Freitag, 23. Mai 2014

X-Men: Zukunft ist Vergangenheit

Die X-Men sind wieder zurück. Mitten im Hype um die Avengers drohte das andere Vorzeigeprodukt des Comicverlages Marvel Enterprises etwas in Vergessenheit zu geraten. Zum Glück muss man sich keine Sorgen machen: „X-Men: Days of Future Past“ ist ein intelligenter und im wahrsten Sinne des Wortes schlagfertiger Blockbuster geworden. Dazu waren zwei Tricks nötig.

2023: die nahe Zukunft ist ungemütlich. Nicht nur für Mutanten. Gejagt von riesigen Kampfrobotern, den Sentinels, werden sie gnadenlos dezimiert. Die endlosen Kämpfe haben aus der Erde einen Ort der Zerstörung gemacht und der finale Schlag gegen die Mutanten und die X-Men steht kurz bevor.
Entwickelt wurden die Sentinels von dem fiesen Wissenschaftler Bolivar Trask (Peter Dinklage etwas eindimensionaler als in „Game of Thrones“) bereits im Jahre 1973. Trask wurde aber im gleichen Jahr von Raven/Mystique (Jennifer Lawrence) erschossen, die dabei in die Hände der Regierung fiel. Dank ihres Genmaterials konnten die Behörden nach Trasks Tod die Sentinels zu extrem anpassungsfähigen und beinahe unzerstörbaren Monstermaschinen weiterentwickeln. 
In der Zukunft beschließen die letzten überlebenden X-Men um Charles Xavier (Patrick Stewart), Wolverine (Hugh Jackman) und Storm (Halle Berry), diese fatale Vergangenheit zu korrigieren: die Liquidierung von Bolivar Trask darf nicht geschehen, Mystique darf nicht gefangen genommen werden. Mithilfe von Kitty Pryde/Shadowcat (Ellen Page) wird das Bewusstsein Wolverines 50 Jahre zurück in die Vergangenheit und in den Körper seine jüngeren Alter Ego geschickt, um alles umzuschreiben. Und natürlich geht dies nicht ganz ohne die Hilfe von Magneto (Michael Fassbender/Ian McKellen). Der aber sitzt wegen des Mordes an John F. Kennedy in einem ausbruchsicheren Hochsicherheitsgefängnis. 

Egal, was passiert: Wenn Wolverines Geist das Jahr 1973 verlässt, wird die alte Zeitlinie nicht mehr existieren!

X-Men-erprobtes Produktionsteam setzt alles auf Null

Nachdem Bryan Singer als Produzent der erfolgreichen Marvel-Serie mit „X-Men: First Class“ (2011) einen rundum gelungenen Relaunch verpasste, stand der 49-Jährige nun für „X-Men: Days of Future Past“ erneut als Produzent zu Verfügung, diesmal aber auch als Regisseur neben der Kamera. Zusammen mit Singer (Regie: X-Men, X-Men 2) war mit Simon Kinberg (X-Men: The Last Stand) und dem Erfolgsgespann Matthew Vaughn und Jane Goldman (X-Men: First Class) ein X-Men-erprobtes Autorenteam mit von der Partie. Das hat sich bezahlt gemacht.

Den ersten Trick des X-Men-Teams ist - nun ja, seien wir ehrlich – bei J.J. Abrams abgekupfert worden. Der hatte für sein erstes Prequel von Star Trek-TOS einfach eine alternative Zeitlinie etabliert, um den komplizierten Wechselbeziehungen der diversen Storylines, in denen Zeitreisen (leider) nun mal nicht selten vorgekommen sind, einen Riegel vorzuschieben. Abrams setzte alles auf Null und kann nun erzählen, was ihm in den Sinn kommt. „X-Men: Days of Future Past“ bedient sich des gleichen Kniffs und – Achtung! – alle Fans der X-Men müssen sich daran gewöhnen, dass das Meiste, was sie bislang gesehen haben, einfach nicht passiert ist.

