer sterben darf und retten sich zur Durchsetzung ihres eigenen Anspruchs pausenlos das Leben. Am Ende erfolglos, und so verlieren die Avengers eine(n) der ihren.


Dieser raum-zeitliche Mix aus Humor, Drama und Melodram ist im Detail sogar noch etwas komplizierter und lässt den Kopf rauchen. Das Aufzubröseln ist aber eine Sache für die Nerds. Und da „Endgame“ in diesem Stadium alle Hemmungen über Bord wirft, wird auch die jüngere Ausgabe von Thanos auf den faulen Zauber mit den Zeitreisen aufmerksam und reist seinerseits mitsamt seinen Heerscharen durch den Quantenraum in die Gegenwart – zumindest um zu verhindern, dass die von ihm hergestellte Zukunft zunichte gemacht wird. Dies ist aber bereits geschehen, und es ist ausgerechnet der Hulk, der sich den Handschuh mit den erfolgreich eingesammelten Infinity-Steinen überzieht und mit den Fingern schnipst. Die große finale Schlacht um den Handschuh kann aber auch er nicht verhindern.


Die aber ist, um ehrlich zu bleiben, monströs, gigantomanisch und ein wenig langweilig. Das stört das Vergnügen an dem Film aber nicht entscheidend. „Endgame“ ist traurig und witzig und führt die lange Reise zum Ende der Saga einigermaßen konsistent zusammen (wenn man die Zeitreisen akzeptiert), und das liegt auch daran, dass die Figuren keine Abziehbilder sind, sondern sich entwickeln und verändern - und das ist durchaus spannend, kann aber einige Handlungslöcher nicht stopfen.
Die sind verblüffend dämlich und können nur übersehen werden, wenn man einem häufig geäußerten Bedürfnis der Fans nachgibt: nämlich beim Kinobesuch endlich mal das Gehirn ausschalten zu dürfen. Mitten im finalen Krawumm fragt man sich kopfschüttelnd, warum das Team um Kevin Feige mit „Captain Marvel“ (Brie Larson) die wohl mächtigste Figur im Marvel-Kosmos (Dr. Manhattan aus den „Watchmen“ lässt grüßen) mit einem Solofilm eingeführt hat, nur um sie im Finale der Infinity-Saga weitgehend aus der Handlung verschwinden zu lassen. Dass die weibliche Superheldin dies damit begründet, dass sie auf anderen Planeten genug zu tun habe, beleidigt in einem gewissen Umfang die nach dem großen Schlachtengetöse möglicherweise noch vorhandene Intelligenz des Zuschauers. 
Und die Frage, wie es Thanos geschafft hat, Hundertausende seiner Krieger ohne den Tesserakt auf die Erde zu bringen, wo doch die Avengers ohne ihre mit riesigem Aufwand gefertigten Anzüge nicht einmal einen einminütigen Zeitsprung hinbekommen hätten, überlasse ich den kundigen Fachleuten.


Am Ende liegt der Reiz von „Avengers: Endgame“ aber im Detail und nicht im Getöse. Es sind nicht die knackigen Oneliner, auch nicht das saumäßig teure Schlachtengetümmel, die einen nach diesem überdrehten Marvel-Blockbuster versöhnlich stimmen. Es sind auch nicht die durchaus berührenden Todes- und Abschiedsszenen von Figuren, die den Marvel-Kosmos verlassen (falls sie nicht durch irgendwelche Tricks zurückgeholt werden). Vielmehr sind es viele gut abgestimmte große Kinomomente, die dem Zuschauer zeigen, dass im Kino glaubhafte Emotionen über das Gelingen einer Geschichte entscheiden. Manchmal möchte man den Kopf lieber über einen Film entscheiden lassen, aber wenn kurz vor dem Abspann Captain America in der 1940er Jahren mit seiner alten Liebe Peggy Carter selbstverloren tanzt und danach als alter Mann zu seinen Freunden zurückkehrt, weiß man, wie und wo er sein Leben verbracht hat. Ein schöner Moment von vielen. Und dann weiß man, wie gutes Kino funktioniert.


Postskriptum

Die Reaktion auf Filme ist häufig bipolar. Das funktioniert dann wie bei der gleichnamigen psychischen Störung, an der die Heldin in „Homeland“ leidet: immer hin und her schwanken zwischen tiefster Depression und manischer Hyperaktivität. Alles in einer Person. Das Marvel Cinemativ Universe scheint die Symptome aber auf zwei Lager zu verteilen. 
Auf der einen Seite stehen die Filmkritiker, die mit einer gewissen Fassungslosigkeit den weltweiten Erfolg einer Filmreihe erklären sollen, die ihnen ganz offensichtlich wesensfremd geblieben ist. Dem ZEIT-Rezensenten David Hugendick, von Haus aus Literaturkritiker, fiel beispielsweise nur ein großes „Uff“ als Überschrift ein – er hat in „Endgame“ einen „albernen Film voll juchzblödem Geknall“ gesehen – allerdings müsse man den Willen zum Pomp lieben, so Hugendick. Irgendwie. Immerhin seien sprechende Waschbären sehenswert.
Hugendicks Filmkritik ist aus fachlicher Sicht nicht berauschend. Irgendwie will er den Film nicht verreißen, tut es aber doch und will das Problem einer kohärenten Begründung mit lockeren Sprüchen lösen. Dabei bekommen leider auch die Zuschauer ihr Fett weg. Zum Teil wirkt die Angestrengtheit seines juxenden Stils beinahe depressiv. Da steht jemand vor einer Tür, die er nicht öffnen kann.


