Dienstag, 27. August 2019

Mindhunter - die NETFLIX-Serie ist ein Volltreffer

Nach der aufsehenerregenden 1. Staffel der NETFLIX-Serie „Mindhunter“ geht die Analyse von und die Suche nach Serienmördern in neun neuen Episoden auf NETFLIX weiter.
Die zweite Staffel vertieft die Charakterentwicklung der Ermittler Holden Ford und Bill Tench und der Wissenschaftlerin Wendy Carr und stellt einen der spektakulärsten Kriminalfälle der 1970er Jahre in den Mittelpunkt - die Atlanta-Morde, die von 1979 bis 1981 insgesamt 28 farbige Kinder und Jugendliche das Leben kostete. Spannend, vielschichtig und auch ohne blutige Szenen erschreckend realistisch – auch die zweite Staffel ist ein Fall für Binge Viewer.



Wohin soll das führen?

Die Fragen, die sich die Hauptfiguren in „Mindhunter“ stellen, sind einfach: Was geht in den Köpfen von Serienmördern vor? Und: Kann ein auf wissenschaftlichen Methoden basierendes Profiling zu einer schnelleren Ergreifung der Täter führen?

„Mindhunter“ spielt in den späten 1970er-Jahren, von exakten Methoden war man beim FBI meilenweit entfernt. Und die ersten Profiler war genauso weit davon entfernt, überhaupt ernst genommen zu werden. Die beiden FBI-Agenten
Holden Ford und Bill Tench machen sich trotzdem mit Tonband und Notizblock auf den Weg, um mit den schrecklichsten Serienmördern der letzten Dekaden ins Gespräch zu kommen.
Wohin soll das führen? Keiner kann mit dem Projekt der Abteilung für Verhaltensforschung etwas anfangen und so werden die beiden Agenten erst mal in den Keller verfrachtet, wo sie keinen stören.

Das könnte eine Geschichte wie „Das Schweigen der Lämmer“ oder „Hannibal“ werden, aber David Fincher und Showrunner Joe Penhall hatten wohl eher etwas anderes im Sinn: Kann man diesen Job geistig und seelisch überstehen, ohne Schaden zu nehmen? 
Einen Großteil der Spannung bezieht die Serie also daraus, dass man die Antwort ahnt, aber es eigentlich nicht so genau wissen möchte. Das macht „Mindhunter“ zu einem ambivalenten Psychothriller, der im Kopf der Zuschauer zu einem Horrorfilm wird.


Den Anstoß für „Mindhunter“ gab die US-amerikanische Schauspielerin Charlize Theron, die in „Monster“ ihre eigenen Erfahrungen mit dem Sujet gemacht hatte. Sie lenkte David Finchers Interesse auf das Sachbuch Mind Hunter: Inside the FBI’s Elite Serial Crime Unit, 1995 verfasst von dem FBI-Agenten John E. Douglas und dem genreerfahrenen Schriftsteller Mark Olshaker. 

Fincher war offen für eine TV-Arbeit und blieb als Executive Producer und Regisseur bei dem Projekt, das mittlerweile von HBO zu Netflix gewandert war. Creator und Showrunner wurde der drehbucherfahrene Australier Joe Penhall (“The Road“). Über Penhalls weitere Beteiligung nach der Anlaufphase wurde das Gerücht gestreut, dass Fincher die kreative Kontrolle über das Projekt übernommen hätte. Tatsächlich sind Penhall und Fincher mit unterschiedlichen Aufgaben an der Entwicklung des Stoffes und auch der zweiten Staffel beteiligt.
Der als Theaterschauspieler bekannt gewordene Jonathan Groff spielt in „Mindhunter“ den Special Agent Holden Ford, der auf dem realen FBI-Agenten John E. Douglas basiert. Holt McCallany („Blue Bloods“) verkörpert seinen Teamleiter Bill Tench, der beim FBI schon länger in der Abteilung für Verhaltensforschung arbeitet. Tench hat den FBI-Agenten und späteren Buchautor Robert K. Ressler zum Vorbild (Whoever Fights Monsters: My Twenty Years Hunting Serial Killers for the FBI, 1992; in Deutschland sehr fantasievoll mit dem Titel Ich jagte Hannibal Lecter vermarktet). Tench ist der Routinier, Ford der neue junge Wilde, der alles auf den Prüfstand stellt.