Der zweite Trick: das Prequel „X-Men: First Class“ wurde mit der klassischen X-Men-Geschichte logisch verknüpft, was angesichts einiger neuer Figuren und der nicht ohne Denkarbeit zu leistenden Entschlüsselung der diversen Zeitsprünge sicher keine leichte Aufgabe war und den Zuschauer etwas fordern wird. Allerdings wurde mit diesem Plot dafür gesorgt, dass Michael Fassbender und James McAvoy nun noch stärker im Fokus stehen, während die alten X-Men bis auf Wolverine keine entscheidende Rolle mehr spielen. Dies hat trotz einiger narrativer Anschlussfehler weitgehend geklappt. So wird leider nicht ganz klar, wieso der seit „X-Men: First Class“ tote Charles Xavier plötzlich wieder in seiner alten Gestalt auftaucht und warum in früheren Filmen der klassischen X-Men-Storyline nichts von den Sentinels zu sehen gewesen ist.

Abgesehen von diesen Strickfehlern schreibt „X-Men: Days of Future Past“ fast nahtlos die Geschichte von „First Class“ weiter und vertieft die Auseinandersetzung zwischen dem jungen Charles Xavier (James McAvoy) und dem traumatisierten KZ-Überlebenden Erik Lehnsherr/Magneto. Während der ziemlich heruntergekommene Xavier nur dank einer von Dr. Hank McCoy (Beast) entwickelten Droge wieder gehen kann, aber dadurch seine besonderen Fähigkeiten eingebüßt hat, ist Magneto in der Zwischenzeit keineswegs zu einem Menschenfreund geworden. 
Nach wie vor ist der moralische Kern der X-Men ein allegorischer: Können die Menschen einen neuen Evolutionsschritt verkraften oder werden sie als Neandertaler den neuen Homo sapiens vernichten? Der desillusionierte, aber durchaus realistische Magneto hat da wenig Zweifel. So wie die Juden von den Nazis umgebracht wurden, werden die Mutanten ohne militanten Widerstand Ähnliches zu erwarten haben.
Und so findet ironischerweise die ewige Auseinandersetzung zwischen dem Misanthropen und dem idealistischen und an einer friedlicher Koexistenz orientierten Charles Xavier auch noch mitten in der Nixon-Ära statt, kurz vor dem Ende des Vietnamkriegs, in dem („Watchmen“ lässt grüßen) einige Mutanten erfolgreich für die amerikanischen Streitkräfte gekämpft haben.

Verblüffende Effekte, tolles Zeitkolorit

Dass ein Blockbuster einen Teil seines Mehrwerts über CGI herstellen muss, ist nichts Neues. Dass alles ziemlich überraschend und witzig sein kann, ist die eigentliche Überraschung im neuen X-Men-Film. Tatsächlich sorgen einige ziemlich gute Einfälle für Verblüffung. Genannt sei hier die besonders die Befreiung Magnetos aus dem unterirdischen Gefängnis, bei der Evan Peters als Pietro Maximoff aka Quicksilver einen kurzen, aber nachhaltigen Auftritt hat. Der stark an den jungen Malcolm McDowell erinnernde Peters spielt einen Mutanten, der sich mit mehrfacher Schallgeschwindigkeit bewegen kann (dass er auch so schnell denken kann, weiß man nur aus den Comics). Und so sammelt Quicksilver während einer wilden Schießerei mit aufreizender Lässigkeit die abgefeuerten Patronen ein, während für den Zuschauer die Echtzeit des Mutanten wie eingefrorene Zeit aussieht. Diese Mischung aus Super Slow Motion, Bullet Time- und Frozen Reality-Effekten ist ein echter Hingucker, der nur noch getoppt wird, als Magneto das riesige RFK Memorial Stadium aus den Angeln hebt und über dem Weißen Haus absetzt.
Wer etwas genauer hinschaut, wird auch die Settings und den gut gemachten Retro-Look der 1970er goutieren, zum Beispiel dann, wenn Wolverine in einem Wasserbett aufwacht oder kurze 8mm-Filmeinspieler zu sehen sind, mit denen zufällig anwesende Hobbyfilmer die beängstigenden Aktionen der kämpfenden Mutanten einfangen.

