Dienstag, 17. Oktober 2017

Elle

Seit „Black Book“ hat Paul Verhoeven keinen Kinofilm mehr gemacht. Nach zehnjähriger Pause tauchte der holländische Regisseur wieder an einem Set auf und wurde danach für „Elle“ mit einer wahren Flut von Preisen überhäuft. Das Geringste, was man über Verhoevens Skizze einer schwer traumatisierten Frau sagen kann, ist, dass „Elle“ ein fesselnder Psychothriller geworden ist.

Ja, „Elle“ ist sogar komisch. Während Paul Verhoevens Hauptfigur
Michèle Leblanc sehr kompetent und dominant mit ihrer Freundin Anna (Anne Consigny) im gemeinsamen Unternehmen erfolgreich äußerst gewalthaltige Computerspiele produziert, ist ihre Familie ein Trümmerfeld. Michèles Sohn Vincent (Jonas Bloquet) hat es nur zu einem Job in einem Burger-Schuppen gebracht. Seine schwangere jähzornige Freundin Josie (Alice Isaaz) hat ihn vollständig unter ihre Fuchtel genommen und Vincent ist nach der Geburt des Kindes selbst dann nicht imstande, den wahren Vater zu erkennen, als ihm im Krankenhaus ein farbiges Kind in die Arme gelegt wird. Michèles greise Mutter Irène (Judith Magre) lässt sich regelmäßig mit Botox liften und führt ein reges Sexualleben mit deutlichen jüngeren Männern. Und Michèle? Die hat sich von ihrem Mann Richard, einem erfolglosen Schriftsteller, getrennt und unterhält mit dem Mann (Christian Berkel) ihrer Freundin Anna eine beinahe desinteressierte Affäre. Dabei mimt sie beim Sex auch mal eine Tote, um ihren Lover in Fahrt zu bringen.


Der Überbringer der schlechten Nachricht wird erschlagen

Isabelle Huppert spielt ihre Michèle Leblanc mit einer eisigen Kälte und Schroffheit, die allein schon ausreichen würde, um neugierig zu machen. Aber eigentlich ist ja alles viel schlimmer, denn gleich zu Beginn des Films wird die 50-Jährige von einem maskierten Mann in ihrem Haus überfallen und brutal vergewaltigt. Doch Michèle geht nicht zur Polizei. Sie lässt die Schlösser austauschen und besorgt sich Pfefferspray. Das ist alles.

Würden Paul Verhoevens Figuren normale Erwartungen befriedigen, wäre man sicher enttäuscht. Der in Amsterdam geborene Regisseur ist immer sehr explizit gewesen. Sein sarkastischer Humor wurde in „Starship Troopers“ (1997) wohlwissentlich nicht erkannt, die grelle Gesellschaftssatire „Robocop“ (1987) wurde gegen den Strich und wohl von der falschen Klientel rezipiert, das im Mittelalter spielende Sex & Crime-Spektakel „Flesh and Blood“ (1985) titulierte man als „pervers“, lobte es andererseits auch wegen seines historisch korrekten Naturalismus. „Basic Instinct“ (1992) wurde wegen einer einzigen anzüglichen Kameraeinstellung weltberühmt, darüber hinaus erkannte die Kritik ein reaktionäres Weltbild und eine Orgie aus Brutalität und Menschenverachtung in dem Film. Kein Wunder: Selten zuvor hatte es ein Regisseur, dessen Filme auf den großen Filmfestivals regelmäßig nominiert und ausgezeichnet wurden, geschafft, dass seine Filme regelmäßig geschnitten, verboten und indiziert wurden (Starship Troopers, Total Recall).

Dabei liefen viele Kritiker in die Falle: sie erschlugen den Überbringer der schlechten Nachricht. Dass ist in etwa das Gleiche, als würde man Oliver Welke für die Satire der „Heute Show“ in den Knast stecken, anstatt die Missstände zu verhandeln, die der Satiriker aufs Korn genommen hat. Aber selbst das ist denkbar geworden in dem reaktionären Reizklima, das sich in unseren Regionen ausbreitet. Mittlerweile entdeckt man sogar in Verhoevens Filmen einen gewissen prophetischen Blick, der sich bei der Lektüre der Tageszeitung durchaus als berechtigt erweist.

Auch „Elle“ lädt zu einigen Fehldeutungen ein. Isabelle Huppert spielt grandios eine Frau, die sich jedem Klischee entzieht. Statt gefälligst zusammenzubrechen und ob der sexuellen Gewalt in traumatische Schockstarre zu verfallen, scheint
Michèle das Ganze zwar nicht egal zu sein, es berührt sie aber auch nicht sonderlich. 
Auch als der Vergewaltiger sie weiter unter Druck setzt, ihr anzügliche Mitteilungen schickt und ihr Haus eindringt und dort auf ihr Bettlaken ejakuliert, verliert Michèle die Kontrolle nicht.
Paul Verhoeven bietet für diese stoische Haltung allerdings keine einfühlsame Erklärung. Vielmehr erfährt man, dass seine Hauptfigur gute Gründe hat, um wenig Aufsehen zu erregen: Ihr Vater ist ein Massenmörder. In einem der spektakulärsten Kriminalfälle der letzten 40 Jahre wurde
Michèle als Zehnjährige durch die Medien gehetzt, nachdem ihr Vater, ein tiefgläubiger Katholik, plötzlich scheinbar unmotiviert 27 Menschen, darunter auch Kinder, während eines Amoklaufs abschlachtete. Das Mädchen wurde damals fotografiert, als sie mit ihrer Mutter die Habseligkeiten des Vaters im Garten verbrannte: ihr kalter Blick in die Kamera ist alles, was das öffentliche Gedächtnis von dem Kind bewahrt hat.

