Dienstag, 19. September 2017

Get out

Chris Washington heißt der junge farbige Fotograf aus New York, der mit seiner Freundin Rose eine Reise in das ruhige provinzielle Amerika antritt. Rose ist weiß, aber Sorgen müsse sich Chris nicht machen. Ihre Eltern seien liberal, beteuert Rose, immerhin hätten sie Barack Obama gewählt. Und tatsächlich scheinen alle auf dem Landsitz der wohlhabenden Familie Armitage ihrer afroamerikanischen Mitbürger regelrecht zu lieben. Das kann nicht gut gehen und dass Chris den gleichen Nachnamen hat wie der erste Präsident der USA, wird ihm auch nicht helfen. Und so endet Jordan Peeles Horrorfilm „Get out“ mit einem Blutbad.

Gut, dass „Get out“ gerade auf Bluray und DVD erschienen ist. Das passt
zu den aktuellen Ereignissen. Denn Schwarze haben es in den USA nicht leicht. Diese Formulierung ist – zugegeben – ein Euphemismus. Das reale Leben sieht so aus: Ein mutmaßlicher Drogendealer wird von einem Cop im Bundesstaat Missouri mit fünf Schüssen getötet, der Beamte wurde vor einigen Tagen in St. Louis freigesprochen, obwohl er die Exekution in einem Video angekündigt hat. Das Ergebnis: Unruhen und Chaos auf den Straßen.
Nur darf man von
„Get out“, der in den USA Anfang dieses Jahres einen wahren Triumphzug antrat, keine politische Aufklärung erwarten. Denn wer dringend „Get out“ benötigt hat, um sich endgültig Klarheit über den rassistischen Wahn zu verschaffen, der hat zuvor schon nicht richtig getickt. Oder konsequent die Zeitungslektüre verweigert. Nein, „Get out“ zielt nicht auf den Kopf, sondern auf die Eingeweide.

Nach den Eregnissen in Missouri wartet man als aufgeklärter Cineast wütend auf einen Film von Spike Lee, aber auch der würde vermutlich nichts ändern. Stattdessen sollte man sich nun Jordan Peeles Horrorfilm „Get out“ anschauen, einen Film, der davon erzählt, dass einige Exemplare der weißen Oberschicht von der genetischen Überlegenheit der schwarzen Rasse überzeugt sind, aber ihr ganz eigenen und ziemlich schauerlichen Schlussfolgerungen daraus ziehen.
Auf Anhieb sieht man dies nicht, man spürt es nur leise. Denn Peeles Narrativ arbeitet die Muster eines konventionellen Gruselfilms eher beschaulich, dann zunehmend originell ab, ehe er die immer bizarrer werdende Geschichte völlig umkippen lässt. Das Schlachtfest, das Peeles Hauptfigur am Ende anrichtet, wird Quentin Tarantino gefallen haben. Er hat seine Version in „Django“ abgeliefert. Auch der Body Horror eines David Croneberg lässt grüßen. Peeles gründlich zelebrierte Rache des schwarzen Mannes sieht sich in dieser Traditionskette durchaus fest verankert. „Tarantino is the guy who taught me with the most clarity that you don't have to be afraid of your influences in order to create something absolutely new," stellte er in einem Interview mit CBCNews fest.

Dabei zeigt die erste Szene in „Get out“ ziemlich klar, wohin die Reise führt. Ein Farbiger wird mitten in der Nacht überfallen, bewusstlos gewürgt und von einem Weißen in sein Auto verfrachtet. Dazu hört man den alten Song „Run, rabbit, run“ von den Comedians Flanagan & Allen, der 1939 eigentlich die deutsche Luftwaffe verspotten sollte, der es kurz nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges gelang, während eines Luftangriffs auf Großbritannien zwei harmlose Karnickel zu töten:
Run rabbit, run rabbit, run, run, run
Run rabbit, run rabbit, run, run, run
. Bang, bang, bang, bang goes the farmer's gun
. Run rabbit, run rabbit, run, run, run, run.

