Freitag, 2. Mai 2014

Sein letztes Rennen

Natürlich denkt man bei Dieter Hallervorden an „Didi“ – Klamauk inklusive. Das ist nicht schlimm, denn neue Erfahrungen durchkreuzen Erwartungen. In Kilian Riedhofs bemerkenswertem Film „Sein letztes Rennen“ werden allerdings sehr viele Erwartungen durchkreuzt. Hallervorden spielt einen greisen Ex-Sportler, der auch im Altenheim nicht vor dem Alter kapituliert. Das macht er richtig gut, sehr gut sogar und der Zuschauer bekommt einen streckenweise todtraurigen Film zu sehen, der auch deswegen so bewegt, weil er realistisch ist.

Paul Averhoff (Hallervorden) und seine Frau könnten eigentlich in Würde alt werden, wenn einige Schwächeanfälle Margots
(Tatja Seibt) nicht so alarmierend wären. Birgit (Heike Makatsch), die Tochter der Averhoffs, sieht sich überfordert und so landen die beiden Alten im Heim. Doch Paul sieht sich noch nicht in der Rolle, die von ihm erwartet wird: sich nämlich dem hohen Konformitätsdruck der Einrichtung zu beugen und bis zum seligen Ende in der Ergotherapie niedliche Kastanienmännchen zu basteln. Folglich packt der ehemalige Olympia-Sieger im Marathon mit nahezu 80 Jahren noch einmal die Laufschuhe aus, um für den Berliner Marathon zu trainieren. Dass sich die beinahe vergessene bundesdeutsche Sportlegende dem stupiden Heimalltag entziehen will, stößt allerdings auf wenig Gegenliebe. Averhoff wird zum Provokateur, und auch wenn der Vergleich heikel ist: er übt sich in „Heimkraftzersetzung“.

Realismus, große Gefühle und ein tolles Ensemble

Lilian Riedhof (Deutscher Fernsehpreis 2011 und Grimme-Preis 2012 für „Homevideo“) sucht in seinem ersten Kinofilm nach einer Balance zwischen Tragikomödie und Sportlerdrama, zwischen realistischem Anspruch und emotionalem Unterhaltungskino. Dies funktioniert zwar nicht durchgehend, aber überwiegend. Das Sujet ist ja nicht gerade einfach. Zum Gelingen trägt ein überragendes Ensemble bei, das nicht nur selbst reihenweise Filmpreise eingeheimst hat, sondern auch der gelegentlich doch auffallenden Typisierung einiger Figuren mit viel Spielwitz begegnet.
Da ist die glänzend spielende Tatja Seibt, die als Averhoffs Frau trotz tödlicher Krankheit ihre Kraftlosigkeit und Zweifel überwindet und wie in alten Zeiten ihren Paul in Form bringt. Heike Makatsch, die in Detlef Bucks „Männerpension“ (1996) frühen Ruhm erlangte, hat als Flugbegleiterin zwischen Berufsstress und Suche nach dem privaten Glück nur wenig Zeit für ihre Eltern und porträtiert überzeugend die Dilemmata einer Generation, der die Alten immer fremder werden. Katharina Lorenz spielt mit charmanter Grausamkeit eine Heimpädagogin, die mit ihrer fast pathologischen Todesfixierung alle in die Depression treibt, anstatt sie aufzumuntern. Aus der „Weissensee“-Crew stammen Katrin Saß als zynisch gewordene Oberschwester Rita und Jörg Hartmann mit einem superben Kurzauftritt als Neurologe. Während die Schwester die einfallslose Verwaltung der Alten gefährdet sieht, schleimt sich der Heim-Neurologe bei Averhoff ein, um ihm eine Diagnose unterzujubeln, die eine rigide Lösung ermöglicht.

