Donnerstag, 12. September 2019

The Sisters Brothers

Der neue Film des französischen Autorenfilmers Jacques Audiard ist ein Spätwestern, vielleicht auch ein Noir Western – möglicherweise auch eine Entzauberung klassischer Westernmythen, die trotzdem respektvoll mit diesem Genre umgeht.
Auf jeden Fall wird von einer existenziellen Selbstfindung in einer unberechenbaren, gewalttätigen Welt erzählt. Aber das hat Audiard bereits in früheren Filmen getan. Auch diesmal ist ein filmisches Juwel entstanden.



Woher die Gewalt kommt und wohin sie führt

Er bleibt im Hintergrund und zieht die Strippen: der Commodore. Am Ende ist er tot. Rutger Hauer spielt ihn in seinem vorletzten Film ein paar Sekunden lang. Die Brüder Eli Sisters (John C. Reilly) und Charlie Sisters (Joaquin Phoenix) stehen vor dem aufgebahrten Leichnam, der ziemlich regungslos daliegt. Kein Wunder, er ist wirklich tot. Eli verabschiedet sich dennoch mit zwei Faustschlägen ins Gesicht des Commodore. Man muss ja sichergehen.
Der versteckte Zusammenhang von Ursache und Wirkung, das Erreichen eines Ziels über labyrinthische Umwege – das alles gehört der Themen des intelligenten und sehr empathischen Western des Franzosen Jacques Audiard. Ist der Commodore schuld daran, dass die beiden Brüder, in Fachkreisen auch „Sisters Brothers“ genannt, zu mitleidlosen Profikillern wurden und im Auftrag dieses mysteriösen Mannes Auftragsmorde ausführen und gelegentlich auch ihre Opfer foltern? Oder sind die gefährlichen Killerbrüder Opfer ihrer familiären Vergangenheit, aufgewachsen in einem Milieu voller Gewalt und Gemeinheit? Immerhin hat Charlie bereits in jungen Jahren seinen Vater umgebracht, was Eli immer noch sehr nachdenklich stimmt. Eigentlich hätte er dies tun müssen, er sei schließlich der Ältere. Woher die Gewalt kommt und wohin sie führen kann, war bereits in den früheren Filmen ein Schlüsselthema von Jacques Audiard.


Warum die beiden Brüder am Ende ihren Auftraggeber umbringen wollen, aber zu spät kommen, gehört zu einer Geschichte, in der ein anderes Thema im Mittelpunkt steht: die Spurensuche. Die ist am Anfang ziemlich real, führt dann aber mitten ins Herz der Brüder. Also ein Western, in dem zwei Schurken im Mittelpunkt stehen und von einem Helden weit und breit nichts zu sehen ist.
Die Sisters Brothers haben nämlich vom Commodore den Auftrag erhalten, den Chemiker Hermann Kermit Warm (Riz Ahmed, Emmy für den besten Hauptdarsteller in „The Night of“) zu töten. Zuvor sollen sie ihn foltern, um sein Betriebsgeheimnis zu erfahren, denn Warm hat eine neue, unschlagbar innovative Methode gefunden, um in Flüssen Goldnuggets zu entdecken. Und so ziehen die Brüder los, um ihren Job zu machen, eine Reise, die Jacques Audiard die Gelegenheit gibt, ein Psychogramm der beiden Killer zu entfalten. Und dies hat eine ambivalente Bedeutung, denn es geht nicht nur um die Jagd nach einem Mann, sondern auch um Binnenbeziehung zweier Männer, die quer durch die Wälder und Wüsten Oregons reiten und dabei schier endlose Gespräche über sich und die Welt führen.


