Samstag, 23. Januar 2010

Avatar – Aufbruch nach Pandora

USA 2009 - Originaltitel: Avatar - Regie: James Cameron - Darsteller: Sam Worthington, Zoë Saldana, Sigourney Weaver, Stephen Lang, Michelle Rodriguez, Giovanni Ribisi, Joel David Moore, CCH Pounder - FSK: ab 12 - Länge: 161 min.

Der erfolgreichste Film aller Zeiten
Fast 1,7 Mrd. Dollar hat der Film eingespielt, über dessen Produktionskosten unterschiedlichen Zahlen vorliegen. Es ist damit zu rechnen, dass „Avatar“ für sehr lange Zeit der erfolgreichste Blockbuster aller Zeiten werden wird. Platz 2 hinter „Titanic“ hat er bereits geknackt und das Einspielergebnis des Melodrams vom Schiffeversenken, nämlich 1,84 Mrd. Dollar, wird er locker schaffen (was nur wenige Tage nach der Veröffentlichung dieser Kritik auch prompt passierte: AVATAR ist nunmehr tatsächlich der erfolgreichste Film aller Zeiten und man darf abwarten, ob er auch die 2 Mrd.-Hürde locker nimmt!).
James Cameron ist auf dem besten Weg, sich selbst zu schlagen.
Mit 150 Mio. Dollar hat die 20th Century Fox zudem einen Marketing-Etat auf die Beine gestellt, der alle anderen US-Blockbuster um Längen schlägt. Kein Wunder, bewegen sich derartige Aufwendungen in der Regel im zweistelligen Bereich, sieht man einmal von Spider-Man 3, der mit 100 Mio. Dollar gepusht wurde.

Bei solchen Dimensionen wird die Filmkritik nicht nur hierzulande leicht nervös. Während die einen James Cameron schnell als Kino-Terminator identifizieren, der die Köpfe der Zuschauer mit Esoterik-Schrott zumüllt, entdecken weniger feindlich Gesinnte in „Avatar“ ein bahnbrechendes Kinoereignis, wohl auch den ideengeschichtlichen Triumph eines Autorenfilmers, der sich stromlinienförmig, aber eben auch moralisch schlagfertig an die Erfordernisse des amerikanischen Popcorn-Kinos angepasst hat. Ja, ein Ökodrama habe er machen wollen, und „…die Missachtung für Eingeborenenkulturen scheint mir symptomatisch zu sein für die Missachtung der Welt der Natur“ (James Cameron).
Wenn Political Correctness, vorgeblich seriös gemeinte moralische Botschaften und die unbestreitbare Fähigkeit zum Geldverdienen so auffällig zusammentreffen, kann das einfach nur faul sein. Und so schrieben einige Kritiker schnell etwas über Öko-Kitsch, allerdings schossen andere Mitglieder der schreibenden Zunft zurück und beförderten James Cameron ganz schnell in die Hall of Fame, wobei zumindest ein Kollege ihn auf eine Stufe mit Kubrick stellte. So gelingt laut Peter Brinkemper (Telepolis) am Ende dem Helden „der evolutionäre Sprung vom Menschen zum Na'Vi, in Umkehrung zum Filmcut vom Affen zum Astronauten in ‚2001’".

Eins ist klar: wenn die Schreibergilde kompromisslos aufeinander eindrischt, haben wir es in der Regel mit einem Streit zu tun, der ohne eine präzise Vorstellung vom ‚wahren’ Kino nicht denkbar wäre. In der Frühphase der Filmtheorie dominierte die Mimikry die Vorstellungen vom guten, wahren Kino, das dank seiner photographischen Qualitäten der Entdeckung der äußeren Wirklichkeit verpflichtet war. Die Realismusdebatte infiltrierte die Kinotheorie, nicht unberechtigt, aber schon in der ersten Hälfte des 20. Jh. existierte neben dem Kino als neuer Kunstform das bunte Treiben des Jahrmarkts mit all seinen Freaks und technischen Innovationen, ein buntes Treiben, das die Kinogänger in eine Realität jenseits der mimetischen Konzepte mitnahm. Mit André Bazin erreichte die Errettung der Filmkunst ihren theoretischen Höhepunkt, wobei Bazin erkannte, dass die Natur des Films nichts war ohne Stil. Das Autorenkino war geboren.