„Run, Chris, run“ ist in der nächsten halben Stunde die adäquate Umdeutung des Songtextes. Chris, grandios gespielt von Daniel Kaluuya („Kick-Ass 2“, „Sicario“) und Rose (Allison Williams, TV-Serie „Girls“) werden auf dem abgelegenen Landsitz der Armitages mehr als freundlich empfangen. Dass der neue Freund der Tochter schwarz ist: kein Problem. Rose’ Vater Dean (Bradley Whitford), ein Neurochirurg, führt Chris durchs Haus, natürlich mag er Schwarze, natürlich hat er Barack Obama gewählt. Natürlich ist man liberal. Komisch nur, dass das Personal der Gastgeber ausnahmslos schwarz ist und höflich und diskret, beinahe unterwürfig, im Hintergrund agiert.

Body Horror wie bei Davis Cronenberg

Der Horror kommt dann auf leisen Sohlen. Irritiert erfährt Chris von Rose’ Mutter Missy (Catherine Keener, u.a. „Being John Malkovic“ und „Show Me a Hero“), dass sie als Psychiaterin problemlos in der Lage sei, ihren Gast per Hypnose von seiner fatalen Nikotinabhängigkeit zu befreien. Chris lehnt dankend ab und wehrt sich auch gegen das übergriffige Verhalten, dass der plötzlich aufgetauchte und ziemlich betrunkene Sohn des Hauses, Jeremy (Caleb Landry Jones), an den Tag legt.
Der erste Plot Point zeigt endgültig, wohin die Reise führt. Chris steht mitten in der Nacht auf und beobachtet heimlich, wie das Dienstmädchen Georgina in ihrem Zimmer vor einem Spiegel steht und sich stolz begutachtet, während Gärtner Walter wie von einer Tarantel gestochen an Chris vorbeirennt und im weitläufigen Park des Anwesens verschwindet. Merkwürdig. Im Haus lässt sich Chris dann auf ein Gespräch mit seiner Gastgeberin ein, der es mühelos gelingt, Chris in ein schmerzhaftes Gespräch über den traumatisch erfahrenen Tod seiner Mutter zu verwickeln. Dabei rührt sie mit dem Löffel pausenlos ihren Tee um. Auch sehr merkwürdig. Am nächsten Morgen erinnert sich Chris nur noch an einen Alptraum. Zigaretten mag er nun allerdings nicht mehr.

Am nächsten Tag treffen weitere Gäste ein, um mit der Familie Armitage wie jedes Jahr ein traditionelles Gartenfest zu feiern. Fast alle Gäste sind alt. Chris wird vorgestellt und bewundert, dann betatscht. Unter den Gästen befindet sich auch ein Afroamerikaner, Logan King, aber der wirkt merkwürdig somnambul und reagiert aggressiv auf das Blitzlicht, als Chris ein Foto von ihm macht. Als Chris das Foto seinem Freund Rod (Lil Rel Howery) schickt, erkennt dieser einen vor kurzem spurlos verschwundenen jungen Mann aus der farbigen Community. Für Rod ist der Fall klar: Chris ist in die Hände von weißen Rassisten gefallen, die Farbige entführen, ihnen eine Gehirnwäsche verpassen und sie dann zu Sexsklaven machen: „Get out!“

Dass Rod sich verspekuliert hat, tendenziell aber auf der richtigen Spur ist, zeigt „Get out“ dann auf drastische Weise. Jordan Peele, der als Mitglied des Comedy-Duo Key & Peele berühmt wurde, entwickelt in seinem Horrorfilm eine saugute, abgefeimte Mischung aus bitterbösem Sarkasmus und gnadenlos überspitzter Gesellschaftssatire mit dezent komischen Momenten. Für das entsprechende comic relief sorgt Rod: Szenen, in denen sich „Get out“ Zeit für einige absurde Episoden nimmt, die beinahe den Erzählfluss ausbremsen.
Aber auch diese Brüche
haben in „Get out“ System. Jordan Peele verwurstet clever und erbarmungslos Topics aus Filmen von David Cronenberg und auch die alten Szenarien aus Universal-Klassikern wie „Frankenstein“ werden in neuem Look wiederbelebt. Schädel werden wie in Ridley Scotts „Hannibal“ (2001) aufgesägt, der Body Horror erinnert an überkandidelte Filme wie Cronenbergs „Shivers“ (1975) und „Rabid – Der brüllende Tod“ (1977), in denen ebenfalls groteske medizinische Experimente durchgeführt werden.

