Freitag, 6. Oktober 2017

Blade Runner 2049

Man darf nicht in die Falle laufen. Natürlich wird man Denis Villeneuves Sequel „Blade Runner 2049“ mit Ridley Scotts Masterpiece vergleichen. „Blade Runner“, jedenfalls in der Version des Final Cut (2007), ist ein Standalone Art Piece und ein Kinomythos dazu. Über drei Jahrzehnte später trifft das Sequel auf eine andere Zeit und auch ein anderes Kino. Und auf andere Zuschauer. Zwischen beiden Filmen liegen zudem komplizierte transmediale Strategien. Zieht man dies ins Kalkül, schneidet „Blade Runner 2049“ ordentlich ab. Denis Villeneuve ist ein streckenweise schöner Film gelungen, auch wenn man im Kino nicht mehr mit großen Augen staunt.

Die Debatten haben bereits begonnen. „Blade Runner 2049 entpuppt sich nicht nur als einer der besten Science-Fiction-Filme des Jahres oder der Dekade, sondern als einer der besten Science-Fiction-Filme überhaupt“, schreibt der Redakteur von Filmstarts, und überhaupt sei Villeneuves Sequel der bessere Film. 
Offen gesagt: Diesen Enthusiasmus kann ich nicht nachvollziehen. Ich habe Probleme damit, Ridley Scotts komplexes Original (das - je nach Zählweise - in 3-5 verschiedenen Schnittversionen vorliegt) mit Villeneuves nicht weniger komplexen Interpretation des Themas abzugleichen, ohne „Blade Runner 2049“ ein zweites Mal gesehen zu haben. Trotzdem wird ein erster Versuch gewagt.


Natürlich wird man sich an Ridley Scotts Film erinnern müssen. Es ist ein Privileg älterer Herren, sich an einen 35 Jahre alten Film zu erinnern, der bereits in den ersten Minuten sprachlos machte. Hatte Fritz Lang mit „Metropolis“ die eigentlich undenkbare futuristische Architektur einer Metropole und dazu noch spektakuläre Massenszenen souverän auf die Leinwand gebracht, so gelang dies Ridley Scott, unterlegt mit der pathetisch-düsteren Musik von Vangelis, in den 1980er Jahren ebenfalls auf eine neue innovative Weise. Sie führte wie bei Fritz Lang das Denkbare ad absurdum und verwandelte das Unvorstellbare in Bilder. 
Um das zu verstehen, musste man „Blade Runner“ damals gesehen haben, heute funktioniert der Film immer noch, aber anders. Auch „Star Wars“ war auf seinen Weise ein Meilenstein, „Blade Runner“ war und ist auch, aber der Film war fremdartig und blieb es. Kein Wunder: Scott nahm nur wenig Rücksicht auf die Befindlichkeiten des Publikums. Aber man erkannte sein Credo: Science-Fiction soll Bilder zeigen, die man sich eben nicht so einfach vorstellen kann.

Das sieht nicht jeder so. Für den ZEIT-Kritiker Dirk Peitz, der einige schöne Sachen über Villeneuves Film geschrieben hat, ist Zukunft nur eine Vorstellung und „eine Projektion unserer Wahrnehmung der Gegenwart in eine kommende Zeit hinein.“
Dann darf man sich aber nicht wundern, dass man im Kino immer das Gleiche sieht, denn gerade das ist ja das Geschäftsmodell der Filmindustrie. Uns nämlich die Imaginationskraft abzunehmen und danach den an der Kasse erfolgreich getesteten Mainstream zu perpetuieren. Und ganz ehrlich: Nach Ridley Scotts „Blade Runner“ haben wir nicht nur dank „Arnie“ mit Terminatoren, Robotern, Androiden und KI leider überwiegend bedrohliche Erfahrungen gemacht – aber vielleicht sind die Ängste vor diesen Geschöpfen tatsächlich nur Projektionen unserer Angst vor dem Heute und natürlich auch vor dem Fremden.