Das Spiel mit der Zeit

Das alles hat Charme und Witz und die Action ist in dem 3 D-Film, der die räumlichen Effekte dezent, aber wirkungsvoll präsentiert, wirklich State of the Art. „X-Men: Days of Future Past“ ist meilenweit von jenen zweitklassigen Comic-Verfilmungen entfernt, in denen platte Dialoge nur ein kurzes Zwischenspiel sind, bevor es wieder richtig rumst. 
Das liegt, und man sollte dies schon wissen, auch daran, dass das Autorenteam einem der besten Comics des legendären Chris Clarmont vertraut hat, nämlich der titelgebenden Geschichte „X-Men: Days of Future Past“ aus dem Jahre 1981. Der mittlerweile 64-jährige Autor hat von 1976-1991 die Serie Uncanny X-Men erschaffen und entwickelt, die eine der erfolgreichsten US-Comicserien wurde. Und das auch dank des raffinierten Feelings ihres Schöpfers für psychologische und gelegentlich auch politische Metaphern.

In den Comics ging es zeitweilig drunter und drüber. Kurzfristig war Claremont ausgestiegen, aber auch nach seiner Rückkehr wurden die Plots mit Realitätssprüngen, alternativen Universen, Zeitsprüngen, X-Men-Nebenserien und vielen neuen Figuren ziemlich undurchsichtig. Es ist den Machern des Kino-Ablegers positiv anzurechnen, dass sie das denkbare Tohuwabohu dieser Stilelemente in eine konsistente Geschichte überführt haben, in der ärgerliche Logikbrüche vermieden werden. Am Ende hat der X-Men-Film sogar einen versöhnenden Moment. Nach der Korrektur der Zeitlinie findet sich Wolverine in einer besseren Version der Welt wieder, die wir aus dem allerersten X-Men-Film kennen. Jane Grey wartet bereits.

Warten wir ab, ob es so friedlich bleibt. Wie immer gibt es auch in „X-Men: Days of Future Past“ am Ende des Abspanns eine kurze Szene, die den für 2016 angekündigten „X-Men: Apocalypse“ ankündigt. Der Film soll ein weiteres Sequel von „First Class“ werden und in den 1980ern spielen. Sollte dies aber auf der 1995 geschriebenen Episode „Age of Apocalypse“ basieren, dann werden wir wohl mit einer alternativen Realität konfrontiert, in der ein Mutant die Welt regiert. Ob das X-Men-Frachise auch diesen Zeitsprung schafft, bleibt abzuwarten.

X-Men: Days of Future Past (X-Men: Zukunft ist Vergangenheit) – USA 2014 – R.: Bryan Singer – Buch/Story: Simon Kinberg, Matthew Vaughn, Jane Goldman (basierend auf Days of Future Past von Chris Claremont) – D.: Hugh Jackman, James McAvoy, Michael Fassbender, Jennifer Lawrence, Peter Dinklage, Patrick Stewart, Ian McKellen, Evan Peters, Ellen Page, Halle Berry – Laufzeit: 131 Minuten – FSK: ab 12 Jahren.

Noten: BigDoc, Melonie = 2

Dienstag, 6. Mai 2014

Inside Llewyn Davis

Oscar Isaac spielt im neuen Film von Joel und Ethan Coen den Folk-Musiker Llewyn Davis. Llewyn ist gut und erfolglos. Und das in den USA, wo im Showbiz ‚gut’ und ‚erfolgreich’ beinahe ein Synonym sind. „Inside Llewyn Davis“ ist eine Hommage an die Folkmusik der 1960er, aber mehr noch an die vergessenen und gescheiterten Künstlergenies, die es einfach nicht fertig bringen, ihr Talent in Geld zu verwandeln. Ein ruhiger und depressiver Film, in dem der schwarze Humor der Coens nur am Rande eine Rolle spielt.