Klinische Fallstudie?

In Michèle Leblanc könnte man durchaus eine narzisstische Störung hineinlesen. Dass sie manipulativ und selbstherrlich ist, kann man nicht leugnen. Allerdings spricht ihre emotionale Autonomie nicht besonders für den Anspruch eines Narzissten auf grenzenlose Anerkennung. Stattdessen scheint es Michèle um unbedingte Kontrolle zu gehen. Ihre sexuelle Beziehung zu Robert, dem Mann ihrer Freundin, ist spärlich lustvoll, aber kontrolliert. Der Versuch einer sexuellen Beziehung zu ihrer Freundin ist gescheitert. Trotzdem regt Michèle die libertäre Sexualität ihrer Mutter genauso auf wie die vermeintliche Dämlichkeit ihres Sohnes, der nicht begreifen will, dass seine Freundin ausgerechnet von seinem besten Freund geschwängert wurde. Was Michèle empört, ist offenbar der Kontrollverlust - und das auch bei ihren Familienmitgliedern. Sei es bei der Realitätswahrnehmung, sei es bei der Kontrolle sexueller Impulse.

Nun hat Paul Verhoeven keinen Film über Klinische Psychologie gemacht. „Elle“ ist ein erotischer Psychothriller, an dem nicht nur Alfred Hitchcock seine Freude gehabt hätte, sondern vermutlich auch Brian de Palma, der ebenfalls ein Faible für die Dunkelzonen menschlicher Obsessionen hat. In eben diese gerät
Michèle, als sie erneut von ihrem Peiniger überfallen wird. Michèle gelingt es jedoch, den Mann zu verletzen und damit auch seine Identität aufzudecken. Zu diesem Zeitpunkt erstaunt es nicht mehr, dass Michèle natürlich erneut nicht zur Polizei geht, sondern sich mit ‚ihrem’ Vergewaltiger auf ein erotisches Rollenspiel einlässt, bei dem es am Ende darum gehen wird, ob sie in diesem Rape Game ihre Lust wiederentdeckt oder die absolute Kontrolle als wichtiger einschätzt.

Wie sehr „Elle“ einigen unter die Haut geht, kann man im Forum eines großen E-Tailers nachlesen: „Absolut unglaubwürdige Hauptdarstellerin. Dass man mit solch einem Erlebnis, was der Hauptdarstellerin widerfahren ist, so cool umgehen kann, das könnte selbst der beste Schriftsteller nicht in einem Roman gut an den Leser bringen“, „Bei allem Respekt für die großartige schauspielerische Leistung von Isabelle Huppert - ich frage mich, wie lange noch man kranken Gehirnen erlaubt, Drehbücher dieser Art zu schreiben und ebenso kranken Gehirnen, dies in Filme umzusetzen“, „Die Krönung der Dummheit ist, dass Sie dann Ihrem Vergewaltiger noch zum Essen einlädt und als Dank darf er Ihr nochmal in die Schnauze schlagen.“


Postfeministischer Propagandafilm?

Über die morbiden Geheimnisse der bürgerlichen Mittelschicht hat Claude Chabrol seine wichtigsten Filme gemacht. Man kann so etwas als Metapher lesen, man kann dies aber auch mit Nachdruck von sich weisen. Wenn dann aber wieder mal in der Zeitung von den Abscheulichkeiten der menschlichen Natur berichtet wird, kann die Verdrängung recht schnell zusammenbrechen. 
Paul Verhoevens Film einen aufklärerischen Impetus zu unterstellen, greift aber fehl. Dazu ist Verhoevens Lust, erneut die Zuschauer zu polarisieren, zu grell und überdeutlich.
In der filmischen Adaption von Philippe Dijans Roman „Oh…“ stellt sich vielmehr die Frage, warum die gemeinsame Hauptfigur nicht bereit ist, ihre Opferrolle anzunehmen.
Die Kontrolle über die von ihr produzierten und gestalteten Computerpiele entspricht dabei auch der Kontrolle, die Isabelle Huppert nach eigener Aussage während der Dreharbeiten über ihre Rollengestaltung hatte.
Nicht ganz unwichtig ist dabei, dass
Michèles Computerspiele allerdings jene Bedürfnisse nach sexueller Gewalt befriedigen, deren Opfer sie selbst geworden ist. Aber Paul Verhoeven erspart uns uns eine moralische und symbolische Rache. Nein, Michèle Leblanc wurde nicht überfallen, weil sie sexuell konnotierte Computerspiele entwirft. Und auch der Regisseur wird keine liefern. Es sei „notwendig“ gewesen, wird ihr später der Mann erklären, der sie überfallen hat.