Ridley Scott war da etwas phantasievoller und vielleicht macht gerade dies seinen Film so einzigartig. Und so tauchte man 1982 in „Blade Runner“ in eine Welt ein, in denen Fluggeräte zwischen den Skyscrapern kreuzten und die multimedialen Reklame-Animationen daran erinnerten, dass es „SONY“ auch in der Zukunft geben wird, während in den übervölkerten Straßen von L.A. neue urbane Dialekte gesprochen wurden. Die wurden übrigens von Edward James Olmos erfunden. Olmos spielt in Villeneuves Film in einem Kurzauftritt erneut die Rolle des Blade Runners „Gaff“. 

Und weil „Blade Runner“ auch ein Noir Film war, hatte der Film einen zynischen abgebrühten Kopfgeldjäger zum Helden, dessen Auftrag es war, Replikanten zu töten, die sich illegal auf der Erde aufhielten. Am Ende wusste er nicht einmal, ob er selbst einer ist (was Ridley Scott – Achtung: Spoiler – übrigens mit Nachdruck bejaht).

„Blade Runner“ floppte dann auch prompt bei den Previews. Der Film war zu kompliziert, überforderte die Zuschauer, war aus der Zeit gefallen. Und so verpasste man Ridley Scotts epochaler Dystopie einen Erklär-Onkel: Harrison Ford, der den Blade Runner Deckard verkörperte, musste im Voice-Over dem Publikum die Handlung erklären. In den nächsten 25 Jahren durfte man dann immer wieder neue Versionen des Films bewundern, ehe der Final Cut dann das zeigte, was dem Regisseur vorschwebte – natürlich ohne Voice-Over. Und auch heute noch wirkt der Film schön, abweisend und enigmatisch. Und total strange.


In Ridley Scotts Film waren die Replikanten noch ziemlich strange

„Blade Runner“ spielt im Jahr 2019. Wir sind zwei Jahre davon entfernt, aber auch unsere Realität hat sich einige neue, zuvor unvorstellbare Formen des Wahnsinns einfallen lassen, die den Menschen Angst einjagt, sie aber möglicherweise so abstumpfen lassen, dass sie den nächsten Terrorakt und das nächste Massensterben und die nächste Öko-Katastrophe irgendwie gelassener über sich ergehen lassen.

„Blade Runner“ erzählte nicht von den Ängsten, die wir heute haben, dafür aber von einer Klassengesellschaft, von Identität und deren Verlust, von gefakten Erinnerungen und auch von dem irritierenden Gefühl, irgendwann nicht mehr zu wissen, was man eigentlich ist. 
Natürlich hatte Ridyley Scott auch das moralische Dilemma im Auge, das entsteht, wenn man menschenähnliche Androiden erschafft, um sie die Drecksarbeit erledigen zu lassen. Zum Dank wurde die neue Sklavenrasse dafür mit befristeter Lebensdauer ausgestattet. Aber diese Replikanten wollten länger leben. Das war das Problem. Und als in „Blade Runner“ ihr Anführer Roy (Rutger Hauer) kurz vor seinem Tod davon erzählt, was er in seinem kurzen Leben gesehen hat, konnte man neidisch werden, denn man wusste, dass Menschen niemals dieses Privileg erhalten würden.

Dass für Roy das Sehen und das Sich-daran-Erinnern in seinen letzten Minuten eine so große Bedeutung bekommen, ist ein Schlüsselthema in „Blader Runner“. Denn etwas Grandioses wie das Tannhäuser Gate und die C-Beams gesehen zu haben und sich daran zu erinnern, ist ein Teil der eigenen Identität. Roys Erinnerungen waren echt. Doch welche Bedeutung erhält dies, wenn man künstlichen Wesen überwiegend kunstvoll designte Erinnerungen einpflanzt, Bilder, die nie real waren? Denis Villeneuve und sein Drehbuchteam greifen diese Frage erneut auf. Und dass
„Blade Runner 2049“ mit der Großaufnahme eines Auges beginnt, ist sicher kein Zufall.