„Ist das Arthouse?“, wurde im Filmclub gefragt. „Ja, das ist Arthouse“, lautet die Antwort, wenn man wenn weiß, dass der neue Film der Coen-Brothers in den USA zunächst nur in einer begrenzten Anzahl von Kinos aufgeführt wurde. Und ja, ein Film mit einem geschätzten Budget von 11 Mio. US-Dollar und einem Einspielergebnis von 13 Mio. $ (Stand: März 2014) ist dann wohl Arthouse, wenn die amerikanische Filmindustrie eigentlich nur noch Blockbustern und Remakes traut, die mit Budgets im dreistelligen Millionenbereich produziert werden. 
Dann auch noch dies: „Inside Llewyn Davis“ gewinnt den Großen Preis der Jury bei den Filmfestspielen in Cannes 2013, den zweitwichtigsten Preis, der in erster Linie Filme mit großer Innovationskraft adressiert. Und ja: „Inside Llewyn Davis“ wurde später 2x in Nebenkategorien für den Oscar 2014 nominiert (Beste Kamera, Bester Ton). Alles verdächtige Hinweise.

Mitten im Niemandsland

Und last but not least: Die Coens haben Film über einen Abschnitt der amerikanischen Musikgeschichte gemacht, der scheinbar banaler nicht sein kann, denn er spielt Anfang der 1960er Jahre in einem kulturellen Niemandsland. Die Beat Generation beginnt ihre Anziehungskraft zu verlieren, der phänomenale Durchbruch der Folkmusik steht bevor, aber die Coens widmen sich den mauen Jahren dazwischen. Jenen Jahren, in denen unglaublich begabte Folksänger und Folkgruppen im Greenwich Village auftraten, jenem New Yorker Künstlerviertel, in dem 1961 auch Bob Dylan landete und in dem die Mieten billig waren, aber so gut wie nichts mit der Musik zu verdienen war.
In dieser Zwischenwelt kurz vor dem Aufstieg von Dylan, Simon & Garfunkel oder Peter, Paul & Mary lebt Llewyn. 
"I don't see a lot of money here", wird ihm ein bekannter Impresario, gespielt von F. Murray Abraham, kalt ins Gesicht sagen. Und ihm dann mitteilen, dass er eigentlich ganz gut sei. Da gäbe es ein Trio, vielleicht wäre das etwas. Llewyn wird ablehnen und er wird wieder und wieder solche Fehler machen, denn – wir ahnen es – er hat gerade den Einstieg bei Peter, Paul & Mary versaut und möglicherweise einige Millionen verzockt.

New York, 1961, die erste Szene: Llewyn Davis singt in einem kleinen Club „Hang me, oh hang me“. Das tut er hingebungsvoll und der Applaus ist warm. Doch mit der Gage wird er nicht weit kommen. Vor dem Club wartet ein Mann auf ihn, der ihn zusammenschlägt. Das bleibt zunächst rätselhaft.
 Dann sehen wir den Künstler in seiner ganzen Misere. Llewyn Davis hat keine eigene Wohnung, er lebt von der Hand in den Mund und sucht sich bei Gönnern und Freunden eine Bleibe für die nächste Nacht. Dort landet er entweder auf der Couch oder auf dem blanken Boden. Und da ihm nichts gelingen will, läuft ihm auch immer wieder der Kater seiner Gastgeber weg – das Symbol einer Tristesse, die wie ein graues Tuch über diesem Mann hängt.
Zuvor war Llewyn Teil eines Duos, das eine reichlich erfolglose Platte veröffentlicht hat, sein Partner ist von einer Brücke gesprungen. Ob dies Llewyn bitter gemacht hat, erzählen uns die Coens nicht, sie zeigen uns aber in einem überwiegend episodisch gestrickten Film ohne klassische Plotstruktur einen Hochbegabten, der – offen gestanden – nicht nur ein Unsympath ist, sondern tatsächlich ein richtiges Arschloch. 