Dritte im Bunde ist Anna Torv („Fringe“) als Wendy Carr. Carr ist Professorin an der Boston University, eine
Psychologin, die zunächst die Behavioral Science Unit (BSU) berät, dann aber ganz zum FBI wechselt und für die methodische Untermauerung des Forschungsansatzes sorgen soll. Auch diese Figur bezieht sich auf ein reales Vorbild, nämlich auf die Forensik-Expertin Ann Wolbert Burgess, die sich mit traumatisierten Vergewaltigungsopfern beschäftigte.

Ein kompliziertes Trio, das in der ersten Staffel Serienmörder wie Montie Rissell oder den nekrophilen Jerry Brudos interviewt. Dabei wird im Jahre 1977 Pionierarbeit geleistet, denn einen methodischen Rahmen, um die Interviews zu planen, durchzuführen und auszuwerten, gibt es zunächst nicht. Und so sucht man nach Kategorien (organized vs disorganized) und nach dem modus operandi der Killer, um Ordnung in die vielen Toten zu bringen. 
Treibende Kraft ist dabei Holden Ford, dessen Introvertiertheit und mangelnde Kommunikationsfähigkeit im Alltag allerdings nicht dazu beitragen, dem Projekt innerhalb des FBI die notwendige Beachtung zu verschaffen. Der rustikale, aber sozial sehr kompatible Bill Tench ist da schon genau der Typ von Pragmatiker, der den Draht zu den richtigen Leuten hat. Dafür ist Holden ein Kommunikationsgenie, wenn es darum geht, das Vertrauen von Psychopathen zu gewinnen.


Auf alle wartet ein schwarzes Loch

Fettester Fisch an der Angel des Trios ist in der ersten Staffel der hochintelligente Serienkiller Edmund Kemper, ein Soziopath, der freimütig und narzisstisch über seine Taten und die Psyche von anderen Killern philosophiert, dabei aber manipulativ seine eigenen Interessen verfolgt. 

Die erste Staffel endete mit Fords Nervenzusammenbruch, der die dramatische Essenz der Serie drastisch auf den Punkt brachte. Ford hatte seine Brillanz mit raffinierten Interviewtechniken unter Beweis gestellt, war aber überzeugt, die Täter emotional auf Distanz halten zu können. Ein fataler Irrtum. Am Ende der Staffel nimmt der schwergewichtige Kemper den Agenten freundschaftlich in der Arm, teilt ihm aber gleichzeitig mit, dass er ihn auch genauso gut auf der Stelle töten könne, wenn er es nur wolle. Er will aber nicht. Ford bricht zusammen und spürt, dass ihn nur wenige Zentimeter von einem schwarzen Loch trennen, das ihn zu verschlingen droht. Noch beängstigender: auch Serienmörder sind offenbar Menschen.

Mit Holden Ford erwischt es den emotional Inkompetenteste im Team: der Agent hat erst kurz zuvor eine vielversprechende Beziehung beendet, nun hat er eine Beziehung der ganz anderen Art. Und auch Tench, der scheinbar harte Bursche im Team, steht am Ende hilflos vor den Trümmern seines Familienlebens. Klischee? Nein, es wirkt glaubwürdig, auch wenn man sich im Writer’s Room bei der Darstellung von Wendy Carr mächtig aus dem Fenster gelehnt hat. Carr ist lesbisch (was ihr reales Vorbild Ann Wolbert Burgess nicht ist) und kämpft nicht nur privat, sondern auch beruflich gegen ein Outing an, das in Zeiten einer eisernen Homophobie ihr soziales Aus sein könnte. 