Auf der anderen Seite dieser medialen bipolaren Störung befindet sich der Zuschauer. Der strömt manisch und hyperaktiv in Massen ins Kino und will mehr davon. Der Fan, also derjenige, der MARVEL-Filme liebt, als gehe es um ein gut gehütetes und kostbares Geheimnis, das nur er wirklich erklären kann, kann es tatsächlich am wenigsten erklären. Die Kommentare zu Hugendicks Kritik sind teilweise erschreckend gewesen. Auch weil sie ein zutiefst anti-kulturelles und bildungsarmes Verständnis von Filmkritik outen. Selbst Meinungsfreiheit praktizierend, wird die der anderen skandalisiert. Das Ganze verirrt sich häufig genug in der absurden Forderung: nur jene sollten eine Filmkritik schreiben, die den Film von ganzem Herzen lieben. Wow! Das von Zuschauern und Fans danach sehr häufig genannte Argument: man wolle einfach nur sein Gehirn ausschalten und Spaß haben wie ein Kind.


Damit liefern die schreibenden Fans nur wenig Gründe, um sie vor den professionellen Feuilletonisten in Schutz nehmen zu können. Der Verfasser dieser Zeilen mag MARVEL-Filme, hatte aber eigentlich nie das Gefühl, im Kino dabei sein Gehirn ausschalten zu können oder zu müssen. Im Gegenteil.
Ich wäre zwar nie auf den Gedanken gekommen, mir irgendeine der Comic-Verfilmungen anzuschauen, die vor Nolans „The Dark Night“ auf die Leinwand gekommen sind. Aber ich liebte Christopher Nolan dafür, dass er von Batman so episch erzählte und gleichzeitig so viele intelligent gemachte Bemerkungen zum Zeitgeist in seinen Filmen platzierte. Und Ähnliches galt auch für viele MARVEL-Filme, die herrlich subversiv waren. Auch politisch. Okay, das bringt wiederum Fans auf die Palme…


Also: Kritik bedeutet nicht Negation, sondern sie ist eine vernunftbasierte Auseinandersetzung. Comic-Verfilmungen kann und darf man hinterfragen. Wenn man Marvel-Filmen ans Leder möchte, könnte man sie als großangelegten Versuch beschreiben, die willfährigen Kinomassen in das Korsett einer Erzählstrategie zu pressen, die einerseits das Kino methodisch zerstört und andererseits per Knopfdruck aus den Domestizierten das Geld für unaufhörliche Milliardengewinne herauspresst. Stimmt zwar als ökonomische Funktion, reicht aber nicht für eine Inhaltsbeschreibung.
Trotzdem: Das MCU als Verblödungsmedizin einer Amok laufenden kapitalistischen Unterhaltungsindustrie – das funktionierte als ideologiekritisches Theorem eigentlich immer. Besonders dann, wenn es um Disney geht geht, dem Synonym für dämliche, sentimentale Filme. Verreißen lässt sich das leicht. Man lehnt sich zufrieden zurück. Den Geist der Bilder kriegt man aber nicht in die Flasche zurück.

Den konnte man durchaus erkennen. Im Falle von Captain America ist mir beispielsweise so einiges durch den Kopf gegangen. 2014 schrieb ich: „The Return of the First Avenger kann (…) als sardonischer Kommentar zu den aktuellen politischen Geschehnissen und den Drohnen-Einsätzen der US-Militärs und sonstiger Dienste gelesen werden, was auch von den Machern des Films beabsichtigt worden ist. (…) Captain America (ist) endgültig in der Jetztzeit angekommen. (…) In den Comics musste Captain America die Konfrontation mit dem Watergate-Amerika noch aushalten und durfte stattdessen arabische Terroristen killen, in der Zeitlinie der Kinoadaption bleibt dem deutlich liberaleren und reflektierteren Comic-Helden dies erspart. Aber auch jenseits aller politisch-historischen Allegorien ist die Fortsetzung der Geschichte Captain Americas eine rundum unterhaltsame und für eine Comic-Adaption erstaunlich differenzierte Portion Mainstream-Unterhaltung geworden.“

Das war einer der Gründe, warum ich Captain America so mochte.