Was die Replikanten in Scotts Film von ihren Nachfahren in „Blade Runner 2049“ aber unterscheidet, war ihre undurchdringliche Fremdheit. Ja, die Replikanten um Roy waren wirklich strange. Scott hatte sie nicht besonders menschenähnlich gemacht, vom Äußeren mal abgesehen. Das machte sie geheimnisvoll und damit authentisch. 

In Denis Villeneuves Sequel ist es vorbei damit. Im Jahr 2049 gibt es neue, voll und ganz sozial kompatible Replikanten, die auf keine dummen Ideen mehr kommen und auch nicht mehr besonders strange sind. Man könnte sie beinahe für Menschen halten und Ryan Gosling spielt KD6-3.7, abgekürzt „K“ - einen Officer des LAPD, dessen Aufgabe es ist – Replikanten zu jagen! Vorzugsweise jene mit unbeschränkter Lebensdauer. Einen Voight-Kampff-Test gibt es nicht mehr. K schießt nach kurzer kultivierter Konversation, erst danach sucht er im Augapfel des Toten nach der Seriennummer. 


Transmediales Storytelling

Warum man die alten Replikanten überhaupt noch jagt, während ihre Nachfolger erkennbar unbeliebt sind, aber als Paria in die Gesellschaft integriert wurden, das bleibt nebulös. Offenbar gibt es eine Untergrundorganisation mit renitenten Auslaufmodellen.
Doch was will man gegen die Replikanten eigentlich beschützen? Los Angeles ist 30 Jahre nach den Ereignissen in „Blade Runner“ eine verrottete Metropole geworden. Erkennbar hat es einen Atomkrieg gegeben, ein technischer Zwischenfall hat außerdem fast alle digitalen Daten gelöscht. L.A. liegt unter einer dichten Smogwolke. Andere Städte sind kaum mehr als riesige Schrotthalden. Da alle Ökosysteme vernichtet wurden, ernähren sich die Menschen von Proteinwürmer, die in riesigen Gewächshäusern gezüchtet werden.

Um nachvollziehen zu können, was der Film knapp andeutet, muss man allerdings die drei kurzen und für das Web produzierten Filme kennen, die davon erzählen, was in den Jahren zwischen 2019 und 2049 geschah. Denis Villeneuve hat diese Webisodes nachdrücklich authentifiziert – sie sind damit offizielle Prequels von „Blade Runner 2049“. Luke Scott, Regisseur von „2036: Nexus Dawn“ hat die Bedeutung dieser transmedialen Strategien erklärt: „It’s sort of cheating. It fills in the gaps where the narrator doesn’t have to worry about the genesis of the narrative. You could rely possibly on these short films and other assets that roll a few weeks before the main event to do that part of the storytelling for the director.”

Blade Runner: Blackout 2022

In dem Anime-Kurzfilm von Shinichirō Watanabe werden die Replikanten von einem wütenden Mob gejagt und getötet (Human Surpremacy). Dank einer großen Registrierungs-Datenbank können sie mühelos identifiziert werden. Um die Verfolgung zu beenden, planen fünf Replikanten einen Anschlag, bei dem ein EMP (Elektro-Magnetischer Impuls) global alle Daten vernichten soll. Zu ihnen gehören die Nexus 8-Modelle Cygnus und Trixie, aber auch Sapper Morton, der in der Eingangssequenz von Villeneuves Film auftauchen wird. In einem Flashback erzählt Cygnus der jungen Trixie, dass die von Menschen ausgelösten Kriege von Replikanten ausgetragen wurden. Sie mussten als „Toy Soldiers“ ihre Artgenossen auslöschen: „We may live longer as old Nexus. But Life doesn’t mean living!“ 
Während der Kämpfe wird Trixie getötet, aber der Anschlag gelingt. Die Produktion von Replikanten wird verboten, es ist das Ende der Tyrell Corporation. 10 Jahre später wird The Wallace Corp. mit der Prodiktion einer neuen Generation von Replikanten beginnen.
Laufzeit: ca. 15 Minuten. Buch und Regie: Shinichirō Watanabe. Character Design & Animation Director: Shukou Murase.

