Donnerstag, 4. Oktober 2007

Die Fremde in dir

USA / Australien 2007 - Originaltitel: The Brave One - Regie: Neil Jordan - Darsteller: Jodie Foster, Naveen Andrews, Terrence Howard, Mary Steenburgen, Jane Adams, Nicky Katt, Zoe Kravitz - Prädikat: besonders wertvoll - FSK: ab 16 - Länge: 119 min.

Selbstjustiz gefährdet die Grundlagen unserer Rechtsethik und Rache ist sowieso von Übel. Eigentlich ist damit Neil Jordans neuer Film „Die Fremde in dir“ spätestens dann moralisch erledigt, als die schießwütige Heldin am Ende mit einem raffinierten Deal konfrontiert wird, der ihr eine strafrechtliche Verfolgung erspart. Allerdings muss sie ein letztes Mal ihre Waffe abfeuern- auf einen Unschuldigen! Also keine symbolische Bestrafung der Rächerin: Das sieht ganz nach einem Plädoyer für Selbstjustiz aus.

Was zuvor in passiert, entspricht nicht ganz dem gängigen Schema einer „Eine Frau sieht rot“-Variante des alten Bronson-Klassikers: Erica Bain (in bewährter Form: Jodie Foster) verdient ihre Brötchen als literarisch-feinsinnige Großstadtpoetin in der Radioshow „Street Walk“. Sie liebt NY, obwohl es sich verändert, schleichend, mit einer Tristesse, die wahrscheinlich auch durch Nine Eleven in ihre Poeme getragen wird. Die Stadt ist beschädigt und wie das aussieht, ist auch nicht neu, weiß doch jeder Tourist, dass man in New Yorker Parks nicht in abgelegene Tunnel läuft. Nur Bain tut dies, mit ihrem Verlobten, auf der Suche nach ihrem Hund. Die Folge: beide werden mit äußerster Brutalität überfallen, ihr Verlobter, ein indischer Arzt, wird von den Bösewichtern erschlagen, Erica ins Koma getreten, während das Ganze mit dem Handy gefilmt wird. „Happy Slapping“ mit tödlichen Folgen.

Realismus statt Baller-Movie: Ist das politisch korrekt?
Was folgt, ist der Prozess der langsamen Verwandlung Ericas Bains in eine Fremde, einen Menschen, der die Wurzeln vollständig eingebüßt hat und schwer traumatisiert nach einer neuen Identität sucht, dabei zur Waffe greift und tötet. Diese Metamorphose nimmt den Zuschauer mit auf die Reise zu vertrauten Reiz-Reaktions-Schemata: natürlich ahnt er, dass Erica zurückschlagen wird, natürlich ist er emotional auf ihrer Seite, ob klammheimlich oder in offener Erregung sei dahingestellt und natürlich fragt er sich, etwas cineatische Intelligenz vorausgesetzt, wie denn der Film aus dieser moralischen Affäre herauskommen will, da Neil Jordan sein Sujet realistisch-psychologisch angeht und nicht einen zynischen Schenkelklopfer à la „Kill Bill“ oder eine maskuline Racheorgie wie „Man On Fire“ ins Bild gesetzt hat.
Ja, so eine Erzählhaltung ist schon eine Plage, da es in einem wirklichkeitsnahen Film ohne Differenzierung und subtile Zwischentöne nicht ganz abgeht. Autor und Regisseur scheinen zumal ob dieser latenten Intellektualität per se gehalten zu sein, eine moralische Aussage zu treffen, die politisch korrekt ist. Dies tut „The Brave One“ (Originaltitel) allerdings nicht und so reagierten die meisten Kritiker auf den Film ziemlich allergisch und erkannten in ihm ein Votum für Selbstjustiz. Bezeichnenderweise bekannte sich einer dieser Profischreiber ziemlich konsequent zu dem Ballerspektakel „Death Sentence“ mit Kevin Bacon, da dieser Rachefilm doch „einfacher und ehrlicher sei“. Und letzteres ist ganz schön perfide.

Ambivalente Inszenierung
Nun gehört es sicher zu den Angriffsflächen in Neil Jordans Film, dass er anders als Martin Scorsese in „Taxi Driver“ keine irritierende und leicht psychotische Grundstimmung herstellt, die den Zuschauer auf Distanz hält. Erica Bain ist aber nicht Travis Bickle und Neil Jordan ist nicht Martin Scorsese. Und so unternimmt Jordan alles nur Denkbare, um den Zuschauer emotional zu infiltrieren: als ob das bislang Gesehene nicht reichen würde, sorgen Ericas Erinnerungen an intime Liebesszenen als schmalzige Flashbacks für eine kitschige Textur, die der Film ganz und gar nicht verträgt.
Auch die Musik ist lästig: erinnert sie manchmal noch an Bernhard Hermanns Score aus "Taxi Driver", was sicher nicht originell, aber verständlich ist, so manipuliert sie in anderen Szenen das Gemüt des Zuschauers mit gewissenloser Suggestivität.

