Sonntag, 12. Mai 2019

Leave No Trace

„Leave No Trace" basiert auf dem gleichnamigen Roman von Peter Rock aus dem Jahr 2009. Rock hatte fünf Jahre zuvor einen Artikel über einen Mann gelesen, der mit seiner 12 Jahre alten Tochter vier Jahre lang ein eremitisches Leben in den Wäldern von Oregon führte. Der Vietnam-Veteran unterrichtete sein Kind mithilfe alter Enzyklopädien, beide ernährten sich von dem, was die Natur hergab.

Die Independent-Regisseurin Debra Granik adaptierte Rocks Buch zusammen mit der Filmproduzentin Anne Rossellini für den Film. Granik faszinierte dabei nicht nur der Non-Konformismus der beiden Außenseiter, sondern auch die Beherrschung von Überlebenstechniken, von denen der urbane Stadtmensch längst nichts mehr weiß.


Längst vergessene Überlebenstechniken

Das bekamen auch die Darsteller zu spüren. In Graniks Film wird ziemlich ausgiebig gezeigt, wie schwer es ist, ein Feuer zu machen. Auch die Darsteller mussten dies lernen. Ben Foster (u.a „X-Men: The Last Stand“, 2006 und „Hostiles“, 2017) spielt den Kriegsveteranen Will, die wunderbar spielende Thomasin McKenzie („The Hobbit: The Battle of the Five Armies“, 2014) ist seine Tochter Tom. Beide wurden vor Beginn der Dreharbeiten in ein Boot Camp geschickt, wo sie lernten, wie man in der Natur überlebt – und halt auch, wie man Feuer macht.

In „Leave No Trace" ist aus dem Vietnamkriegs-Teilnehmer nun ein Veteran des Irakkriegs geworden, der an PTSD leidet und seine vom Staat bezahlten Schmerzmedikamente auf dem Schwarzmarkt verhökert. Mit dem Geld kauft er die lebensnotwendigen Vorräte, die er und seine Tochter benötigen. Beide leben in den Wäldern um Portland, wo sie Wasser mit einer Zeltplane auffangen, Pilze braten und gelegentlich eine Partie Schach spielen. Tom wird von ihrem Vater unterrichtet und fit für ein Leben fernab der Zivilisation gemacht. Allerdings wird Will auch in den fast menschenleeren Wäldern von einer ständigen Rastlosigkeit gequält, er hält es nicht lange an einem Ort aus. 

Als Will und Tom zufällig entdeckt werden, werden sie von den lokalen Polizeikräften aufgegriffen und den Sozialbehörden übergeben. Als Resozialisierungsmaßnahme schlägt die Sozialarbeiterin Jean Bauer (Dana Millican) vor, dass beide auf einer Farm leben sollen, auf der Weihnachtsbäume produziert werden. Der Besitzer (Jeff Kober, u.a. „Sons of Anarchy“) lässt Will für sich arbeiten, Tom lernt nun nicht nur den Komfort einer eigenen Wohnung kennen, sondern auch den jungen Isaiah (Isaiah Stone) und später auch eine alternative Landkommune. Sie könnte für beide ein Kompromiss zwischen dem Leben im Wald und einer urbanen Existenz sein.
Doch den traumatisierten Will erinnern die Hubschrauber, mit denen die Weihnachtsbäume ins Tal geflogen werden, an seine Kriegseinsätze. Er verlässt die Farm und Tom folgt ihm. Bevor sie altes Leben wiederaufnehmen können, verunglückt Will und bricht sich ein Bein. Er wird in der Landkommune von einem ehemaligen Army-Sanitäter versorgt, hält es aber nicht lange dort aus und macht sich erneut auf den Weg in die Wälder. Tom, die inzwischen gespürt hat, dass ihr altes Leben nicht alternativlos ist, muss eine schwere Entscheidung treffen.


Zwei Verlorene und eine schmerzhafte Trennung

Bekannt wurde die 56-jährige Regisseurin Debra Granik durch das White Trash-Drama „Winter’s Bone“ (2010). Für Jennifer Lawrence war es der endgültige Durchbruch. Für ihre Performance in der Hauptrolle als Ree Dolly gab es unter anderem Nominierungen für den Golden Globe und den Oscar. Ein Jahr später folgte „X-Men: First Class“, später dann „The Hunger Games.“ 