2036: Nexus Dawn

“Nexus Dawn” ist der erste offizielle Kurzfilm, den Denis Villeneuve produzieren ließ, um die Ereignisse zwischen 2019 und 2049 zu schildern. Die Regie führte Ridley Scotts Sohn Luke. Jared Leto tritt in “Nexus Dawn” in seiner Rolle als blinder CEO Niander Wallace auf. Einem Ausschuss der sogenannten „Lawmaker“ erklärt Wallace die Notwendigkeit, die Ernährung der Weltbevölkerung durch Proteinwürmer sicherzustellen. In den Produktionsanlagen soll eine neue Generation von Replikanten arbeiten, deren Lebensdauer sich nach den Wünschen und Zahlungsmöglichkeiten der Kunden richten soll. Die unbedingte Loyalität der Androiden demonstriert Wallace ziemlich drastisch: vor den Augen der Lawmaker bringt sich Wallace’ Assistent nach einem Befehl des ‚Meisters’ um: „This is an angel – and I made him! (…) They will never run, they will simply obey“, erklärt Wallace die Vorzüge der neuen Modellreihe. „Human action resounds in the heavens, the bell echoes above, what we decide here today will polish or crack the Firmament. What shall it be?”
Interessant an „2036: Nexus Dawn“ ist der subkulturelle Kontext, den das größenwahnsinnige ‚Zerbrechen des Firmaments’ im Web ausgelöst hat. Verschwörungstheoretiker, Anhänger der Flat Earth-Theorie (der Glaube, dass die Erde flach ist), religiöse Fundamentalisten und Transhumanisten haben sich auf den Film gestürzt und versucht, ihn auf ihre Weise zu interpretieren.
Laufzeit: ca. 6 Minuten. Regie: Luke Scott. Buch: Hampton Fancher, Michael Green. Release Date: 30. August 2017. Darsteller: Benedict Wong, Jared Leto, Set Sjöstrand u.a.

2048: Nowhere to Run

In dem sechsminütigen Kurzfilm spielt der als Wrestler bekannt gewordene Dave Bautista den Replikanten Sapper Morton, der in den chaotischen Straßen von Los Angeles das kleine Mädchen Ella aufsucht, mit dem er befreundet ist. Er gibt ihr das Buch „The Power and the Glory“ und verabschiedet sich, sieht aber, dass Ella und ihre Mutter brutal überfallen werden. Sapper greift ein und tötet einige der Angreifer. Ein Spitzel, der Sappers übermenschliche Kräfte richtig einschätzt, verrät ihn an das LAPD. Dies löst die Ereignisse am Anfang von „Blade Runner 2049“ aus.

Bei dem Buch handelt es sich um einen in Mexico spielenden Roman von Graham Greene, in dem die Geschichte eines katholischen Priesters erzählt wird. Der namenlos (!) bleibenden Seelsorger, der sich für die armen Bauern einsetzt und von einem anti-katholischen Regime verfolgt wird, ist alles andere als ein Held – er ist alkoholabhängig und hat sich auch über andere kirchliche Verbote hinweggesetzt. Die Analogie mit dem empathiefähigen Replikanten ist unübersehbar.
Laufzeit: ca. 6 Minuten. Regie: Luke Scott. Buch: Hampton Fancher, Michael Green. Release Date: 30. September 2017. Darsteller: David Bautista, Gaia Ottman u.a.

 

Das Geheimnis des Holzpferdes

Besonders „2048: Nowhere to Run“ erinnert am stärksten an die Straßenszenen in „Blade Runner“. L.A. befindet sich 2048 allerdings nicht am Rand des zivilisatorischen Kollapses, sondern ist bereits ein Ort, in dem nur noch Anarchie und Gewalt herrschen. Für Villeneuves Sequel ist Luke Scotts Short Movie daher am wichtigsten. Auch weil aus den bis zuletzt fremdartigen Replikanten, die uns in Ridley Scotts Film begegnen, endgültig empfindungsfähige Wesen geworden sind, denen Gerechtigkeit nicht egal ist.
Bereits in Scotts „Blade Runner“ wird dieses Motiv angedeutet, als Roy (Rutger Hauer) aus William Blakes „America: A Prophecy“ zitiert und die Replikanten mit Blakes Engeln vergleicht. Diese stehen jedoch nicht in einem biblischen Kontext, sondern sind in Blakes Dichtung Kämpfer, die die Menschen aus der Unterdrückung befreien. Niander Wallace deutet das Engel-Motiv in „Nexus Dawn“ dann auf seine Weise zynisch um.

