2023: die nahe Zukunft ist ungemütlich. Nicht nur für Mutanten. Gejagt von riesigen Kampfrobotern, den Sentinels, werden sie gnadenlos dezimiert. Die endlosen Kämpfe haben aus der Erde einen Ort der Zerstörung gemacht und der finale Schlag gegen die Mutanten und die X-Men steht kurz bevor.
Entwickelt wurden die Sentinels von dem fiesen Wissenschaftler Bolivar Trask (Peter Dinklage etwas eindimensionaler als in „Game of Thrones“) bereits im Jahre 1973. Trask wurde aber im gleichen Jahr von Raven/Mystique (Jennifer Lawrence) erschossen, die dabei in die Hände der Regierung fiel. Dank ihres Genmaterials konnten die Behörden nach Trasks Tod die Sentinels zu extrem anpassungsfähigen und beinahe unzerstörbaren Monstermaschinen weiterentwickeln. In der Zukunft beschließen die letzten überlebenden X-Men um Charles Xavier (Patrick Stewart), Wolverine (Hugh Jackman) und Storm (Halle Berry), diese fatale Vergangenheit zu korrigieren: die Liquidierung von Bolivar Trask darf nicht geschehen, Mystique darf nicht gefangen genommen werden. Mithilfe von Kitty Pryde/Shadowcat (Ellen Page) wird das Bewusstsein Wolverines 50 Jahre zurück in die Vergangenheit und in den Körper seine jüngeren Alter Ego geschickt, um alles umzuschreiben. Und natürlich geht dies nicht ganz ohne die Hilfe von Magneto (Michael Fassbender/Ian McKellen). Der aber sitzt wegen des Mordes an John F. Kennedy in einem ausbruchsicheren Hochsicherheitsgefängnis.
Egal, was passiert: Wenn Wolverines Geist das Jahr 1973 verlässt, wird die alte Zeitlinie nicht mehr existieren!
X-Men-erprobtes Produktionsteam setzt alles auf Null
Nachdem Bryan Singer als Produzent der erfolgreichen Marvel-Serie mit „X-Men: First Class“ (2011) einen rundum gelungenen Relaunch verpasste, stand der 49-Jährige nun für „X-Men: Days of Future Past“ erneut als Produzent zu Verfügung, diesmal aber auch als Regisseur neben der Kamera. Zusammen mit Singer (Regie: X-Men, X-Men 2) war mit Simon Kinberg (X-Men: The Last Stand) und dem Erfolgsgespann Matthew Vaughn und Jane Goldman (X-Men: First Class) ein X-Men-erprobtes Autorenteam mit von der Partie. Das hat sich bezahlt gemacht.
Den ersten Trick des X-Men-Teams ist - nun ja, seien wir ehrlich – bei J.J. Abrams abgekupfert worden. Der hatte für sein erstes Prequel von Star Trek-TOS einfach eine alternative Zeitlinie etabliert, um den komplizierten Wechselbeziehungen der diversen Storylines, in denen Zeitreisen (leider) nun mal nicht selten vorgekommen sind, einen Riegel vorzuschieben. Abrams setzte alles auf Null und kann nun erzählen, was ihm in den Sinn kommt. „X-Men: Days of Future Past“ bedient sich des gleichen Kniffs und – Achtung! – alle Fans der X-Men müssen sich daran gewöhnen, dass das Meiste, was sie bislang gesehen haben, einfach nicht passiert ist.
Der zweite Trick: das Prequel „X-Men: First Class“ wurde mit der klassischen X-Men-Geschichte logisch verknüpft, was angesichts einiger neuer Figuren und der nicht ohne Denkarbeit zu leistenden Entschlüsselung der diversen Zeitsprünge sicher keine leichte Aufgabe war und den Zuschauer etwas fordern wird. Allerdings wurde mit diesem Plot dafür gesorgt, dass Michael Fassbender und James McAvoy nun noch stärker im Fokus stehen, während die alten X-Men bis auf Wolverine keine entscheidende Rolle mehr spielen. Dies hat trotz einiger narrativer Anschlussfehler weitgehend geklappt. So wird leider nicht ganz klar, wieso der seit „X-Men: First Class“ tote Charles Xavier plötzlich wieder in seiner alten Gestalt auftaucht und warum in früheren Filmen der klassischen X-Men-Storyline nichts von den Sentinels zu sehen gewesen ist.
Abgesehen von diesen Strickfehlern schreibt „X-Men: Days of Future Past“ fast nahtlos die Geschichte von „First Class“ weiter und vertieft die Auseinandersetzung zwischen dem jungen Charles Xavier (James McAvoy) und dem traumatisierten KZ-Überlebenden Erik Lehnsherr/Magneto. Während der ziemlich heruntergekommene Xavier nur dank einer von Dr. Hank McCoy (Beast) entwickelten Droge wieder gehen kann, aber dadurch seine besonderen Fähigkeiten eingebüßt hat, ist Magneto in der Zwischenzeit keineswegs zu einem Menschenfreund geworden. Nach wie vor ist der moralische Kern der X-Men ein allegorischer: Können die Menschen einen neuen Evolutionsschritt verkraften oder werden sie als Neandertaler den neuen Homo sapiens vernichten? Der desillusionierte, aber durchaus realistische Magneto hat da wenig Zweifel. So wie die Juden von den Nazis umgebracht wurden, werden die Mutanten ohne militanten Widerstand Ähnliches zu erwarten haben.