Diese Idee schillerte in den zurückliegenden Dekaden der europäischen Filmkritik in den unterschiedlichsten Farben, denn nun wurden Autoren auch dort entdeckt, wo sie niemand vermutete: vom Schwarz-Weiß der Noir-Filme aus Hollywood bis hin zu der Entdeckung der versteckten Qualitäten von B-Picture-Western à la Budd Boetticher adelte die Filmkritik in den 60er und 70er Jahren neben dem neuen Kino der „Nouvelle Vague“ vor allen Dingen Studio-Routiniers, die allesamt erst ‚entdeckt’ werden mussten.
Blockbuster wurden selten in den Adelsstand erhoben.Ganz nebenbei: dies geschah zu recht, denn sonst wären Regisseure wie Hitchcock, der in den USA in seinen besten Jahren vorrangig als TV-Clown goutiert wurde, und John Ford wohl kaum als das gesehen worden, was sie waren: bahnbrechende Stilisten, die die Grammatik des Kinos weiterentwickelten. Dennoch bewahrte sich die Filmkritik ihre Aversionen: ich erinnere mich daran, dass noch bis in die 90er Jahre Steven Spielberg nicht als ernsthafter Filmemacher akzeptiert wurde. Wer den Weißen Hai gesehen hat, konnte das Reich der Sonne nicht mehr wahrnehmen. Das färbt bis heute ab.
Vor diesem Hintergrund, der nie losgelöst von einer inhaltlich und formal geschulten Kinobildung zu erfahren ist, können Filme, die weltweit erfolgreich in die öffentliche Wahrnehmung eindringen, von der Kritik häufig nur als Atavismus rezipiert werden. Und so entstanden hermetische Deutungsräume für Kenner, die dem gemeinen Kinofußvolk verschlossen blieben. Was Millionen bewegt, und das sei als nicht ganz ironiefreie These einmal an dieser Stelle gewagt, kann seither nicht gut sein, denn gut ist nur, was explizites Kennertum durch die Entschlüsselung verborgener Codices ans Licht befördert. Ganz nebenbei: dieser Haltung ist es zu verdanken, dass Genres wie zum Beispiel das Melodram in ihrer literarischen, soziologischen und ästhetischen Qualität erst richtig wahrgenommen werden konnten.
Dieser Trend nahm allerdings gelegentlich paradox anmutende Züge an. Die in den 60er und 70er Jahren beginnende Zersetzung der klassischen Genres durch billige und zynische Trashfilme provozierte bei den Konservativen zunächst Ekel, aber auch hier dauerte es nicht lange, bis die Avantgarde der Kritikergilde in den billig heruntergekurbelten Filmen Spektakuläres wie beispielsweise eine 'semiotische Dekonstuktion des Vertrauten' entdeckte (man denke nur an die Filmseminare über den Italo-Western). Dies hat sich nicht geändert und nur aus dieser Tradition kann man ableiten, warum ein Quentin Tarantino Edel-Trash produziert und mit "Inglorious Basterds" einen genialen Treffer landete, der -wie konnte es auch anders sein- die Kritik in zwei militante Lager spaltete.
Mir ist entgangen, dass dem Blockbuster ähnliche Aufmerksamkeit widerfahren ist. Blockbuster zersetzen nicht, sie dekonstruieren auch nicht, sie scheinen vielmehr auf der Suche nach einem gemeinsamen Nenner zu sein, der dafür sorgt, dass "Harry Potter" in Indien und Usbekistan verstanden wird. Der Blockbuster stellt daher eher eine globale Kinokultur her. Was grenzenlos gesehen wird, sind nicht nur die Geschichten aus Hogwarts (3x in den Top Ten), sondern auch die "Pirates of the Caribean" (2x), "Star Wars" und "The Lord of the Rings". Der Blockbuster grenzt sich so ab vom Regionalen und von allem, was über Bildungstradion zu erwerben ist. Er trifft mitten ins Herz, erkennt Archaisches, ist stockkonservativ und innovativ zugleich, rettet im Gegensatz zum Melodram die Liebe vor dem Untergang, adelt Loyalität und Freudschaft und zeigt, was Menschen suchen: Realitätsflucht, Pracht und Glanz, alles unterfüttert mit soliden moralischen Vorstellungen. Georg Seeßlen bezeichnet das, was dabei rauskommt, als "virtuelle Weltgemeinde, ...ein Heer der leuchtenden Augen." So entstehen "'Heimat'-Bilder jenseits der konkreten Erfahrung oder ex negativo: Der Fluchtpunkt des Blockbuster-Films ist nicht die Utopie, sondern der magische Schnittpunkt aller möglichen kulturellen Codes. Er beantwortet Fragen wie: Wovor haben alle Menschen dieser Welt Angst? Was verbinden alle Menschen dieser Welt mit Glück oder Erfolg?" (Blockbuster - 20 Jahre Bildermaschine Hollywood, in: epd-Film, 2004).
Man sollte mit diesem Massenvotum respektvoll, aber nicht unkritisch umgehen. Man sollte erkennen, das der Blockbuster scheinbar in der Lage ist, Bedürfnisse zu befriedigen, die möglicherweise auch den hartleibigsten Almodóvar-Fan mitunter beschäftigen können. Und man sollte sich die Frage stellen, warum wir in der wirklichen Welt oft das zugrunderichten, was wir im Kinosaal tränen- und lustvoll herbeisehnen.