Auch in diesem Kontext ist K ist kein Wiedergänger des coolen Rick Deckard (Harrison Ford), der seiner Beschäftigung eher angeekelt nachging. Ein Blake’scher Engel wird K nicht, aber er erinnert an Kafkas gleichnamige Hauptfigur in
Das Schloss“ – einer Figur, die sich ebenfalls in einer labyrinthischen Realität verirrt, in der sie sich vergeblich die Legitimation ihrer Existenz erkämpfen will.
Gosling spielt den neuen Androidentyp Nexus 9 mit meist unbewegter Mimik als höflichen Killer, der in einem schäbigen Wohnviertel sein Apartment mit einem Hologramm teilt. Joi (Ana de Armas) ist K’s virtuelle Lebensgefährtin und K’s Ambitionen übersteigen auch dann nicht die Erwartungen eines kleinbürgerlichen Lebens, als er Joi dank eines Emitters eine quasi-materielle Existenz mit neuen taktilen Erfahrungen ermöglicht. Eine nette Reminiszenz an den Holodoc in „Star Trek: Vovager“.


„Blade Runner 2049“ rutscht nach dem Cold Open schnell in einen Crime Plot. K findet auf dem Grundstück von Sapper Morton unter einem alten Baum einen vergrabenen Behälter, in dem sich menschliche Knochen befinden. Eine forensische Analyse ergibt, dass es sich um die Überreste einer Frau handelt, die bei der Geburt ihres Kindes starb. Gleichzeitig wird eine Seriennummer entdeckt, die das Geheimnis der Toten offenbart: es handelte sich um eine experimentelle Replikantin mit biologischen Bauteilen, fähig zur Empfängnis und zur Schwangerschaft. 

K’s Vorgesetzte Lieutenant Joshi (Robin Wright: „House of Cards“) erkennt die Dimensionen: fortpflanzungsfähige Replikanten wären das Ende der Menschheit. K soll unverzüglich alle Beweise vernichten. 
Doch es scheint zu spät zu sein. K sucht Niander Wallace auf und erfährt, dass es sich bei den Knochen um die Überreste von Rachael (Sean Young in „Blade Runner“) handelt. Offenbar war sie das erste und letzte Modell, dass die Tyrell Corp. mit reproduktionsfähigen Organen ausgestattet hat. Und möglicherweise war Rick Deckard der Vater des Kindes. 

Wallace, der nun auch dieses Geheimnis kennt, will den biologischen Prototyp in seinen Besitz bringen und setzt seine Assistentin Luv (Sylvia Hoeks) auf K an. K brennt inzwischen Sapper Mortons Farm nieder, um weitere Beweise zu zerstören. Allerdings entdeckt er zufällig an dem alten Baum eine geschnitzte Gravur, ein Datum, das ihm nur zu gut bekannt ist. Es ist das Datum, das sich auf einem Spielzeug aus seiner Kinderzeit befand, einem kleinen Holzpferdchen. Allerdings war K davon überzeugt, dass diese Episode aus seiner Kindheit lediglich eine implantierte Erinnerung ist. Als er den Ort seiner Erinnerung aufsucht, entdeckt er das Spielzeug in seinem alten Versteck. K weiß nun, dass seine Erinnerung authentisch ist.
 Als K dann das Datum in den wenigen erhalten gebliebenen Datenbanken untersucht, kann er es mit zwei genetisch identischen Kindern in Verbindung bringen, die an diesem Tag geboren wurden. Nur der Junge überlebte. K ahnt, dass er Rachaels Sohn sein könnte. Er weiß, dass er dadurch zum Messias der im Untergrund überlebenden Nexus-Replikanten werden kann, für die Menschen aber zu einer tödlichen Bedrohung geworden ist.