Und so findet ironischerweise die ewige Auseinandersetzung zwischen dem Misanthropen und dem idealistischen und an einer friedlicher Koexistenz orientierten Charles Xavier auch noch mitten in der Nixon-Ära statt, kurz vor dem Ende des Vietnamkriegs, in dem („Watchmen“ lässt grüßen) einige Mutanten erfolgreich für die amerikanischen Streitkräfte gekämpft haben.
Verblüffende Effekte, tolles Zeitkolorit
Dass ein Blockbuster einen Teil seines Mehrwerts über CGI herstellen muss, ist nichts Neues. Dass alles ziemlich überraschend und witzig sein kann, ist die eigentliche Überraschung im neuen X-Men-Film. Tatsächlich sorgen einige ziemlich gute Einfälle für Verblüffung. Genannt sei hier die besonders die Befreiung Magnetos aus dem unterirdischen Gefängnis, bei der Evan Peters als Pietro Maximoff aka Quicksilver einen kurzen, aber nachhaltigen Auftritt hat. Der stark an den jungen Malcolm McDowell erinnernde Peters spielt einen Mutanten, der sich mit mehrfacher Schallgeschwindigkeit bewegen kann (dass er auch so schnell denken kann, weiß man nur aus den Comics). Und so sammelt Quicksilver während einer wilden Schießerei mit aufreizender Lässigkeit die abgefeuerten Patronen ein, während für den Zuschauer die Echtzeit des Mutanten wie eingefrorene Zeit aussieht. Diese Mischung aus Super Slow Motion, Bullet Time- und Frozen Reality-Effekten ist ein echter Hingucker, der nur noch getoppt wird, als Magneto das riesige RFK Memorial Stadium aus den Angeln hebt und über dem Weißen Haus absetzt.
Wer etwas genauer hinschaut, wird auch die Settings und den gut gemachten Retro-Look der 1970er goutieren, zum Beispiel dann, wenn Wolverine in einem Wasserbett aufwacht oder kurze 8mm-Filmeinspieler zu sehen sind, mit denen zufällig anwesende Hobbyfilmer die beängstigenden Aktionen der kämpfenden Mutanten einfangen.
Das Spiel mit der Zeit
Das alles hat Charme und Witz und die Action ist in dem 3 D-Film, der die räumlichen Effekte dezent, aber wirkungsvoll präsentiert, wirklich State of the Art. „X-Men: Days of Future Past“ ist meilenweit von jenen zweitklassigen Comic-Verfilmungen entfernt, in denen platte Dialoge nur ein kurzes Zwischenspiel sind, bevor es wieder richtig rumst. Das liegt, und man sollte dies schon wissen, auch daran, dass das Autorenteam einem der besten Comics des legendären Chris Clarmont vertraut hat, nämlich der titelgebenden Geschichte „X-Men: Days of Future Past“ aus dem Jahre 1981. Der mittlerweile 64-jährige Autor hat von 1976-1991 die Serie Uncanny X-Men erschaffen und entwickelt, die eine der erfolgreichsten US-Comicserien wurde. Und das auch dank des raffinierten Feelings ihres Schöpfers für psychologische und gelegentlich auch politische Metaphern.
In den Comics ging es zeitweilig drunter und drüber. Kurzfristig war Claremont ausgestiegen, aber auch nach seiner Rückkehr wurden die Plots mit Realitätssprüngen, alternativen Universen, Zeitsprüngen, X-Men-Nebenserien und vielen neuen Figuren ziemlich undurchsichtig. Es ist den Machern des Kino-Ablegers positiv anzurechnen, dass sie das denkbare Tohuwabohu dieser Stilelemente in eine konsistente Geschichte überführt haben, in der ärgerliche Logikbrüche vermieden werden. Am Ende hat der X-Men-Film sogar einen versöhnenden Moment. Nach der Korrektur der Zeitlinie findet sich Wolverine in einer besseren Version der Welt wieder, die wir aus dem allerersten X-Men-Film kennen. Jane Grey wartet bereits.
Warten wir ab, ob es so friedlich bleibt. Wie immer gibt es auch in „X-Men: Days of Future Past“ am Ende des Abspanns eine kurze Szene, die den für 2016 angekündigten „X-Men: Apocalypse“ ankündigt. Der Film soll ein weiteres Sequel von „First Class“ werden und in den 1980ern spielen. Sollte dies aber auf der 1995 geschriebenen Episode „Age of Apocalypse“ basieren, dann werden wir wohl mit einer alternativen Realität konfrontiert, in der ein Mutant die Welt regiert. Ob das X-Men-Frachise auch diesen Zeitsprung schafft, bleibt abzuwarten.
X-Men: Days of Future Past (X-Men: Zukunft ist Vergangenheit) – USA 2014 – R.: Bryan Singer – Buch/Story: Simon Kinberg, Matthew Vaughn, Jane Goldman (basierend auf Days of Future Past von Chris Claremont) – D.: Hugh Jackman, James McAvoy, Michael Fassbender, Jennifer Lawrence, Peter Dinklage, Patrick Stewart, Ian McKellen, Evan Peters, Ellen Page, Halle Berry – Laufzeit: 131 Minuten – FSK: ab 12 Jahren.
Noten: BigDoc, Melonie = 2