Globalisierung für Anfänger
Keine Frage: „Avatar“ ist auf den ersten Blick schlicht gestrickt. Die Figuren sind holzschnittartig, es gibt keine Psychologie: der Böse ist lustvoll böse wie ein schlecht erzogenes Kind, die Guten sind so eindimensional gut und heroisch, dass man sich fragt, woher sie denn ihren Mut beziehen. Nur der körperlich versehrte Held vertraut seine Erfahrungen lieber einem Video-Blog an als den Menschen, die ihn umgeben. Das macht ihn auf Anhieb vertraut und sympathisch.
Die Energiekrise auf der Erde hat im Jahr 2154 ihren wohl finalen Höhepunkt erreicht, aber dank einer energisch weiterentwickelten Raumfahrttechnologie hofft man, auf dem Trabanten Pandora, der um einen Gasgiganten nahe dem Zentralgestirn Alpha Centauri A kreist, den neuen Energieträger Unobtainium abzubauen. Um was es dabei geht, ist egal. Wir haben es expressis verbis mit einem McGuffin zu tun, der gut genug ist, um den irdischen Aliens kräftig einzuheizen. Denn auf Pandora gibt es die technikfreie Zivilisation der Na’vi, deren gigantischer Wohnbaum ausgerechnet auf einem der größten Vorkommen des McGuffin steht. Das stört, aber das Konsortium, das den Abbau vorantreiben will, muss sorgfältig zwischen den Bedürfnissen der irdischen Shareholder und einer effizienten Projektierung abwägen. Genozid an den Na’vi kommt (vorerst) wegen der schlechten Presse nicht in Frage, ein Handelsabkommen mit ihnen dürfte jedoch an der fehlenden Kompatibilität der Bedürfnisse scheitern.

„Wir haben nichts, was sie wollen“, wird später der Marine Jake Sully (Sam Worthington) feststellen, der trotz einer Querschnittslähmung an dem Avatar-Programm AVTR teilnehmen darf, das die Kontaktaufnahme mit den Na’vi vertiefen soll. Avatare sind künstliche Lebensformen aus menschlicher und Na’vi-DNA, die in ihrem Aussehen den Ureinwohnern fast völlig gleichen und von ihren in großen Tanks liegenden menschlichen Controllern per Signalübertragung gesteuert werden. Mehr noch: die Controller sind die Avatare, solange jedenfalls, wie die Verbindung steht.
AVTR ist der zivile Teil des Erschließungsprojektes, geleitet von der unvermeidlich friedliebenden Wissenschaftlerin Dr. Grace Augustine (Sigourney Weaver), deren Kulturisationsprojekte bei den Na’vi mehr oder weniger jämmerlich scheiterten. Wer sich also keine Jeans und alkoholfreie Cola andrehen lassen will und auf Missionierung jeglicher Art nicht anspricht, dem droht die militärische Unterwerfung, im Extremfall die Ausrottung, auf jeden Fall die Beseitigung zur Durchsetzung des ökonomischen Zwecks. Und hier warten bereits die Marines, angeführt von Colonel Miles Quaritch (Steven Lang), der den mehr als bereitwilligen Sully schon vor dessen erstem Einsatz als Undercover-Mann rekrutiert: Quaritch weiß genau, worum es geht, nicht um simples Plattmachen im Stile klassischer Eroberer, sondern um Unterwerfung durch Zerstörung der kulturellen Identität der Na’vi, durch Traumatisierung einer als primitiv verachteten Spezies. Sully soll die erforderlichen Insider-Informationen liefern.
Wir sehen sozusagen eine Einführung in die Techniken der Globalisierung.