Gut, diese Art der Rezeption mag dem einen oder anderen als zu elaboriert erscheinen, aber dies ist ebenso legitim wie das Unterhaltungsbedürfnis von Zuschauern, die ihren Blick auf andere Aspekte lenken. Aber vielleicht ist ja auch nur eine weitere Facette der bipolaren Störung, die von den Filmkritikern bis zu den spaßfixierten Fans alle erfasst, die sich in den MARVEL-Kosmos begeben. Und häufig sind bipolar gestörte Menschen zumindest in ihrer manischen Phase charismatische Persönlichkeiten. Überträgt man diese Symptome auf das Kino, ist man einer Erklärung der Mechanismen dieses Mediums einen Schritt nähergekommen. Erst wird groß aufgespielt und wenn’s vorbei ist, dann ist man traurig, dass es tatsächlich vorbei ist.

Was von distanzierten Kritikern leider auch zu häufig übersehen wird, ist die Kunst des seriellen Erzählens. Marvel beherrscht sie meisterhaft, und das nicht nur, weil die Konkurrenz wie zum Beispiel DC nur staunend zusehen kann, wie der Zug an ihnen vorbeirauscht. Kevin Feige, der Mastermind des MCU, hat über die Jahre ein cleveres, aber auch elegantes und erzählstarkes Narrativ mit seinem Kreativteam auf die Beine gestellt, das nur Ignoranten oder durch Blockbuster depressiv gewordene Kritiker nicht erkennen können. Schade. (Sorry, das war jetzt ein wenig polemisch).

Dabei hat Feige lediglich die alte Kunst des seriellen Erzählens verfeinert. Die ist tatsächlich älter als die zahllosen TV-Serien, älter als das Kino, überhaupt älter als die visuellen Medien. Bereits die Literatur im viktorianischen England, etwa Charles Dickens Fortsetzungsromane in den Pickwick Papers, bekam man nicht nur am Stück, sondern häufig nur seriell – und zwar für wenig Geld. Wer wissen wollte, wie es weitergeht, musste geduldig warten. 

Auch die Seifenopern im US-Radio der 1930er – 1950er Jahre fesselten zigtausende Hausfrauen an die Geschichten ihre Helden und Heldinnen. Gleichzeitig wurde ihnen Werbung untergeschoben. Gut, Perlen der Erzählkunst waren das nicht. Aber die Figuren und ihre Geschichten gab es täglich! Und man interessierte sich für sie! Heute nennen Medienwissenschaftler dies Involvement.
Serielles Erzählen begeistert die Menschen also seit über 200 Jahren. Vielleicht sogar noch länger, wenn man die Geschichten aus 1001 Nacht hinzuzählt. Wer also glaubt, dass er sich mitten in der Geschichte des seriellen Erzählens befindet, täuscht sich gewaltig. Womöglich befinden wir uns bereits auf dem Zenit oder haben ihn längst überschritten. Das Golden Age of Television ist, glaubt man einigen Medienwissenschaftlern, womöglich schon im Niedergang begriffen und auch mit den Blockbustern wird es nicht ewig so weitergehen. Womöglich sind die Marvel-Filme sind die letzten großen, funkelnden Feuerwerke, die abgebrannt werden.


Schuld daran sind nicht das Worldbuilding und der Gigantismus, jene vermeintlich wetterfesten Strategien des kommerziellen Erfolgs. Schuld werden die sein, die es hemmungslos übertreiben und glauben, Erfolgsrezepte leicht kopieren zu können, oder dem Wahn zu verfallen, dass mehr immer auch besser bedeutet. 

HBO zimmert nach dem Auslaufen von „Game of Thrones“ an Prequels, AMC will den Zuschauer an 365 Tagen mit Ablegern aus der Welt der Untoten versorgen. Auch Marvel und damit auch Disney, das frisches Futter für sein neues Streaming-Portal benötigt, haben sage und schreibe achtzehn Marvel-TV-Serien im Portfolio, die entweder gelaufen sind, immer noch laufen oder in Planung sind. Jeremy Renner soll bald in einer „Hawkeye“-Serie zu sehen sein. Da die ganz großen Stars ansonsten nicht zu bekommen sind, müssen weiterhin die kleinen ran. Und so gibt es dann wohl auch Serien wie „The Falcon and the Winter Soldier“. Ich würde mich wundern, wenn das gut geht.

Marvel-Kinofilme sind in diesem Kapitel der Mediengeschichte ein Solitär. Qualitativ haben die Filme grandiose Maßstäbe in einer kurzlebigen Unterhaltungsbranche gesetzt, eine Serie von Geschichten, die nunmehr eine Dekade überdauert haben. Als Kritiker haben sie mir viel Vergnügen bereitet, als Zuschauer sowieso. Eine kritische Distanz habe ich nie gesucht, kritische Empathie allerdings schon. Auch weil ich das Kaninchen Rocket mag, das immer noch glaubt, ein Waschbär zu sein…

Noten: BigDoc = 2

Avengers: Endgame - USA 2019 - Exekutive Producer: Kevin Feige - Regie: Anthony und Joe Russo - Buch: Christopher Markus, Stephen McFeely - D.: alle - Laufzeit: 181 Minuten