Mittwoch, 11. Oktober 2017

Empörung

Mit „Empörung“ (Indignation) ist dem bekannten Independent Movie-Produzenten James Schamus bei seiner ersten Regiearbeit ein Glücksgriff gelungen. Die Verfilmung des gleichnamigen Romans von Philip Roth ist ein allegorisch-realistischer Film, der gerade wegen seiner inneren Ruhe eine subtile Tiefe bei der Figurenzeichnung erhält.

Geschichte ist ohne Fiktionalisierung nur noch schwer greifbar. Über die McCarthy-Ära erfährt man im Kino einiges in „Trumbo“, über das Abstreifen der 1950er Jahre erzählt die TV-Serie „Mad Men“ als Geschichte eines weitreichenden kulturellen Paradigmenwechsels, festgemacht am Aufkommen weiblicher Emanzipation und neuer sexueller Freiheiten. Filmische Reisen in die 1950er Jahre sind auch deswegen per se Spiegelbilder des Hier und Jetzt.
Das hört sich längst nicht mehr paradox an, denn die enorme kulturelle und politische Distanz zu einer Dekade, die man medial als Prä-„Mad Men“-Ära bezeichnen kann, zeigt besonders nachhaltig, was verschwunden ist und was uns immer noch widerfährt. Es scheint zwar, als sei der restaurative Mief der 1950er verschwunden, auch die bigotte Sexualmoral. Aber spätestens, wenn man die verklemmten ethnischen und religiösen Vorurteile in und Schamus’ Literaturadaption beobachtet, erkennt man, dass sich hinter den geschickt getarnten Grundsatzdiskussionen zwischen einem vermeintlich liberalen Dekan und seinem Studenten aus der jüdischen Mittelschicht ein Ungeist breitmacht, der 70 Jahre später nicht restlos verschwunden ist, sondern viel aggressiver und selbstbewusster auftritt.



Wie ein klassischer Entwicklungsroman

Philip Roths Hauptfigur ist der 19-jähriger Marcus Messner, der auch im Film als Ich-Erzähler auftritt. Der schulisch außerordentliche erfolgreiche Sohn eines jüdischen Metzgers, der ein Geschäft im biederen Newark (Essex County, New Jersey) hat, verdankt einem Stipendium der jüdischen Gemeinde die Möglichkeit, am Winesburg College in Ohio zu studieren. Marcus kommt dies gelegen, denn zum einen müssen Studenten nicht in den Koreakrieg ziehen, zum anderen ist die Abnabelung aus dem Elternhaus durch räumliche Distanz die einzige Option, um sich aus einem als eng empfundenen Milieu zu befreien. Marcus’ Vater begleitet den Auszug seines Sohnes mit geradezu paranoider Angst und macht ihm deutlich, dass in der Fremde kleine Fehler fatale Folgen haben können.

„Indignation“ funktioniert also wie ein klassischer Entwicklungsroman, Roths Romanfigur erinnert dabei ein wenig an Saul Bellows fiktiven Helden in „The Adventures of Augie March“. Allerdings ist Marcus anders als Bellows abenteuerlustiger Augie deutlich verschlossener, aber dennoch zum Aufbruch entschlossen – und er ist ein recht früh ein intellektuell orientierter Atheist geworden, der sich auch aus diesem Grund der konservativen jüdischen Kultur seiner Heimatstadt entziehen will. Keine ungewöhnliche Geschichte, und sicher ist Augie March die deutlich unkonventionellere Figur. Philip Roth bezeichnete Bellows 1953 verfassten Roman als das bedeutendste literarische Werk, das der zweiten Hälfte der 20. Jh. In Amerika geschrieben wurde.

Aber auch die Abenteuer des Marcus Messner werden sich in ein existenzielles Drama verwandeln. Am Winesburg College findet Marcus eine aufgeräumte, liberale Atmosphäre vor. Allerdings muss er sich das Zimmer beinahe selbstverständlich mit zwei der wenigen jüdischen Kommilitonen teilen. Eine Aufnahme in die jüdische Studentenvereinigung lehnt er ab, er arbeitet hart und lässt sich wenig Raum für private Aktivitäten. Dann aber faszinieren ihn in der Bibliothek die übereinandergeschlagenen Beine der blonden Olivia Hutton (Sarah Gadon). Marcus arrangiert ein Date mit der ausgesprochen schönen Kommilitonin, das mit einem Blowjob im Auto endet. Auf seine erste sexuelle Erfahrung reagiert Marcus äußerlich gefasst, innerlich aber sprachlos. Ihm fehlen Kategorien, um das Erlebnis einzuordnen, was ihn unglücklicherweise dazu treibt, die Episode mit einem seiner Zimmergenossen zu diskutieren. Marcus schwebt danach in einem fragilen Zustand zwischen Nähe und Distanz: er meidet Olivia, sucht aber dennoch ihren Kontakt. Der Einbruch der Sexualität in die scheinbar geordnete Welt des selbstbewussten Jungintellektuellen hat alles auf den Kopf gestellt.