Audiard, der wieder einmal zusammen mit Thomas Bidegain (2010 César für das beste Originaldrehbuch für „Ein Prophet“, 2013 für das beste adaptierte Drehbuch für „Der Geschmack von Rost und Knochen“) das Drehbuch verfasst hat, gibt dabei John C. Reilly und Joaquin Phoenix reichlich Gelegenheit, ihre überragenden Schauspielkünste zu präsentieren. Phoenix spielt den gewalttätigen Charlie. Ein redseliger Soziopath, der sich selbst als Anführer sieht und sich und sein Leben am liebsten mit Nutten wegsäuft, am nächsten Tag, immer noch volltrunken, vom Pferd fällt und sich dabei auskotzt. Für Joaquin Phoenix („Her“, „A Beautiful Day“, „Joker“) die Gelegenheit, diesmal keinen verschlossenen Charakter zu spielen, sondern mit herrlichem Overacting zu glänzen und sich dabei immer wieder mit seinem Bruder anzulegen, um seine Überlegenheit unter Beweis zu stellen. Charlie ist derjenige, der denkt und plant. Das Morden ist seine Berufung, einen anderen Plan hat er nicht. Zumindest glaubt er das.
Charlies Dominanz steht aber wortwörtlich auf wackeligen Füßen, denn die Show gehört dem phantastisch spielenden John C. Reilly („Magnolia“, „Stan & Olli“), der eher als Nebendarsteller seine Meriten einheimste. In Audiards Film wird er zur eigentlichen Hauptfigur. Eli fehlt gänzlich die Identifikation mit seinem Beruf, den er dennoch mit brutaler Professionalität ausübt. Er ist mit seinem Bruder zusammen, weil er ihn liebt und ihn beschützen will, denn Charlie war bereits als Kind gewalttätig – und das kann schließlich nicht lange gut gehen. Der eher introvertierte Eli hat heimlich aber ganz andere, friedlichere Träume. Er will aus dem mörderischen Leben aussteigen, am liebsten einen kleinen Laden betreiben und sogar ein ruhiges Familienleben führen. Es gehört zu den schönsten Szenen des Films, wenn Eli zu einer Salonhure geht und sie dafür bezahlt, eine liebevolle Abschiedsszene mit ihm zu spielen. Das rote Halstuch, das ihm so wichtig ist, deutet an, dass da draußen eine Frau ist, die auf ihn wartet. Aber viel erfährt man nicht. Die Hure kann mit dem Szenario nichts anfangen und flüchtet verstört - so viel liebevolle Zärtlichkeit ist beinahe traumatisierend in ihrem Beruf.



Die Reise ins Innere führt mitten durch die Gewalt

Man kann „The Sisters Brothers“ auch Euro-Western nennen, denn gedreht wurde in Spanien und Rumänien. In Spanien wurden auch überwiegend die Italowestern der 1960er-Jahre in Szene gesetzt, aber trotz einiger wüster Schießereien erinnert Jacques Audiards nur selten an dieses Genre. Audiard nutzt die Topoi des Genres dazu, um die Spurensuche in den grandios von Benoit Debie gefilmten Landschaften ins Innere seiner Protagonisten zu lenken.
Das hat Audiard bereits in seinen früheren Filmen getan. In „Ein Prophet“ (2009), der Studie einer kriminellen Karriere in der korsischen Mafia, schuf Jacques Audiard das brillante Portrait eines Mannes, der sich mit extremer Gewalt einen Platz in der kriminellen Welt verschafft, dabei aber auch Reise in sein Innerstes antritt. Die Kritik feierte den Film als klassischen Erziehungsroman und als politische Allegorie.
In „Der Geschmack von Rost und Knochen“ (2012) schickte der französische Regisseur dann seine Hauptfigur ebenfalls auf eine verschlungene Reise, die am Ende die Eckpfeiler seines Lebens zerstört und gleichzeitig transzendiert: Matthias Schoenaerts spielte den Martial Arts-Kämpfer Ali, der alleinerziehend seinen Sohn durchbringen muss und dem sein Leben langsam entgleitet. Erst die Begegnung mit einer Frau, die bei einem Arbeitsunfall beide Unterschenkel verlor, führt zu einer Liebe, die Ali ein anderes Leben aufzeigt.

In dem nicht ganz so bekannten, aber mehrfach ausgezeichneten „Dheepan“ („Dämonen und Wunder“, (2015, Palme d’or in Cannes) landet ein tamilische Familie mit falschen Papieren in einem Migrantenviertel am Rande von Paris. Die Hauptfigur Sivadhasan, ein ehemaliger Kämpfer der Tamil Tiger, gerät als Hausmeister mitten in die Auseinandersetzungen rivalisierender Drogengangs, die er am Ende mit einem blutigen Amoklauf beendet. Sivadhasan kann seine Familie retten und nach England bringen, wo ein friedlicheres Leben auf alle wartet.
„Wofür ich auch sehr empfänglich bin, das sind Menschen, die in ihrem Leben vielleicht einen Unfall hatten oder aus anderen Gründen durch die Hölle gegangen sind, die aber die Fähigkeit haben, sich neu zu erfinden und in ein neues Leben zu starten“, erklärte Audiard vor einigen Jahren seine Filme. „Ich finde die Frage interessant, inwiefern ein zweites Leben überhaupt möglich ist und unter welchen Umständen.“