Aber Averhoff ist weder dement noch leidet er an einer agitierten Depression. Dennoch wird er irgendwann fixiert und mit Psychopharmaka vollgepumpt in seinem Bett liegen. Und das hat einen Grund: „Sein letztes Rennen“ beginnt zwar mit gebremstem komödiantischen Touch, entwickelt sich aber immer mehr zu einer tiefschwarzen Tragödie. Paul Averhoff schlägt zwar in einem Proberennen den ruppig-netten Pfleger Tobias (ebenfalls hervorragend: Frederick Lau) und erobert sich damit die Sympathien der Heimbewohner und teilweise auch des Pflegepersonals, aber als der Widerstand der Heimleitung gegen den Außenseiter immer größer wird, fliehen die beiden Alten zu ihrer Tochter und Averhoff darf in der Talkshow „Beckmann“ (Reinhold Beckmann mit einem Cameo-Auftritt) kräftig über seine Heimerfahrungen abledern. Als Averhoffs Frau dann aber an dem letztendlich diagnostiziertem Hirntumor stirbt, muss er ins Heim zurück. Dort kollabiert er. Die Realität hat die Komödie eingeholt: der zornige mutige Alte wird ruhiggestellt.

Gnadenlose Infantilisierung

Das geht dann doch unter die Haut und auch wenn Riedhofs Film kein sozialkritisches Portrait des bundesdeutschen Pflegenotstands sein will, so können die teilweise sehr witzigen Gags des Films den tristen Grundton des Films nicht überspielen. Zum Glück.
Das liegt auch an Dieter Hallervorden, der mit seiner grandiosen Spielfreude alle Mitstreiter glatt an die Wand spielt. Ein alter Mann, der mit beinahe hilfloser Zärtlichkeit zu seiner alt gewordenen Jugendliebe steht und dennoch keine Kompromisse machen will. Ein Greis, der nicht nur wegen seiner sportlichen Erfolge Respekt verdient und doch zu einem Rädchen im Räderwerk eines Heims werden soll, das vermeintlich nur funktionieren kann, wenn alle täglich das Immergleiche tun und berechenbar bleiben.
„Immer weiter“, lautet das Credo der Läuferlegende. „Für immer stehen bleiben“, lautet die Antwort. Und wenn „Sein letztes Rennen“ etwas gelingt, das man nicht so schnell vergessen wird, dann ist dies die gnadenlose Infantilisierung der Alten und Kranken, die von denen forciert wird, die eigentlich das Gegenteil fördern sollten: nämlich den Mut zur Selbstständigkeit und die Bewahrung der Individualität.

Natürlich kennt Kilian Riedhof die Gesetze des Genres und am Ende zeigt er uns auch den pathetischen Sportfilm, den sich alle wohl gewünscht haben. Averhoff wird von seinem oberlehrerhaften Dauergegner Rudolf (Otto Mellies mit beinahe gruseliger Blockwart-Mentalität) und dem Pfleger Tobias befreit und an den Start gebracht. Er läuft seinen Marathon. Während Tausende erschöpft auf der Strecke bleiben, ist Held der Medien, bewältigt die über 42 km lange Strecke und läuft noch einmal in das Berliner Olympiastadion ein, die Stätte seines größten Erfolges - sein letztes Rennen.
Leider traute Kilian Riedhof dem stimmigen Ende nicht. Dass danach in einem überflüssigen Epilog alles gut wird, auch im Heim, und alle sich richtig lieb haben, das haben dieser tolle Film und sein Hauptdarsteller dann doch nicht verdient.

Noten: Melonie = 1,5; Mr. Mendez, BigDoc = 2, Klawer = 2,5

Sein letztes Rennen – Deutschland 2013 – Laufzeit: 114 Minuten – FSK: ab 6 Jahren – Regie, Buch: Kilian Riedhof – D.: Dieter Hallervorden, Tatja Seibt, Heike Makatsch, Katrin Saß, Frederick Lau, Katharina Lorenz, Otto Mellies, Jörg Hartmann, Reinhold Beckmann (als Reinhold Beckmann)


Der Film ist seit Anfang April 2014 auf DVD und Bluray erhältlich.