Hat Cameron bei Wittgenstein nachgeschlagen?
Ich bin mir natürlich nicht klar darüber, ob Cameron ahnt, wie genial dieses Konzept ist. Es erinnert mich an das, was die Konquistadoren des 16. und 17. Jahrhunderts bei der der Eroberung der Neuen Welt erwartete: die sinnliche Wahrnehmung einer völlig andersartigen Kultur. Wie man mit solchen Fremderfahrungen umgeht, haben Historiker und Anthropologen wie Lévi-Strauss beschrieben: der Eroberer unterwirft die fremde Kultur sofort einer den Zwecken angepassten zynischen Beschreibungssprache. Das völlig Andere wird, wenn man es als Tier, Heide oder Kannibale titulieren kann, erst zum Mittel degradiert und damit sprachlich entwertet, dann kann man es vernichten.
Cameron zeigt dies in einer Szene, in der dem Projektleiter Parker Selfridge (Giovanni Ribisi) das eigentliche Geheimnis der Na`vi-Kultur erklärt wird: die Bäume auf Pandora sind durch ein geheimnisvolles Wurzelsystem neuronal verknüpft und bilden so die eigentliche, vermutlich hoch überlegene Intelligenzform des Trabanten. „Was habt ihr da draußen eigentlich geraucht?“, fragt Selfridge sichtlich amüsiert, als ihm das Phänomen erklärt wird. Der moderne Konquistador kann nicht sehen, was er aufgrund seiner projektiven Beschreibungssprache schon längst deklassiert hat: „Es sind nur Bäume!“ (man stelle sich vor, was ein unbelasteter Kinogänger dem genre-geschulten Cineasten entgegenschleudert: "Es sind nur Western!").

Sprachliche Beschreibung kann, so gesehen, der Abwehr von Komplexem dienen, ist auf der anderen Seite auch ein klassisches Herrschaftsmittel. Aus der Sicht des Erobereres werden die idiosynkratischen Elemente einer fremder Kultur bereits vor der ersten Begegnung einem ideologischen Anspruch unterworfen, der die ‚richtige’ Position der Fremdkultur bereithält, ihr mitteilt, wie sie zu sein hat, um so sie so auf eine als legitim erfahrene Weise in einen funktionalistischen Verwertungszusammenhang zu integrieren. Handelt es sich dabei um ein ökonomisches Ziel, so wird der wirtschaftliche Nutzen zur Ratio der eigenen wie der fremden Kultur erklärt. Gegenwehr erscheint so sinnlos, ja irrational. Die Besitztümer der Wilden gelten als herrschaftsloses Land.
Von Wittgenstein kann man dagegen erfahren, dass man die Fremdheit nur dann verstehen kann, wenn man an der Kultur der Anderen teilnimmt, ihre Sprache und ihre Sprachspiele erlernt, denn alles, was Bedeutung in der Sprache besitzt, kann nur durch ihre unmittelbare Anwendungspraxis erfahren werden. Und so sind, ob nun gewollt oder nicht, Camerons Avatare durch das Lernen der Na’vi-Sprache zur Aneignung eines Verstehens gezwungen, das sie unweigerlich kontaminiert. Und es passt gut in diesen Beschreibungsrahmen, dass die Na’vi beim Versuch, ihre Lebensweise zu erklären, erfolglos blieben, wenn sie auf kulturell kohärente Exemplare der menschlichen Spezies trafen. Der schlichte Marine Sully beschreibt sich dagegen als völlig „leer“ und nur so kann der simple Sully die Kultur der Na’vi nach dem Erlernen der Sprache und der Riten soweit verinnerlichen, dass er seine menschliche Vergangenheit über Bord wirft und sich den Fremden anschließen will. Hier findet, und das scheint ab Camerons Plot so spannend zu sein, ein Votum für das Regionale, das Spezifische, das Komplexe statt, was ja wie bereits erwähnt, eher nicht zu den Zielen eines Blockbusters gehört. Der findet sich aber wieder in der bitter-süße Liebesgeschichte zwischen Sully und der Na’vi-Frau Neytiri, die meine möglicherweise etwas weitschweifigen philosophischen Exkurse durchaus handfester vererdet.