Auch in „The Sisters Brothers“ führt Elis Suche nach einem anderen, besseren Leben mitten durch die Gewalt. Und sie führt die Brüder mit zwei anderen Männern zusammen. Jake Gyllenhaal spielt den Detektiv John Morris, der im Auftrag des Commodore den Chemiker Warm finden und den Sisters Brothers zuführen soll. Auch Morris ist ein Mann, der sich insgeheim auf einem Identitätstrip befindet und mit seinem Leben hadert. Als er dann Warm aufspürt, entwickelt sich eine Freundschaft zwischen beiden Männern. Ob Morris‘ Phantasie sich an den romantischen Utopien einer alternativen friedvollen Gesellschaft entzündet, die Warm mit dem Gold gründen und finanzieren will, oder ob Morris mit dem Gold aus seinem Leben aussteigen will? Auch das bleibt unklar, aber möglich ist beides.

Mit der Rolle des John Morris, der mit Bart und Hut fast so aussieht wie Franco Nero in seinen berühmten Spaghetti-Western, hat Audiard ein sehr artifizielles Element in seinem Film platziert. Audiard, dessen Filme häufig von einem rauen Naturalismus geprägt sind, macht diese Figur zum Off-Erzähler – eine Erzählinstanz, die sich als tückisch erweist, wenn man als Zuschauer davon ausgeht, dass ein derartiger Erzähler den weiteren Verlauf der Handlung überlebt. Dieser Unreliable Narrator entwickelt sich in Audiards Film als Resonanzboden der schleichenden Veränderungen. Morris und Warm gelingt es tatsächlich, die Sisters Brothers im Schlaf zu überwältigen. Und beide schaffen es, trotz beiderseitiger Aversionen, die beiden Killer zu einer gemeinsamen Goldsuche zu überreden. Ein fragiles Verhältnis, über dem ständig die Gefahr eines gewalttätigen Kurswechsels schwebt. Aber langsam scheinen sich die Sisters Brothers zu verändern. Dass diese Situation in der Schwebe zu markanten Spannungselementen führt, liegt auch an der exzellenten schauspielerischen Leistung John C. Reillys, der es furios schafft, einen Killer mit einer heimlichen Sehnsucht nach Ruhe und Frieden zu spielen.

„The Sisters Brothers“ ist ein ungewöhnlich dialogzentrierter Film mit einem Schuss Tarantino-Humor, der bekanntlich nicht immer lustig ist. Der Weg von der witzigen Pointe zum Grauen ist auch in Audiards Film recht kurz. Etwa wenn Eli im Schlaf im Schlaf eine Giftspinne verschluckt oder sein Pferd, das durch einen Bären schwer verletzt wurde, sich von einem Felsvorsprung stürzt, um seine Qualen zu beenden. 

Am Ende überleben auch nicht alle Menschen die gemeinsame Spurensuche. Die zunächst erfolgreiche Goldsuche führt zu einem bizarren Ende, ausgelöst durch Gier und Dummheit, und auch dies sieht aus wie ein galliger Witz. Aber wie so oft bei Audiard führt der Weg durchs Labyrinth hin zu einem versöhnlichen Ende, das zumindest den Traum eines der beiden Brüder wenigstens teilweise erfüllt. Bizarre und beinahe tödliche Ursachen können halt eine unerwartete Wirkung auslösen. Und so erinnert das groteske Homecoming am Ende des Films in „The Sisters Brothers“ ein wenig an Klassiker wie „The Searchers“, ist aber eindeutig versöhnlicher. John Ford wäre so ein Ende nicht in den Sinn gekommen.

Bei den Internationalen Filmfestspielen von Venedig 2018 konkurrierte Jacques Audiards Film mit dem gefeierten Coen-Western „The Ballad Of Buster Scruggs“ und zog dabei keineswegs den Kürzeren. Jacques Audiard erhielt den Silbernen Löwen als bester Regisseur. Und das lag wohl auch daran, dass es Jacques Audiard erneut gelungen ist, einen magischen Film zu inszenieren, der einen in den Bann zieht, ohne dass man auf Anhieb weiß, aus welchen Zutaten das magische Gebräu besteht.

Noten: Melonie = 1, BigDoc, Klawer = 1,5


The Sisters Brothers – Frankreich, Belgien, Rumänien, Spanien 2018 – Regie: Jacques Audiard – Buch: Jacques Audiard, Thomas Bidegain (nach dem gleichnmigen Buch von Patrick deWitt)– Kamera: Benoit Debie – D.: John C. Reilly, Joaquin Phoenix, Jake Dyllenhaal, Riz Ahmed, Rebecca Root – Laufzeit: 121 Minuten – FSK: ab 12 Jahren.