Das folksüchtige Ehepaar Gorfein, beim dem Llewyn gerade in der Upper West Side nächtigt, beleidigt er übel, weil er es als todernster Künstler hasst, dass bei seinen Liedern der Part seines toten Partners mitgesungen wird. Und seine Ex-Freundin Jean (Carey Mulligan), die nach einem erneuten Tête-à-Tête schwanger geworden ist, bleibt dem Musiker fremd. Zusammen mit ihrem Mann Jim (Justin Timberlake mit einer beachtlichen Performance) bildet sie ein Folkduo, für dessen massentaugliche Musik Llewyn nur Verachtung übrig hat. Dafür hat Jean ihm verschwiegen, dass sie bereits vor Jahren ein Kind von ihm bekommen hatte.

Im Finsterland der Coens

In diesem Struggle for Life zwischen Heimatlosigkeit und gelegentlichen Gigs erscheinen Llewyn die Katzen wie ein unerwünschtes Missing Link, das er nicht deuten kann. Er hat ständig mit ihnen zu tun. Nicht nur, dass er für die Gorfeins das falsche Tier eingefangen hat, er schleppt die heimatlose Katze, für die er eigentlich wenig Mitgefühl hegt, ständig mit sich herum.
Die Coens berichten davon, dass sie damit den Plot strukturieren wollten. Man sollte ihnen nicht glauben: die gefühlsneutrale Beziehung zwischen den beiden Einzelgängern spiegelt präzise das von Zufällen und Katastrophen geprägte Leben der Titelfigur präzise wider.

„Inside Llewyn Davis“ ist so gesehen beinahe ein ironischer Titel, denn in die Hauptfigur mag man sich weder einfühlen noch vermag man richtig zu verstehen, was sie im Innersten bewegt. Die Coens zeigen, und das ist eben ein häufiges Merkmal ihrer Filme, eher die Außenperspektive, weniger die psychologische Binnensicht. Aufmerksamkeit verdienen vielmehr die Situationen, in die Coens ihre Figuren hineinstellen, gerade wenn diese Obskures und Grenzwertiges bereithalten. Beinahe so, als wollten die Filmemacher wie in einem Laborversuch austesten, was ihr Personal gleich tun wird.

Llewyn wird dies auf einer merkwürdigen Reise nach Chicago erfahren. Die haben sich die Coens extra für John Goodman („Barton Fink“, „The Hudsucker Proxy“, „The Big Lebowski“, „O Brother, Where Art Thou?“) ausgedacht und es ist ein merkwürdiges Trio dabei zusammengekommen: Llewyn will – natürlich mit Katze - den Promoter Bud Grossman (F. Murray Abraham) treffen; was der reiche und heroinsüchtige Roland Turner (John Goodman) und sein Fahrer, der wortkarge Beat Poet Johnny Five (Garrett Hedlund übernahm in Walter Salles „On the Road“ treffenderweise die Rolle des Dean Moriarty aka Neal Cassady) eigentlich in Chicago wollen, ist nicht ganz klar. Aber die grandios von Kameramann Bruno Delbonnel gefilmte Sequenz, die beinahe ein kleines Roadmovie ist, führt mitten in das nächtliche Finsterland der Coens. 
Goodman gibt einen unwiderstehlich kratzbürstig-zynischen Jazzmusiker, für den Folk nur Kinderkram ist und der dunkle Andeutungen über seine voodoo-ähnlichen Fähigkeiten macht, mit denen er dafür sorgen könne, dass Llewyn alles misslänge, was er fortan versuchen würde.
Während der Fahrt wird dann eine andere Katze angefahren und später wird ein Cop Johnny Five verhaften, während der zugedröhnte Turner bewusstlos auf dem Rücksitz liegt. Llewyn steht orientierungslos auf der Straße und starrt ‚seine’ Katze an, die ihm aber nicht mehr folgen will. Dies sind die kleinen metaphysischen Momente, die man in Coen-Filmen so liebt: eine Katze trifft eine Entscheidung, Llewyn tut dies auch, aber wie so oft ist es die falsche.