In der Welt des Genrekinos ist es klar, wie alles weitergeht. Die Marines landen einen präventiven Schlag und zerbomben den heiligen Baum der Stimmen, Sully und auch die Wissenschaftler fallen als Kollaborateure in Ungnade. Quaritch drängt auf den finalen militärischen Schlag: Der Baum der Seelen soll zerstört werden und damit das intelligente Netzwerk, das von den Na’vi als Göttin Eywa verehrt wird. Erst als Sully den Toruk zähmt, das gefährlichste Flugwesen Pandoras, kann er das Vertrauen der Na’vi zurückgewinnen und sich gleichzeitig zum Anführer erheben.
Dass die militante Gegenwehr der Na’vi erst dann einigermaßen effektiv wird, als sich mit Sully ausgerechnet ein tumber Marine zum militärischen Führer aufschwingt, war in den Augen einiger Kritiker „rassistisch“. Wenn man die 3 D-Brille zurechtrückt, kann man es auch als anders sehen, denn zu dem Gegenschlag gehört auch die Fahnenflucht einer menschlichen Pilotin, die mitsamt ihres Kampfhubschraubers abdreht, den Bullshit nicht länger mitmachen will und sich den Eingeborenen anschließt. Durchaus ein amüsante Seitenhieb gegen den oft beschworenen militärisch-industriellen Komplex, dem es auch in Camerons Kino nicht gelingt, einen technologisch unterlegenen Gegner in die Knie zu zwingen.

Traumkino als Bewältigungsraum
„Wenn "Avatar" das Publikum an die Auslöschung der Indianer erinnert oder an unsere Regierung, die den Irak überfällt, nur um sich Energieressourcen zu sichern, ist das von mir so beabsichtigt“ (James Cameron).

Man muss sehr naiv sein, um in „Avatar“ nicht die Wurzeln zu erkennen: der Kampf um Pandora ist kinohistorisch eine in die ferne Zukunft verlängerte Sci-Fi-Variation von „Dances with Wolves“. Costner war sichtbar darum bemüht, die indianische Kultur angemessen authentisch darzustellen. Immerhin gelang ihm eine klare Distanzierung von einem lange verfälschten Kapitel der amerikanischen Geschichte.Dennoch geriet er an die Grenzen des Machbaren in einem Genre, das an der Kasse zu bestehen hat. Der Preis, den er zu zahlen hatte, war nämlich eine neue Mythologisierung, die trotz aller erkennbaren Bemühungen um Authentizität die Indianer als edle Wilde stilisierte (Konrad Licht: „Die Präsentation der Dakota in dem Film ‚Dances with wolves’ im Vergleich mit ethnologischen Quellen“, 2003).