Das Original wird nicht getoppt

Puristen werden sich darüber ärgern, dass Denis Villeneuves Sequel mit rückwirkender Deutungshoheit die Geschichte von Ridley Scotts Film umschreibt. Das Love Interest zwischen Deckard und Rachael: eine Manipulation. Rachaels Liebe: nur ein Teil ihres Programms. Deckard: ein getäuschter Lover. 

Eine gewisse Continuity zwischen Original und Sequel ist zweifellos notwendig. Und die Macher können ihre Plotstruktur durchaus rechtfertigen. Immerhin hat Ridley Scott an Villeneuves Sequel als Executive Producer mitgewirkt und mit Hampton Fancher war auch der Co-Scriptwriter von „Blade Runner“, „2036: Nexus Dawn“ und „2048: Nowhere to Run“ mit an Bord.

Dennoch fällt es nicht leicht, der Geschichte emotional zu folgen. Das Einfügen neuer Informationen, die eine alte Geschichte radikal umdeuten, ist immer etwas Gewaltsames. Dass man eine gewisse Distanz zu Vileneuves Film entwickelt, liegt aber auch den Rollenprofilen. Robin Wright als LAPD-Scharfmacherin kann ihre knapp bemessene Nebenrolle nicht mit einem interessanten Charakter ausfüllen - eine verschenkte Chance. Und Jared Letos Figur ist kaum mehr als ein Witz. Sein Niander Wallace changiert irgendwie zwischen einem skrupellosen Schurken und einem pathetisch mäandernden New Age-Philosophen, was in der Summe eine Figur aus einem verblasenen Comic abgibt. Alles hart am Rande der Lächerlichkeit.
Dass sich Nianders Assistentin Luv dann als nahkampferprobte Killer-Androidin entpuppt, überrascht auch nicht wirklich. Hier lässt der T-1000 aus „Terminator 2: Judgement Day“ herzlich grüßen. Und last but not least erinnert das Messias-Motiv dann doch ein wenig an Keanu Reeves in der „Matrix“-Trilogie der Wachowskis. Dies macht dann doch einiges in dem Film sehr vorhersehbar.

In seinen gelungensten Szenen gelingt es Denis Villeneuve allerdings, der Geschichte einige berührende Momente zu geben. Und tatsächlich schafft dies seine Hauptfigur. Vielleicht ist es gerade Ryan Goslings ausdruckslosem Gesicht zu verdanken, dass man in ihm immer wieder nach emotionalen Nuancen sucht. Etwa, wenn er nach jedem Einsatz einem skurrilen Verhaltenstest unterzogen wird, der sicher stellen soll, dass seine Basiswerte noch stimmen.
Irgendwann werden sie nicht mehr stimmen, der Zuschauer kann den Unterschied beim Test aber nicht erkennen. Vielleicht ist das ganz gut so, denn so lässt der Film anklingen, dass das Neue an und in den domestizierten Androiden unsichtbar bleibt und nur in dem Verdacht ihrer Herren und Meister zu Tage tritt: Lernen sie etwa, machen sie emotionale Erfahrungen, sind sie eine Gefahr? 



Andererseits spiegeln die Androiden in Denis Villeneuves Film auch die Brüchigkeit der menschlichen Identität wider. Immerhin mussten wir von den Neurowissenschaften erfahren, dass unsere Selbstwahrnehmung als Person in letzter Instanz wohl eher nicht von einer Seele, sondern von der uneingeschränkten Funktionalität unseres Gehirns abhängt. Ein Fehltritt, ein Sturz, ein Schlag auf den Kopf – und schon kann eine dissoziative Amnesie alle Erinnerungen löschen und die Person ist verschwunden.
Dass auch K sich mit der Seele beschäftigt, wird in einer Szene mit Yoshi deutlich. Eine Antwort erhält er nicht. Trügerisch ist aber auch das Credo Descartes „Cogito ergo sum“, das in „Blade Runner“ von der Replikantin Pris zitiert wird. Kann man es umformulieren? „Ich bin programmiert, wie ein Mensch zu sein – also bin ich.“ Geht das? Spielt es überhaupt eine Rolle, wenn K sich mit einer virtuellen Freundin umgibt? Der Android und das Hologramm - sicher eine ungewöhnliche, sogar tiefsinnige Angelegenheit, besonders dann, wenn die Kunstwesen wissen, dass alles ein Teil ihrer Algorithmen ist und es ihnen dennoch völlig egal ist.