Ein Pflegefall der Sprache

Natürlich ist „Inside Llewyn Davis“ auch eine Hommage an die Folkmusik – oder besser gesagt: an die Musik, die von den Coens sehr ausgiebig und mit vollständig ausgespielten Titeln zu Gehör gebracht wird - nicht am Beispiel ihrer Vorzeigeexemplare, sondern durch einen erfolglosen Einzelgänger. 
Für die Titelfigur ist Oscar Isaac eine nahezu perfekte Besetzung. Nicht nur, weil er die Lieder in dem Film selbst gesungen hat. Issac setzt virtuos die Misere des Künstlers zwischen Sein und Schein, Fehldeutungen und Selbstüberschätzung um. Sein Äußeres lässt auf einen feinfühligen introvertierten Künstler schließen, sein beleidigend ehrliches und gelegentlich zynisches Auftreten und seine beinahe laszive Depressivität konterkarieren dies. Wir haben es mit einem Mann zu tun, der die Sprache der Musik beherrscht, im harten Leben des Showbiz aber nicht das Marketing in eigener Sache versteht. Wer sich nicht verkaufen kann und keine Netzwerke schafft, so lautet die Lektion, wird auf der Strecke bleiben.
Llewyn Davis verpasst deshalb am Vorabend der Folk-Ära nahezu jede Chance, an der neuen Welle zu partizipieren, von der keiner etwas ahnen kann, und wir sehen auch einen Mann, der eigentlich nur mit seiner Musik kommunizieren kann.
Wenn Llewyn kurz vor Ende des Films für seinen Vater, der als Pflegefall mit versteinerter Miene in einem heruntergekommenen Heimzimmer sitzt, einen Traditional über die Fischer und das Meer singt, dann bewegt der Alte kurz den Kopf und blickt entrückt aus dem Fenster. Dann, wenn der Song zu Ende ist, wendet er den Blick wieder Llewyn zu und für einen Moment spürt man so etwas wie einen emotionalen Kontakt. Dann erstarrt der alte Mann erneut. Viel zu sagen haben sich beide ohnehin nichts. Dafür hat Llewyn – wieder einmal – einfühlsam gesungen. Das kann er.

Am Ende werden Llewyns Davis' Versuche zur Handelsmarine zurückzukehren beinahe grotesk scheitern. Wie alles andere auch. Er landet wieder im Greenwich Village und singt den gleichen Song wie Anfang. Doch dann trifft er draußen den mysteriösen Mann, der ihn zusammenschlägt. Wir wissen nun auch, warum: Llewyn hat die Frau des Unbekannten bei ihrem Auftritt öffentlich angepöbelt und die Prügel waren die Quittung. Aber weil Llewyn die Bar kurz verlassen hat, verpasst er den Auftritt eines jungen Sängers mit krächzender Stimme – es ist Bob Dylan. Die Coens haben uns am Anfang des Films also das Ende gezeigt. Diesen narrativen Kniff kann man wortwörtlich verstehen.

Ganz entfernt erinnert der neue Film der Coens an den Dokumentarfilm „Searching for Sugar Man“. Dort gibt es aber ein verspätetes Happy End für einen vergessenen Musiker, der angeblich besser als Bob Dylan war. Man erinnert sich auch an "O Brother Where Art Thou", in dem es auch um reichlich verkrachte Folkmusiker ging. Auch da gab es ein Happy End. Die stilsichere Tragikomödie "Inside Llewyn Davis" ist dagegen einer der wenigen Filme der Coens, in denen man für die Hauptfigur so gut wie nichts empfinden kann. Das gibt dem Ganzen eine gewisse Sperrigkeit und auch Unschlüssigkeit. Nicht jedem Coen-Fan wird dieser depressive Film gefallen.

Im Filmclub gab es neben einem "todlangweilig" eher verhaltene Zustimmung.

Noten: Melonie, Klawer, BigDoc = 2,5; Mr. Mendez = 4,5
 
„Inside Llewyn Davis“ ist seit April auf DVD und Bluray erhältlich.