Für die Feministin Alice Schwarzer ist „Elle“ ein Propagandafilm geworden, der männliche Sado-Phantasien legitimiert: „Die Frau, die im Filmtitel "Elle" heißt - also "Sie" und damit für alle Frauen steht -, muss so eine Erfahrung des Erniedrigt- und Vergewaltigtwerdens natürlich letztendlich auch selber als lustvoll empfinden; sonst ist der Film nicht modern, nicht "komplex". Schließlich leben wir in Zeiten des Postfeminismus. (…) Hier handelt es sich nicht um hohe Kunst und Mut zur Ambivalenz - sondern um niedere Pornografie und Entschlossenheit zur Propaganda. Produziert mit Millionen, besetzt mit ernstzunehmenden SchauspielerInnen und bejubelt von den Feuilletons.“

Das kann man so sehen. Man muss dabei aber willentlich übersehen, dass Verhoevens Hauptfigur als vergewaltigte Frau zu keinem Zeitpunkt die Kontrolle verliert.
Michèles eigentliches Trauma hat sich bereits in ihrer Kindheit abgespielt, ihre hermetisch versiegelte Gefühlswelt ist ihr wichtiger als alles andere. Und dass sie es am Ende ist, die ihren Vergewaltiger manipuliert und auch das tödliche Ende dieser Charade festlegt, zeigt eine so umfassende Dunkelheit, dass die Wut Alice Schwarzer irgendwie nachvollziehbar ist: diese „Elle“ entzieht sich tatsächlich jeder Aus- und Umdeutung, jedem Rollenklischee, Michèle ist eine singuläre Frauengestalt, die im Kino ihresgleichen sucht, eine Frau, die einfach nicht bereit, ihre definierte Rolle anzunehmen.

Das ist auch das Schöne an diesem Film: „Elle“ ist frech und verstörend. Ein leichter Schuss bizarrer Komik wie bei Pedro Almodovar und fertig sind Charakterportraits, bei denen man sich verzweifelt an den Kopf fasst. 
Für die Verstörung à la Michael Haneke sorgt die rüde Gewalt des Films, die zum einen wie ein Einbruch des archaisch Bösen stattfindet, obwohl – oder vielleicht gerade deswegen – der Täter ein kultiviertes, kontaktfreudiges und zur Selbstverliebtheit neigendes Mitglied des wohlhabenden Bürgertums ist.
Das hat nicht wenig mit der Vergletscherung der Gefühle der Menschen zu tun, die Michael Haneke in seinen ersten drei Kinofilmen beschreiben wollte. Zum anderen ist Verhoevens Frauenfigur auch eine Wiedergängerin jener „Klavierspielerin“ Erika Kohut, die in Hanekes Film aus dem Jahre 2001 auch in einer wahnhaften Kontrollwelt lebt, in der sich Sexualität nur als Ausdruck sadomasochistischer Phantasien einen Weg bahnen kann. 
Dass Hanekes ebenfalls von Isabelle Huppert gespielte Frauenfigur den gleichen Namen trägt wie der österreichische Psychoanalytiker Heinz Kohut, ist sicher nur ein Zufall. Kohut vertrat ähnlich wie Alice Miller die Auffassung, dass Narzissmus durchaus zur Stabilisierung der psychischen Struktur eines Menschen beitragen könne.
Was
Michèle im Innersten zusammenhält - die Kontrolle ist ja nur ein Mittel zum Zweck - bleibt offen. Nur eins scheint klar zu sein: Wenn alle Ambivalenzen des seelischen Lebens genauso komplex sind wie bei Verhoevens Heldin, kommt man mit schablonenhaften Interpretationen tatsächlich nicht weiter. Und Paul Verhoeven stelle ich mir deshalb als Filmemacher vor, der uns grinsend seine Filme vor die Füße wirft: Seht zu, wie ihr damit klarkommt.

Da dies alles nur wenig oder gar nichts mit der Welt eines normalen Kinogängers zu tun hat, sollte der normale Kinogänger „Elle“ möglichst schnell vergessen. Bleiben dennoch Unruhe, Verstörung und Irritation zurück, so hat dies bestimmt nichts mit ihm zu tun. Dem Kinogänger. 

Versprochen.

Noten: BigDoc = 1,5, Melonie, Klawer = 2
 

Elle – Frankreich, Deutschland 2016 – Regie: Paul Verhoeven – Buch: David Birke – Laufzeit: 130 Minuten – FSK: ab 16 Jahren – D.: Isabelle Huppert, Laurent Lafitte, Anne Consigny, Christian Berkel, Judith Magre, Jonas Bloquet, Alice Isaaz – Auf DVD und Bluray seit Juli 2017 erhältlich.