Mit inquisitorische Schärfe

James Schamus wählt für seine Geschichte eine provozierende Erzählsprache und dazu noch eine handlungsarme Inszenierung. „Indignation“ wirkt zudem geradezu theaterhaft. Die Kamera beobachtet in langen Einstellungen die ebenso langen Dialoge, der Schnitt ist sparsam und verstärkt noch das Gefühl, einer Bühneninszenierung zuschauen. Umso erstaunlicher ist die zunehmende Spannung, die sich beim Zuschauen einstellt. Das liegt nicht nur am Sujet, sondern an der darstellerischen Präsenz des 25-jährigen Logan Lerman (u.a. bekannt als „Percy Jackson“ in der gleichnamigen Filmreihe) und der phantastischen Sarah Gadon (die zuvor als Prinzessin Elisabeth in „A Royal Night Out“ überzeugte). Logan Lerman spielt seine Rolle mit selbstbewusster Verschlossenheit und großer Neugier, Gadon erinnert ein wenig an Sybill Shephard, die in Peter Bogdanovich’ „The Last Picture Show“ die laszive Femme Fatale Jacy gespielt hat. Aber ihre Olivia ist alles andere als eine Femme Fatale.

Mit Marcus und Olivia haben sich vielmehr zwei Außenseiter getroffen: ein junger Jude, der sich gegen möglicherweise hilfreiche Bindungen an sozial akzeptierte Gruppen verweigert, und eine junge Frau aus der amerikanischen Oberschicht, die auch wegen eines Suizidversuchs und einer handfesten Alkoholkarriere zwar mysteriös bleibt, aber nicht nur in sexueller Hinsicht mit ihrer glasklare Ehrlichkeit Marcus völlig überrumpelt. Diese Verstrickungen führen dann auch zu einer handfesten Auseinandersetzung zwischen Marcus und einem Mitbewohner. Marcus räumt das Zimmer, muss sich aber zum Gespräch beim Dekan Hawes D. Caldwell (Tracy Letts erhielt als Dramatiker 2008 den Pulitzer-Preis und wirkte als Darsteller u.a. in der TV-Serie „Homeland“ mit) einfinden.

Die Auseinandersetzung zwischen Caldwell und Marcus gehört zu den Höhepunkten des Films. Dies liegt nicht nur an der geschliffenen Rhetorik der Kontrahenten, die mit zunehmender Schärfe ein subtiles Niveau erreicht. Es liegt auch an der Gesprächsstrategie des Dekans, der jovial und fürsorglich auftritt, um danach dem Gespräch eine inquisitorische Dringlichkeit zu geben, deren Motive sich nur langsam enthüllen. Beginnend mit einer einem semantischen Scharmützel über die korrekte Berufsbezeichnung von Marcus’ Vater (Metzger oder koscherer Metzger?) dringt Caldwell mit zunehmender Hartnäckigkeit in das Innenleben seines Studenten ein, dem er anlastet, sich seinen sozialen Konflikten durch Flucht zu entziehen. Marcus wehrt sich mit ausgesuchter Höflichkeit gegen die psychologischen Zudringlichkeiten des Dekans und grenzt sich zunehmend schärfer ab. Alles kommt auf den Tisch, auch sein Atheismus und das Beharren auf individueller Freiheit. Immer deutlicher wird der beinharte Konservativismus des Dekans, der seinem Schützling die Bereitschaft zur vollständigen Integration in das Wertesystem des Winesburg College nahelegt. 


James Schamus gelingt es, diese mehr als 15-minütige Szene zu einer brillanten existenziellen Debatte über Freiheit und Anpassung zu machen, obwohl sie – gemessen an heutigen Erwartungen – völlig unfilmisch ist und die steife Theaterhaftigkeit des Films sogar noch betont. Dass sich in der Auseinandersetzung ein latenter Antisemitismus manifestiert, ist aber nicht der Kern, wie es einige Kritiker vermuteten. Auch der Vergleich mit der McCarthy-Ära scheint sich aufzudrängen, aber dessen Protagonisten waren deutlich vulgärer. Vielmehr wird ein besonders tückischer religiöser Dogmatismus offengelegt, der zwar unterschiedliche Glaubensrichtungen zu tolerieren scheint, aber nicht akzeptieren mag, dass jemand überhaupt keinen Glauben besitzt. Dass die jüdischen Studenten gezwungen werden, regelmäßig an christlichen Gottesdiensten teilzunehmen, enthüllt die liberale Atmosphäre der Universität als im Kern bigott. Marcus bricht am Ende des Gesprächs zusammen und wacht im Krankenhaus auf. 