Die Na'vi sind frei erfunden, edle Wilde sind sie allemal. Daraus eine Kritik ableiten zu wollen, scheint fragwürdig zu sein. Kino ist nicht der Ort, an dem es (immer) um historische Wahrheit geht. Natürlich kann es auch darum gehen, aber Kino ist mehr noch eine Traumlandschaft, in der die emotionale Verarbeitung von Erfahrungen weitaus bedeutender ist. Schon John Ford hat die komplexe Verzahnung von Objektivität, Geschichtsrevisionismus und neuen Mythen präzise erkannt. Einen Mythos zu dekonstruieren und einen neuen an dessen Stelle zu setzen, ist im Kino spätestens seit den 60er Jahren nichts Neues. Und die mythische Überhöhung einer Kultur, an deren Untergang man beteiligt war, macht den Film in einer Gesellschaft wie den USA, in der sowohl Demokratie als auch die rabiate Wahrung der eigenen ökonomischen Interessen zu starken Ambivalenzen führt, zu einem kollektiven Bewältigungsraum, in dem für Lüge und Wahrheit zeitgleich Platz ist.
Diesen teilweise antagonistischen Kräften kann sich auch „Avatar“ nicht entziehen, obwohl sich der Film nicht mit dem Ballast historischer Vorbilder herumschlagen muss. Cameron rekrutiert sein Sujet zunächst einmal aus den Kinomythen und man hat es nicht immer leicht, wenn man der teilweise hart an der Grenze zum Ethno-Kitsch befindlichen Geschichte etwas Nahrhaftes abgewinnen will. Denn mehr noch als die Dakota in „Dances with wolves“ sind die Na’vi die ‚wahren’ Indianer. Sie sollen nicht nur edle Wilde sein, sie sind es tatsächlich. Nicht nur, dass sie sich mit ihren Flugsauriern zu einer symbiotischen Einheit vernetzen, was ein wenig an einen biologischen USB-Stick erinnert, nein, sie haben auch mit ihrem Baum der Seelen eine direkte Datenleitung zu Gott – ein etwas haar-sträubender Mix aus PC-Technologie, Esoterik und gleichzeitig auch archaisch-anthropomorpher Naturwahrnehmung. Aber Pandora ist trotz einiger gefräßiger Monster ein unschuldiges Paradies - es muss um seiner selbst willen gerettet werden, denn wir sind in einem Film, in dem wir wie unschuldige Kinder von der Rettung der Natur träumen dürfen.
Nur ist es leider so, dass man aus diesem Blockbuster nicht unbeschadet herauskommt. Als mythische Traumwelt kann „Avatar“ die Auslöschung fremder Kulturen und die Zerstörung von Natur erneut als schändlich ins kollektive Bewusstsein eingraben und auch allegorisch den Brückenschlag zu aktuellen historischen Ereignissen herstellen. Aber gleichzeitig ist das Kino der Emotionen auch der Ort, der einer kollektiv erlebten Katharsis eine endlose Tatenlosigkeit folgen lässt. Ist die Absolution erteilt, geht’s weiter: Business as usual. Vielleicht ist dies zu kleinkariert und vielleicht unterschätzt man auch die Kraft des Melodrams, aber der Blockbuster ist trotz aller Beschwörungen eben auch ein Ort der Gegen-Aufklärung, in dem Gräben versöhnlich zugeschüttet werden, anstatt sie als Mahnmal weiter existieren zu lassen. Vielleicht wird "Avatar" in seiner millionenfachen Durchdringung der meinetwegen globan zu nennenden Kinoerfahrungen eine Traurigkeit über den Verlust dessen einbrennen, was uns jenseits des Kinosaals zu entgleiten droht. Aber in all den großen Emotionen schwingt daher auch etwas Resignatives, bedrohlich Weltfremdes mit.

„Avatar“ spaltet daher, weil er entweder etwas Wahres zur Lüge macht oder in der Lüge einen wahren Kern versteckt. Da tröstet es den Kritiker doch ein wenig, dass die Chinesen eher an die Macht des Kinos glauben und „Avatar“ konsequent zensiert haben: der Film darf nur noch in 3 D-Kinos laufen, in 2 D-Aufführungen erreichte er zu viele Menschen, die prompt einen subversiven Kern entdeckten. Sie erinnerten sich an die Massenvertreibungen, die immer dann fällig wurden, wenn traditionelle Wohnvierteln dem Erdboden gleichgemacht wurden, um Platz für Industrieanlagen oder moderne Verwaltungsgebäude zu machen. So weit ist es gekommen im Reich der Mitte: die Chinesen identifizieren sich mit Indianern, um die traumatisierende Zerstörung von Lebensräumen zu kompensieren (was übrigens auch Frank Schätzing in "Limit" ausführlich beschreibt). Chinesische Blogs wurden mit entsprechenden Deutungen überschwemmt. Das war der Partei dann doch zu viel des Guten und die Schere schnappte zu. Aber etwa Schönes hat es doch: man ist geneigt zu glauben, dass Kino etwas bewirkt - in seinen virtuellen Welten, zu denen auch das Internet zählt.