Und so sind sie eigentlich alle irgendwie deviant, diese Pioniere des modernen Profiling. Holden Ford, der fanatisch-kreative Kopf, wirkt im banalen Alltag wie ein Autist, der keinen Smalltalk hinbekommt, Tench fressen die Zweifel an seiner Familien auf, während er verzweifelt am Anschein von bürgerlicher Normalität herumwerkelt, und Carr muss aufdringliche Kollegen abwehren, während sie gleichzeitig ihre sexuelle Identität zu verlieren droht und eine Beziehungskatastrophe nach der anderen erlebt.

Die Kritiker machten sich lustig: „Hauptfigur sieht aus wie Emmanuel Macron“

Als NETFLIX „Mindhunter“ 2017 in sein Streaming-Portfolie aufnahm, konnte man nicht wissen, dass sich das Psychodrama zu einem der spektakulärsten Serienevents der letzten Jahre entwickeln würde.
In den deutschen Premium-Medien erntete die Serie eher Hohn und Spott. So nutzte Johanna Adorján ihre Rezension in der „Süddeutschen“ zu einer Generalabrechnung mit dem Quality TV. Sie mokierte sich 2017 darüber, dass Serien nur in die Länge gezogene Filme seien, die nur deshalb gestreckt werden können, weil „ständig neue, noch skurrilere Charaktere auftauchen.“ Geredet würde nur "prätentiöser Käse." Dass eine der beiden Hauptfiguren, nämlich der Darsteller Jonathan Groff, aussah wie Emmanuel Macron, versetzte den Mindhuntern („der nächste Kultur-Stress“) dann den finalen Todesstoß: „…die Serie basiert auf der gravierenden Fehlannahme, dass einen die Hauptfigur interessieren würde.“ Außerdem seien die Dialoge nicht lustig.
 Johanna Adorján ist Schriftstellerin, keine Medienexpertin. Das ist nicht schlimm, aber man staunt schon, dass jemand, der drei Jahrzehnte Seriengeschichte komplett verschlafen hat, sich mit witzelnder Ironie ein adäquates Urteil zutraut.
Die FAZ schrieb vor zwei Jahren deutlich reflektierter über die Serie, war am Ende aber doch erschrocken darüber, dass Kamera, Musik, Dialoge und Schnitt absolut perfekt sind: „Das ist das eigentlich Gruselige an Mindhunter, die Angst, dass von nun an jede Serie mit dieser kühl kalkulierten Raffinesse daherkommen wird.“

Aha. Einfach zu gut, das Ganze. Dass nun aber auch pure Qualität ein Ausschlusskriterium für eine Serie ist, das überraschte dann schon gewaltig.


„Mindhunter“ hat das nicht geschadet. Die Serie gehört mittlerweile zu den erfolgreichsten Serienhits der letzten Jahre. Und das heißt schon eine Menge, denn über Serienmörder wird in der Serie zwar viel geredet, aber die Macher verzichten konsequent auf blutige Szenen, auch wenn die ausführliche Beschreibung der nekrophilen Details von sexuellen Praktiken nichts für Zartbesaitete ist. 