Alles Weitere sperrt sich psychologisch nicht gegen eine plausible Einfühlung in die Gefühlswelt einer Frau, der das Ur-Vertrauen abhanden gekommen ist. Und wer es nicht gut meint mit Jordans Film, könnte hier sogar von einer „Dramaturgie der Verführung“ sprechen. Nicht ganz unberechtigt: Erica Bain besorgt sich illegal eine Waffe, weil sie nicht mehr glaubt, ohne Schutz überleben zu können. Und sie macht von ihr Gebrauch: zuerst zögerlich in einem Supermarkt, wo sie einen Raubmörder in Notwehr erschießt, dann in der U-Bahn – dort erschießt sie mit bereits erkennbarer Hingabe zwei farbige Schläger, von denen einer bereits die Klinge an ihren Hals gesetzt hat. Die dritte Tat ist so gut wie affektfrei: Erica durchstreift das nächtliche New York, die riesige Waffe in ihrer Handtasche, immer auf der Suche nach neuen Ungerechtigkeiten. Sie befreit eine Prostituierte aus den Fängen eines Soziopathen, allerdings ohne diesen zu erschießen. Erst nachdem der üble Kerl die beiden Frauen überfahren will, greift Erica zur Waffe.

Fragwürdige Allianzen, ambivalente Verführungen
Mit ihrer vierten Tat betritt die Rundfunkjournalistin, die mittlerweile ihr Trauma recht glaubwürdig zum Thema ihrer Show gemacht hat, endgültig rechtsfreien Raum und das ist zweifellos der interessanteste Teil der Films. Erica hat im Rahmen der ergebnislosen Ermittlungen den farbigen Detective Mercer (ganz groß: Terrence Howard) kennen gelernt. Mercer ist kein ruppiger Cop. Einfühlsam interessiert er sich für Ericas Leiden und vertraut ihr an, dass es ihm unmöglich sei, einen führenden Kopf des organisierten Verbrechens dingfest zu machen, obwohl dieser vermutlich gerade erst seine Frau umgebracht hat und nun eine Gefahr für seine kleine Tochter ist, weil diese wahrscheinlich den Tathergang beobachtet.
Nach außen gefasst und streng der Legalität verpflichtet, gestattet der Cop ausgerechnet Erica diesen Blick in einen Abgrund, in dem schon die Zweifel an einem Rechtssystem lauern, in dem gut organisierte Verbrecher die Regeln der Justiz zu manipulieren gelernt haben.
Auf den Zuschauer wartet keine Überraschung: Erica plant mit recht kalter Entschlossenheit die Liquidierung des Gangsters und führt sie konsequent durch - die Metamorphose ist abgeschlossen, die Gefühle des Traumas haben sich Ideologie verwandelt. Nun ist nichts ist mehr Notwehr, alles ist Programm und es spielt keine allzu große Rolle mehr, dass Erica unter dem moralischen Konflikt leidet und sogar kurz vor der Selbstanzeige steht: sie tötet Verbrecher, weil sie nur so emotional überleben kann.
Am Ende von „Die Fremde in dir“ ist es klar, dass Mercer erkennen muss, wer und was Erica ist und wer seinen Herzenswunsch nach Gerechtigkeit erfüllt hat. Der finale Twist nach dem großen Show-down zeigt dann auch recht konsequent, dass beide schon längst die letzte Grenze überschritten haben. Das Töten wird wahrscheinlich enden, ob aber noch einmal ein Leben und eine Liebe beginnen können, wird sich zeigen. Und das ist – ganz nebenbei – auch eine sehr faszinierende Beziehungsgeschichte. Zumindest eine der schönsten, die ich seit langem in Kino gesehen habe.

John Ford hat es schon vorgemacht
Das Dilemma ist, dass Neil Jordans Films trotz einiger inszenatorischer Schwächen ein einigermaßen intelligenter Film ist. „The Brave One“ ist ein zunächst ein emotionales Plädoyer für die Tapferkeit, befriedigt aber auch den instinktiven Wunsch nach einem archaischen Rechtssystem, in dem das Machtmonopol nicht mehr dem Staat überlassen wird, wenn dieser bei seiner Aufgabe, den Bürger zu schützen, scheitert. Und die Täterin ist eine Frau: liebenswert, intellektuell, reflektiert und voller Skrupel. Dies ist nicht unproblematisch.

Anstatt aber reflexhaft dem Film eine inkorrekte Ideologie vorzuwerfen, sollte der eine oder andere Kritiker zur Kenntnis nehmen, dass die Diskussion um das so genannte Widerstandsrecht auf einen heftig umstrittenen Aspekt unserer Rechtskultur verweist, der schon von Philosophen wie Hobbes und Kant erregt diskutiert wurde. Während Kant jegliches Recht auf Selbstschutz und Gegenwehr gegen ungerechte Gesetze, aber auch gegen anarchistische Gewalt leugnete, räumte der englische Denker Thomas Hobbes dem Bürger das Recht auf Gegengewalt in Ausnahmesituationen ein.
Doch wie sehen solche Situationen aus? Organisiertes Vigilantentum führt ins Chaos, das lehrt die Geschichte, besonders die amerikanische. Der Schutz bedrohter Menschen vor Mord und Totschlag und die Vergeltung von Verbrechen führt dagegen unter Umständen in moralische Grenzsituationen, die uns ein (gelegentlich zynischer) Moralist des Kinos bereits gezeigt hat: in „Der Mann, der Liberty Valance erschoss“ lehrt uns John Ford wie notwendig Zivilcourage und Gewaltfreiheit sind, um ein verlässliches Rechtssystem und das Gewaltmonopol des Staates zu etablieren. Möglich wird dieser zivilisatorische Fortschritt aber nur, weil John Wayne den üblen Schurken, der dem Ganzen im Wege steht, kraft seiner persönlichen moralischen Überzeugungen ziemlich lapidar erschießt.

Noten: BigDoc = 2,5