Der heilige Zorn des Gerechten

Wer „Get out“ aber vordergründig als politische Abrechnung mit dem weißen Rassismus interpretiert, läuft in eine Deutungsfalle. Aber nicht etwa, weil man grundsätzlich skeptisch sein sollte, was die unmittelbare Wirksamkeit des politisch reflektierenden Agens eines Regisseurs betrifft. Die Message wird in „Get out“ auf dem Silbertablett serviert. Und das wäre dann doch etwas zu einfach.
Dass die amerikanische Gesellschaft bis tief in ihre Poren rassistisch ist und es gleichzeitig nicht sein will, ist ein Antagonismus, der zwischen YouTube-Videos von tödlichen Übergriffen gegen Schwarze und den Verlautbarungen einer von Political Correctness getriebenen Gesellschaft angesiedelt ist, die ihrer Dämonen nicht Herr wird. Je entschlossener sie sich gegen das historisch tradierte Bild vom schwarzen Mann stemmt, desto eruptiver brechen immer wieder die Ungeheuerlichkeiten auf, die von Rodney King direkt zu dem aktuellen Urteil von St. Louis führen. Das alles ist bekannt und daher nicht neu. Wie gesagt: Wer
„Get out“ braucht, um den Rassismus zu verstehen, verdient eher Mitgefühl.
Jordan Peeles „Get out“ ist vielmehr ein raffinierte Genrefilm, der alles, was kritisch-rationaler Widerstand nicht zu leisten imstande ist, tief in die Eingeweide des Zuschauers verlagert. Das sind halt die Vorzüge der Genrefilme, die ohne feste Regeln nicht funktionieren können und die sie deshalb immer wieder lustvoll brechen.
Sicht- und erlebbar wird dies besonders durch den abrupten Wechsel der Erzählsprache in den finalen Szenen. War „Get out“ zuvor noch als sophisticated zu konsumieren, als stilistisch nuancierter Gruselschocker, so verwandelt Peele in den atemlosen Szenen am Ende seine zuvor ruhig erzählte Geschichte in einen Slasher-Film.
Es ist eine genüsslich zelebrierte Rachegeschichte, die der Zuschauer wahrscheinlich als wohltuende Erlösung empfinden wird. Allerdings nur dann, wenn er nicht einen ästhetischen Widerwillen angesichts der ruppigen Metzelei empfindet, mit der Chris den grauenhaften Traditionen, die auf dem noblen Landsitz seit Generationen gepflegt werden, ein blutiges Ende bereitet. Diese Rache des schwarzen Mannes wird ohne subtile Bilder und gegen alle Erwartungen mit rasender Geschwindigkeit vollzogen und zum Töten benutzt Chris alles, was ihm die Hände kommt. Die Übeltäter sind kaum noch zum Widerstand fähig, der Furor kommt über sie wie der heilige Zorn des Gerechten, der Richter und Henker gleichzeitig ist.

Mit diesem gewollten Stil- und Rhythmuswechsel stellt sich „Get out“ in die Tradition der Blaxploitation-Filme der 1970er Jahre, die in Sachen Sex und Gewalt nicht zimperlich waren und die von Quentin Tarantino in seinen Grindhouse-Movies hymnisch gefeiert wurden. Allerdings darf man nicht vergessen, dass die ‚Filme von Schwarzen für Schwarze’, wie etwa jene von Melvin Van Peebles, ziemlich schnell von der weißen Kinoindustrie domestiziert wurden. Black Movies wurden zum Geschäft und nicht wenige Filmwissenschaftler und Kritiker sehen in Blaxploitation heute nichts anderes als eine Ausbeutung des zunehmenden schwarzen Selbstbewusstseins in den 1970ern. Paradoxerweise trugen aber Film wie „Shaft“ dann aber doch dazu bei, eben dieses neue Selbstbewusstsein zu stärken.
 In diesem filmhistorischen Spannungsfeld steht auch Jordan Peeles außerordentlich sehenswerter Film, der eigentlich eine ganz einfache Botschaft hat: Rassismus ist zum Kotzen und das soll man gefälligst im Kinosessel spüren!

Noten: BigDoc, Klawer, Melonie = 2

Get out – USA 2017 – Buch und Regie: Jordan Peele – Kamera Toby Oliver – Laufzeit: 104 Minuten – D.: ·  Daniel Kaluuya, Allison Williams, Catherine Keener, Bradley Whitford, Caleb Landry Jones, Keith Stanfield, Lil Rel Howery – FSK: ab 16 Jahren