Inside Llewyn Davis (USA 2013) - 105 Minuten – FSK: ab 6 Jahren - Regie und Buch: Joel und Ethan Coen. Kamera: Bruno Delbonnel. D.: Oscar Isaac, Carey Mulligan, John Goodman, Justin Timberlake.

Freitag, 2. Mai 2014

Sein letztes Rennen

Natürlich denkt man bei Dieter Hallervorden an „Didi“ – Klamauk inklusive. Das ist nicht schlimm, denn neue Erfahrungen durchkreuzen Erwartungen. In Kilian Riedhofs bemerkenswertem Film „Sein letztes Rennen“ werden allerdings sehr viele Erwartungen durchkreuzt. Hallervorden spielt einen greisen Ex-Sportler, der auch im Altenheim nicht vor dem Alter kapituliert. Das macht er richtig gut, sehr gut sogar und der Zuschauer bekommt einen streckenweise todtraurigen Film zu sehen, der auch deswegen so bewegt, weil er realistisch ist.

Paul Averhoff (Hallervorden) und seine Frau könnten eigentlich in Würde alt werden, wenn einige Schwächeanfälle Margots
(Tatja Seibt) nicht so alarmierend wären. Birgit (Heike Makatsch), die Tochter der Averhoffs, sieht sich überfordert und so landen die beiden Alten im Heim. Doch Paul sieht sich noch nicht in der Rolle, die von ihm erwartet wird: sich nämlich dem hohen Konformitätsdruck der Einrichtung zu beugen und bis zum seligen Ende in der Ergotherapie niedliche Kastanienmännchen zu basteln. Folglich packt der ehemalige Olympia-Sieger im Marathon mit nahezu 80 Jahren noch einmal die Laufschuhe aus, um für den Berliner Marathon zu trainieren. Dass sich die beinahe vergessene bundesdeutsche Sportlegende dem stupiden Heimalltag entziehen will, stößt allerdings auf wenig Gegenliebe. Averhoff wird zum Provokateur, und auch wenn der Vergleich heikel ist: er übt sich in „Heimkraftzersetzung“.

Realismus, große Gefühle und ein tolles Ensemble

Lilian Riedhof (Deutscher Fernsehpreis 2011 und Grimme-Preis 2012 für „Homevideo“) sucht in seinem ersten Kinofilm nach einer Balance zwischen Tragikomödie und Sportlerdrama, zwischen realistischem Anspruch und emotionalem Unterhaltungskino. Dies funktioniert zwar nicht durchgehend, aber überwiegend. Das Sujet ist ja nicht gerade einfach. Zum Gelingen trägt ein überragendes Ensemble bei, das nicht nur selbst reihenweise Filmpreise eingeheimst hat, sondern auch der gelegentlich doch auffallenden Typisierung einiger Figuren mit viel Spielwitz begegnet.
Da ist die glänzend spielende Tatja Seibt, die als Averhoffs Frau trotz tödlicher Krankheit ihre Kraftlosigkeit und Zweifel überwindet und wie in alten Zeiten ihren Paul in Form bringt. Heike Makatsch, die in Detlef Bucks „Männerpension“ (1996) frühen Ruhm erlangte, hat als Flugbegleiterin zwischen Berufsstress und Suche nach dem privaten Glück nur wenig Zeit für ihre Eltern und porträtiert überzeugend die Dilemmata einer Generation, der die Alten immer fremder werden. Katharina Lorenz spielt mit charmanter Grausamkeit eine Heimpädagogin, die mit ihrer fast pathologischen Todesfixierung alle in die Depression treibt, anstatt sie aufzumuntern. Aus der „Weissensee“-Crew stammen Katrin Saß als zynisch gewordene Oberschwester Rita und Jörg Hartmann mit einem superben Kurzauftritt als Neurologe. Während die Schwester die einfallslose Verwaltung der Alten gefährdet sieht, schleimt sich der Heim-Neurologe bei Averhoff ein, um ihm eine Diagnose unterzujubeln, die eine rigide Lösung ermöglicht.