Debra Granik blieb in der Indie-Szene und drehte danach nur zwei weitere Filme – „Stray Dog“ folgte 2014, nun erzählt die amerikanische Regisseurin in „Leave No Trace“ eine wunderbare Geschichte über zwei Verlorene und eine schmerzhafte Trennung. Diese Geschichte ist so fundamental einfach und unaufgeregt und dabei so wahrhaftig, dass man nur dankbar staunen kann.
Dabei verweigert Granik dem Zuschauer so ziemlich alle biografischen Details ihrer Hauptfiguren. Die Ausgangssituation der Story ist wie sie ist, mit unaufgeregten Bildern wird danach langsam die Beziehung zwischen Tom und ihrem Vater ausgebreitet, die viel den Erzähltraditionen des Neo-Realismus verdankt, durchaus aber auch märchenhafte Züge trägt. Etwa, wenn Debra Granik ihre Figuren frei von Konflikten und Aggressionen zeichnet, so, als würde ihre spartanische Lebensweise fast zwangsläufig vom Neurotizismus einer modernen Gesellschaft befreien. 

Bis zum bitter-süßen Ende begegnen sich Vater und Tochter auf Augenhöhe, und obwohl Will fordernd ist, gibt nur wenig Spuren einer väterlichen Autorität. Das liegt auch daran, dass Ben Foster einen Mann spielt, der ganz in seiner Lebensweise aufgeht und alles tut, um seine quälenden Traumata vor seiner Tochter zu verbergen.


Auch die Konfrontation mit den Sozialbehörden führt nicht zu Aggression und Widerstand. Will und Tom passen sich beinahe etwas resignativ an die Veränderung ihres Lebens an und fast hat man das Gefühl, dass es klappen könne mit einem Leben im Kompromiss. Das auch, weil die Behörden keineswegs beabsichtigen, Will und Tom gewaltsam zu resozialisieren.
Doch die angebotenen Alternativen funktionieren nicht. Wills Vision eines naturbelassenen Lebens ist nämlich nicht programmatisch zu verstehen. Es ist seine völlige Unfähigkeit, überhaupt noch soziale Kontakte ertragen zu können, die ihn scheitern lässt. 
Auch das alternative Leben in der Landkommune hilft ihm nicht. Nur am Rande: Granik zeigt hier offenbar die 4-H-Bewegung, die wiederum sehr programmatisch ist und besonders Jugendlichen in den USA landwirtschaftliche Alternativen zu einem Leben und Arbeiten in der Stadt aufzeigen will. 

 

Dies zieht auch Tom als Kompromiss in Erwägung. Es ist der Beginn eines Ablösungsprozesses von ihrem Vater, den die Regisseurin von „Leave No Trace“ unter Verzicht auf dramatische Plot Points ganz still und leise inszeniert.
Natürlich denkt man sofort an „Captain Fantastic“ (2016) von Matt Ross, wenn man Debra Graniks Film sieht. Aber Ross‘ Geschichte einer ebenfalls in den Wäldern lebenden Aussteigerfamilie ist ein anderer Film: deutlich temperamentvoller, reich an Humor und mit sarkastischen Pointen ins Herz einer konsumorientierten Überflussgesellschaft zielend. Der Indie-Film mit Viggo Mortensen in der Hauptrolle wurde ein Kritiker- und Publikumserfolg, ein Kultfilm zwischen Tragödie und Comedy. 

Granik wählt stattdessen das stille Drama und was der eine oder andere Zuschauer als langweilig empfinden wird, ist vielmehr genaue Beobachtung und der Verzicht auf psychologische Deutungsangebote und plakative Gesellschaftskritik. Granik, die sich in ihren Filmen besonders für die Verlorenen und die Außenseiter interessiert und dabei ein wenig an die völlig anderen Amerikabilder einer Kelly Reichardt erinnert, ist eine Beobachterin, die auf plakative Kommentare verzichtet und einfach von Menschen am Rand der Gesellschaft erzählt. Dies gelingt in „Leave No Trace“ auch dank der exzellenten Darsteller. Sie verwandeln ihre Geschichte mit einer glaubwürdigen emotionalen Präsenz in eine Tragödie, die ganz ohne floskelhafte Dramaturgie und gefühlsselige Musik auskommt. Dieser Bruch mit den Konventionen zeigt, dass es immer noch Filme gibt, die fernab vom Mainstream wundersam gut funktionieren und einen staunend zurücklassen.


Noten: BigDoc = 1,5, Klawer = 2


Leave No Trace - USA 2018 - Regie: Debra Granik. Buch: Debra Granik und Anne Rossellini - nach dem gleichnamigen Roman von Peter Rock. Kamera: Michael McDonough. D.: Thomasin McKenzie, Ben Foster, Dale Dickey, Jeff Kober. Laufzeit: 109 Minuten. FSK: ab 6 Jahren.