Goslings KD6-3.7, der später den Allerweltsnamen „Joe“ erhält, spielt diesen Selbsterfahrungstrip eines Androiden als Reise in eine Welt der Täuschungen und Meta-Täuschungen, in der auch seine als real entdeckten Holzpferd-Erinnerungen plötzlich auf dem Prüfstand stehen. Ist auch das nur ein Doppelspiel?
K’s Hartnäckigkeit führt ihn schließlich in das weitgehend zerstörte Las Vegas, wo er Rick Deckard (endlich) im letzten Drittel des Films findet. Von ihm erfährt er, dass Deckard vor 30 Jahren untergetaucht ist, um Rachael zu schützen. In Las Vegas findet K schließlich auch heraus, dass er als Puzzleteil in einer Verschwörung nur die Funktion hatte, die Identität des wahren Messias zu verbergen. Und während man nach dem finalen Showdown grübeln darf, ob K überlebt oder im Dreck stirbt, deutet vieles an, dass „Blade Runner 2049“ nicht das letzte Sequel sein wird.

So wird es wohl kommen. Denis Villeneuves Film ist alles andere als eine Enttäuschung, aber man findet abgesehen von einigen sehr schönen Szenen nicht immer überzeugenden Argumente dafür, dass diese Geschichte unbedingt erzählt werden musste.
Natürlich bietet sich ein ökonomischer und ideologiekritischer Ansatz an, etwa wenn Georg Seeßlen in einer durchweg lesenswerten Kritik den Film mit einer Kapitalismus-Kritik kurzschließt: „Wenn man es zuspitzen will, geht es in Blade Runner 2049 um die Frage, ob es gegen einen (zur) Diktatur und Religion gewordenen Kapitalismus neoliberaler Prägung noch eine wirksame Form der Rebellion geben kann.“

Diese Fragestellung habe ich nicht auf Anhieb entdecken können. Sie erinnert an die eingangs geschilderte These von der Projektion des Gegenwärtigen in die erdachte Zukunft, die als neue Kinorealität uns dann nur wieder den Spiegel vorhalten will. Man könnte allerdings auch davon sprechen, dass in der Post-Apokalypse, die in der Blade-Runner-Zeitlinie erst nach Ridley Scotts Film entstand, der Weg zurück in eine archaische Stände-Gesellschaft angetreten wird. An ihr ist nichts neo-liberal. Sie ist trotz aller verbliebenen Technik im Kern eine prä-digitale und prä-industrielle Gesellschaft geworden. Dass sie dem Untergang geweiht ist, ohne dass sich die Unterdrückten organisiert gegen die Unterdrücker erheben, scheint wohl eher die folgerichtige Quintessenz zu sein. Ökonomie wird im Blockbuster-Kino nur selten verhandelt, wohl auch, weil Ökonomie ihr beherrschendes Movens ist.
Dem Blade Runner-Narrativ fügt „Blade Runner 2049“ daher zunächst nur die Erkenntnis hinzu, dass Ridley Scotts melancholischer Film mit der Niederlage der Replikanten ein überzeugendes Ende gefunden hat, während nun im Zuge einer erzählerischen und moralischen Correctness die Replikanten in Villeneuves Film irgendwann die neue, bessere Spezies auf einem verrotteten Planeten werden können.