Aber Averhoff ist weder dement noch leidet er an einer agitierten Depression. Dennoch wird er irgendwann fixiert und mit Psychopharmaka vollgepumpt in seinem Bett liegen. Und das hat einen Grund: „Sein letztes Rennen“ beginnt zwar mit gebremstem komödiantischen Touch, entwickelt sich aber immer mehr zu einer tiefschwarzen Tragödie. Paul Averhoff schlägt zwar in einem Proberennen den ruppig-netten Pfleger Tobias (ebenfalls hervorragend: Frederick Lau) und erobert sich damit die Sympathien der Heimbewohner und teilweise auch des Pflegepersonals, aber als der Widerstand der Heimleitung gegen den Außenseiter immer größer wird, fliehen die beiden Alten zu ihrer Tochter und Averhoff darf in der Talkshow „Beckmann“ (Reinhold Beckmann mit einem Cameo-Auftritt) kräftig über seine Heimerfahrungen abledern. Als Averhoffs Frau dann aber an dem letztendlich diagnostiziertem Hirntumor stirbt, muss er ins Heim zurück. Dort kollabiert er. Die Realität hat die Komödie eingeholt: der zornige mutige Alte wird ruhiggestellt.

Gnadenlose Infantilisierung

Das geht dann doch unter die Haut und auch wenn Riedhofs Film kein sozialkritisches Portrait des bundesdeutschen Pflegenotstands sein will, so können die teilweise sehr witzigen Gags des Films den tristen Grundton des Films nicht überspielen. Zum Glück.
Das liegt auch an Dieter Hallervorden, der mit seiner grandiosen Spielfreude alle Mitstreiter glatt an die Wand spielt. Ein alter Mann, der mit beinahe hilfloser Zärtlichkeit zu seiner alt gewordenen Jugendliebe steht und dennoch keine Kompromisse machen will. Ein Greis, der nicht nur wegen seiner sportlichen Erfolge Respekt verdient und doch zu einem Rädchen im Räderwerk eines Heims werden soll, das vermeintlich nur funktionieren kann, wenn alle täglich das Immergleiche tun und berechenbar bleiben.
„Immer weiter“, lautet das Credo der Läuferlegende. „Für immer stehen bleiben“, lautet die Antwort. Und wenn „Sein letztes Rennen“ etwas gelingt, das man nicht so schnell vergessen wird, dann ist dies die gnadenlose Infantilisierung der Alten und Kranken, die von denen forciert wird, die eigentlich das Gegenteil fördern sollten: nämlich den Mut zur Selbstständigkeit und die Bewahrung der Individualität.

Natürlich kennt Kilian Riedhof die Gesetze des Genres und am Ende zeigt er uns auch den pathetischen Sportfilm, den sich alle wohl gewünscht haben. Averhoff wird von seinem oberlehrerhaften Dauergegner Rudolf (Otto Mellies mit beinahe gruseliger Blockwart-Mentalität) und dem Pfleger Tobias befreit und an den Start gebracht. Er läuft seinen Marathon. Während Tausende erschöpft auf der Strecke bleiben, ist Held der Medien, bewältigt die über 42 km lange Strecke und läuft noch einmal in das Berliner Olympiastadion ein, die Stätte seines größten Erfolges - sein letztes Rennen.
Leider traute Kilian Riedhof dem stimmigen Ende nicht. Dass danach in einem überflüssigen Epilog alles gut wird, auch im Heim, und alle sich richtig lieb haben, das haben dieser tolle Film und sein Hauptdarsteller dann doch nicht verdient.

Noten: Melonie = 1,5; Mr. Mendez, BigDoc = 2, Klawer = 2,5

Sein letztes Rennen – Deutschland 2013 – Laufzeit: 114 Minuten – FSK: ab 6 Jahren – Regie, Buch: Kilian Riedhof – D.: Dieter Hallervorden, Tatja Seibt, Heike Makatsch, Katrin Saß, Frederick Lau, Katharina Lorenz, Otto Mellies, Jörg Hartmann, Reinhold Beckmann (als Reinhold Beckmann)


Der Film ist seit Anfang April 2014 auf DVD und Bluray erhältlich.