Ein unausweichliches Drama

„Indignation“ ist nicht wegen der authentischen Settings und der unaufgeregten Kameraarbeit Christopher Blauvelts ein gelungenes Zeitportrait. Auch die bewusst konventionelle Montage und die theaterhafte Inszenierung wirken so, als würden man einen Film aus vergangenen Dekaden sehen. Der Film erzählt zudem auf eine anderen Ebene trotz seines untergründigen Humors und seiner Leichtigkeit von etwas ziemlich Altmodischem. Schamus’ Film ist in Anlehnung an seine literarische Vorlage nämlich auch eine klassische Tragödie, die auch aus den griechischen Mythologien stammen könnte.

Der Held der Geschichte ist in „Indignation“ dem Untergang geweiht, und dies ist auch das konsequente Ergebnis der Erzähltechnik, die als Frame Narrative (Rahmenerzählung) bekannt ist. In James Schamus’ Film sieht man zu Beginn eine tödliche Episode während eines Kampfeinsatzes in Korea, die den Ich-Erzähler darüber nachdenken lässt, ob es diskrete Kleinigkeiten sind, die mit unbarmherziger Konsequenz zum letalen Ende führen. Am Ende des Films wird diese Frage beantwortet. Es sind tatsächlich Kleinigkeiten, die über sein Leben entscheiden, aber sie funktionieren wie in einer schicksalshaften griechischen Tragödie, in der ein Held so sehr strampeln mag, wie er nur kann, ein Entrinnen aber nicht möglich ist. Rahmenerzählungen haben, jedenfalls so wie sie James Schamus interpretiert, somit eine deutende Funktion. Und so wird der Held und Ich-Erzähler am Ende seinen sinnlosen Tod in einem Krieg erfahren, dem er sich zuvor erfolgreich entzogen hatte. Es ist das Ergebnis großer und kleiner Entscheidungen, aber ist es auch das Resultat einer vergeblichen Flucht, die der Hauptfigur keine Alternativen bereitstellt?


Das sind dann wohl die Fragen, denen sich auch der Zuschauer stellen muss. In „Indignation“ beginnt das Verhängnis mit Kleinigkeiten. Und so wird Marcus letztendlich dafür büßen, dass er mit seinem Zimmergenossen über seine sexuellen Erfahrungen mit Olivia gesprochen hat. Dies wird ins Büro des Dekans führen, dies wird auch seine Mutter zu einer empörten Erpressung zwingen, denn eine Beziehung zu einer mental auffälligen Frau ist für sie undenkbar. Und es wird Marcus erneut von Olivia entfernen und Ursache für ihren Nervenzusammenbruch sein, die sie erneut zu einem Leben in der Nervenklinik verurteilt. Und kurz vor dem Ende wird Marcus dann Opfer des Dekans, als er mit einem von seinen Kommilitonen hundertfach angewandten Trick den lästigen Gottesdiensten entgehen will.

Die Empörung, so der Filmtitel, beherrscht damals wie heute das Leben, besonders dann, wenn jemand auf Arrangements, Kompromisse und einen gesunden Pragmatismus verzichtet will. Das ist die eine Seite eines faszinierenden soziokulturellen Zeitportraits über den (nicht nur) amerikanischen Zeitgeist der 1950er Jahre. 
Die andere wäre die Frage, ob man angesichts der Schicksalshaftigkeit der Geschichte wieder über die Beziehung zwischen Determinismus und Freiheit nachdenken muss. Diese Frage würde Marcus Messner sicher gefallen. Und jene Zuschauer, die in ihrem Leben persönliche Katastrophen erlebt haben, ohne danach die Suche nach den Ursachen zu verdrängen, werden sicher wissen, dass große und gewalttätige Ursachen nicht so sehr beunruhigen wie die Vorstellung, dass es triviale Dinge und Unachtsamkeiten sind, die zu schrecklichen Ergebnissen führen.

Noten: Melonie, BigDoc = 1, Klawer = 2

Indignation (Empörung) – USA 2016 – Buch und Regie: James Schamus – nach dem gleichnamigen Roman von Philip Roth – Laufzeit: 111 Minuten – FSK: ab 12 Jahren – D.: Logan Lerman, Sarah Gadon, Tracy Letts, Danny Burstein, Linda Emond, Marty Ziegler, Bertram Flusser