Der neue Raum
Natürlich ist „Avatar“ auch ein technologisches Event, das weltweit die historisch alles andere als neue 3 D-Technik in die Kinos und damit auch in den Hardware-Markt drücken soll. Kein Wunder, dass Global Player wie SONY bereits jetzt die ersten 3 D-Flachbildschirme bereitstellen.
Die ersten Experimente mit räumlichen 3 D-Verfahren hatten bereits die Brüder Lumière Ende des 19. Jh. gewagt, bevor 1927 Abel Gance in seinen Film „Napoléon“ 3 D-Sequenzen einfügte. Die Überwindung des zweidimensionalen Kinoraums durch innovative Verfahren verdankte sich allerdings nur selten rein technischem Interesse. In der Regel regierte die Filmindustrie auf ökonomische Krisen stets mit neuen Spielereien. Nun ist das Kino längst nicht in der Krise, aber mit „Avatar“ und einer Reihe dreidimensionaler Animationsfilme stellt es sich der Herausforderung durch die PC-Games, die schon längst den narrativen Kern von Camerons Films entdeckt haben: das Eintauchen in eine virtuelle Welt, in eine Matrix, die, wir wissen, durchaus reizvoller sein kann als die öde Realität. Nur das im Kino als Benefit die neue Räumlichkeit dazu gepackt wird.

Camerons Stab ist es zweifellos gelungen, ein visuell restlos überzeugendes Pandora zu erschaffen, in dem wunderbare Fabelwesen in einem Regenwald-Szenario leben, das bis ins letzte Detail für Staunen sorgt. Auch wenn die Puristen aufheulen: eine neue Welt so glaubwürdig zu erschaffen, das ist bislang nur Ridley Scott mit „Blade Runner“ gelungen. Und wenn sich die Na’vi in einer skurril zerklüfteten Bergwelt mit ihren Flugsauriern in atemberaubende Tiefen stürzen, dann kommt tatsächlich ein 3 D-Feeling auf, an das man sich erst noch gewöhnen muss.
Dennoch lässt der Film auch erkennen, dass so manches noch sehr zweidimensional ist und dass es besonderer Gags bedarf, um die neue Technologie wirkungsvoll zu präsentieren. Sei es ein Farnwedel, der in den Kinosaal schnellt, sei es eine lange Fahrt, die Objekte umkreist, so als gelte es zu beweisen, dass man sie auch wirklich von allen Seiten sehen kann.
Trotz zustimmender Begeisterung bin ich nicht restlos davon überzeugt, dass das Kino einen dreidimensionalen Raum benötigt, um seine Geschichten zu erzählen. Bereits Orson Welles’ „Citizen Kane“ hat gezeigt, wie man mit einer Inszenierung des tiefenscharf aufgenommen Raumes den zweidimensionalen filmischen Raum strukturiert. Eins scheint mir klar zu sein: es wird sich im 3 D-Kino auch eine neue Form der Montage entwickeln müssen, um den neuen Raum wirklich zu erobern. Der Bildschnitt wird sich entschleunigen müssen, ein Revival der Plansequenz könnte bevorstehen. "Avatar", der im Videomarkt überwiegend als 2 D-Film vermarktet werden wird, jongliert noch zwischen schnellen Schnittfolgen und langen Einstellungen, allerdings durchweg überzeugend. Einen Vorteil hat das neue Verfahren auf jeden Fall: die digitalen Projektion ist so scharf, dass man auch in vorderster Reihe jedes Detail haarklein erkennen kann.
Der Verfasser hat’s ausprobiert…

Noten: Melonie = 2,5, BigDoc = 2,5, Mr. Mendez = 3, Klawer = 3,5

Postscriptum: Die Kritik ist natürlich auch eine kleine Ehrenrettung des Blockbuster-Kinos, dem ab und zu eine Überraschung gelingt. Trotz Roland Emmerich. James Cameron wird mit einer familienfreundlichen Botschaft zumindest einige Herzen erreichen, die meisten Köpfe vielleicht nicht. Aber ganz ehrlich: mir ist der Film durchaus nahe gegangen. Vielleicht komme ich auch ohne eine Prise Edel-Kitsch nicht aus. Und "Avatar" ist mir als Box Office-Hit tausendmal lieber als die Blockbuster des deutschen Kinos. Und die heißen: "Der Förster vom Silberwald" (28 Mio. Zuschauer), "Sissi" (25 Mio.), "Grün ist die Heide" (19 Mio.), "Die Trapp-Familie" (18 Mio.) und "Winnetou 1" (18 Mio.). Vom "Schwarzwaldmädel" will ich erst gar nicht reden. Vielleicht braucht der eine oder andere Kritiker mal wieder eine Portion Hardcore-Kitsch, um sich neu zu verorten.