Gefilmt wurde das Ganze allerdings vorzüglich. Die Rufe nach einem OSCAR für Kameramann Roger Deakins, der bereits mit Villeneuve in „Prisoners“ zusammenarbeitete und fester Bestandteil im Team der Coen Bros. ist, sind berechtigt. 13-mal wurde er für die Academy Awards nominiert, gewonnen hat er noch nie. 
Deakins Kamera schwebt elegant über L.A. und all die andere heruntergekommenen Städte, und es spielt dabei keine Rolle, dass dabei nicht mehr die SONY-Reklametafeln zu sehen sind. Eigentlich ist gar nichts zu sehen, nur eine Sand-, Dunst und Smogwolke, unter der die Menschen vegetieren.
Dass der Film visuell nicht hinter Ridley Scotts Vision einer ‚Brave New World’ zurückbleibt, liegt aber auch der Musik von Hans Zimmer und Benjamin Wallfisch, die trotz aller Dementis sehr intensiv an Vangelis erinnert. Und an dem außergewöhnlichen Production Design und den Settings, die an den morbiden Charme des Originals erinnern. Die Szenen mit Harrison Ford spielen in einem Ambiente, das mühelos ins 19. Jh. passen würde. Die alten würdevollen Möbel, die gediegenen Holzregale mit ihren unzähligen Büchern, die antiken Sessel und schließlich auch die riesige Music Hall, in dem sich Deckard und K einen an sich überflüssigen Kampf liefern, ist
old fashioned. Auch weil die Erzeugung eines holografischen Elvis Presley immer wieder zuckend zusammenbricht. Eine schöne Metapher, denn das Alte scheint überlebensfähiger zu sein als das Digitale, das in „Blade Runner 2049“ seit dem Blackout ohnehin nur noch den Priviligierten zur Verfügung steht. Das alles zeigt Wirkung, es ist gelungen und vielleicht fügt sich auch das Disparate, dass man beim ersten Zuschauen erkannt hat, beim zweiten Mal glücklich zusammen.

Ja, das ist möglich, denn am Ende löst sich die Skepsis doch ein wenig auf. Mag sein, dass der Film seine Längen hat. Und zugegeben: das Script verschweigt trotz all dieser Längen etwas humorlos viele Erklärungen. Aber am Ende verbindet etwas die Filme von Ridley Scott und Denis Villeneuve: nämlich eine kontemplative Grundierung, die auch im alt gewordenen Rick Deckard mitschwingt. Einfach allein sein zu können und in Ruhe gelassen zu werden mit all den Geheimnissen und Erinnerungen. Das ist dann nicht einmal das schlechteste aller denkbaren Gefühle. Egal, ob man Mensch oder Replikant ist

Note: BigDoc = 2


Blade Runner 2049, USA 2017 - Regie: Denis Villeneuve. Buch: Hampton Fancher, Michael Green. Kamera: Roger Deakins. Ausstattung: Dennis Gassner. Musik: Hans Zimmer, Benjamin Wallfisch. Mit Ryan Gosling, Harrison Ford, Ana de Armas, Sylvia Hoeks, Robin Wright, Edward James Olmos, Jared Leto. Laufzeit: 163 Min.

Quellen:





Alle drei Filme werden auf YouTube von Denis Villeneuve komplett präsentiert, wobei der als erster Film geplante „2036: Nexus Dawn“ an die zweite Stelle gerückt ist. Villeneuve definiert „Blackout 2022“ als Beginn der Trilogie.

Zu empfehlen sind auch einige Filmkritiken. Zum einen die bereits erwähnte von Georg Seeßlen in DIE ZEIT. Tobias Kniebe erklärt in der Süddeutschen Zeitung, warum er Villeneuves Film für den besseren Film hält. Vergnüglich sind auch die Interviews mit Ridley Scott, deshalb sollte man bei YAHOO! reinschauen. Nicht ganz so vergnüglich war Rüdiger Suchlands Kritik auf Telepolis. Suchsland schreibt viel über Scotts Klassiker und viel über die Ästhetik in Villeneuves Film und deshalb auch sehr viel über dessen Frühwerk. Leider sind die frühen Filme nicht zugänglich - und wenn, dann als teure Importware. Das kann man machen, aber - sorry! - ein wenig mehr über den aktuellen Film sollte man halt auch schreiben. Im FOCUS ist man tendenziell begeistert, bemängelt aber den verwirrenden Plot. Das ging mir auch so, aber ich warte auf den zweiten Durchgang. So viel Geduld muss sein.