Jenseits der Wissenschaft wird es richtig fies

David Fincher, der in der ersten Staffel viermal Regie führte, stand auch für die neunteilige 2. Staffel dreimal hinter der Kamera, überließ aber die folgenden Regiearbeiten Andrew Dominik (“Killing Them Softly“) und dem Emmy Awards-Gewinner („House of Cards“) Carl Franklin (u.a. „Homeland“, „The Leftovers“, „Ray Donovan“).
Im Mittelpunkt der neuen Staffel steht nicht mehr Holden Ford, der sich nach seinem Zusammenbruch nur langsam berappeln kann, sondern sein Kollege Bill Tench, der durch seine Arbeit größere familiäre Probleme bekommt als er es erwartet hat. Nicht nur die zeitraubende Arbeit des Teams belastet seine Ehe, sondern noch mehr sein knapp 10-jähriger Adoptivsohn. Der entpuppt sich als massiv traumatisiertes Kind, zu dem Tench keinen Zugang findet – der Junge spricht kein einziges Wort mit seinem Vater. Als der Junge in ein Tötungsdelikt verwickelt wird, bei dem eine Gruppe Halbwüchsiger ein Kleinkind umbringt, gerät das Kind in den Fokus der Sozialbehörden und der Jugendpsychiater.
Als Zuschauer entwickelt man da ziemlich schnell düstere Vorahnungen. Wächst da jemand heran, der später Menschen töten wird? Ist das die Kindheit eines Serienkillers?
Clever gemacht. Auch weil genau dieser Verdacht konsequent unausgesprochen bleibt.

Während der ersten zehn Episoden, die alle keinen Titel hatten, sondern wie auch in Staffel 2 schlicht von 1 bis 10 durchnummeriert wurden, hatte man beim Zuschauen gelernt, dass fast alle Serienmörder bereits in ihrer Kindheit verkorkst wurden – in der Regel durch eine grausame oder psychotische Mutter. Und nun soll ein Vater, der als Kriminalist und Verhaltensforscher unzählige Interviews mit Sozio- und Psychopathen geführt und die Vorgeschichte der Täter minuziös rekonstruiert hat, völlig hilflos sein, wenn sein eigener Sohn auf das schwarze Loch zumarschiert, das bereits andere verschlungen hat?

„Mindhunter“ bezieht seine Faszination aber nicht aus einer Metaphysik des Bösen, sondern aus der Genauigkeit bei der Darstellung sozialpsychologischer Trigger Points. Das Triebhafte der Serienmörder wird dadurch nicht trivialisiert, sondern ist beschreibbar. Auch die Lust an der Kontrolle über über Leben und Tod, die den sexuellen Aspekt des Mordens erst freilegt.
Alles hat also Ursachen. Das mindert aber nicht den Horror der ausgeklügelten Geschichte. Vielmehr zeigt
„Mindhunter“, dass jenseits der wissenschaftlichen Ratio etwas fies darauf wartet, seine wahren Schrecken zu offenbaren. Das gilt auch für die Zuschauer.
 Auf sie wartet wenigstens ein Mindestmaß an Kontrolle. Dafür sorgen in „Mindhunter“ die sorgfältig aus den Originalinterviews übertragenen Gespräche des BSU-Teams und die unübersehbar ambitionierten wissenschaftlichen Ansprüche der Serie. Das beruhigt, immerhin wird man gut informiert. Das ist eine Seite der Medaille. 

Aber der Kontrollverlust schwebt trotzdem über allem und allen wie ein Damoklesschwert: Da sind die Akteure, die sich die unkontrollierbaren emotionalen Reaktionen nicht vom Leib halten können und die dabei scheitern, die strikte Trennung zwischen Arbeit und Privatleben aufrechtzuerhalten, erst recht, wenn die Schrecken der Arbeit in den eigenen vier Wänden auftauchen. 
Und da ist auch der Zuschauer. Das Grausen schleicht sich langsam bei ihm ein, man kann sich dem tatsächlich nur schwer entziehen. Wer also klammheimlich Figuren wie Hannibal Lexter goutieren konnte, dem wird der Spaß am Genrehaften in „Mindhunter“ schnell ausgetrieben, wenn er erlebt, wie genial der nicht sonderlich bekannte Cameron Britton den Killer Ed Kemper spielt.
Das ist die andere Seite der Medaille: Man begegnet einem Wahnsinn, der sich auch durch die Wissenschaft analysieren, aber nicht begreifen lässt.


Bei all den viele Gesprächen verliert „Mindhunter“ seinen erzählerischen Schwung nicht, denn die Serie integriert by the way einige Crime Plots in die Handlung. Die neuen Experten, die in der zweiten Staffel von ihrem leutseligen neuen Chef Ted Gunn (Michael Cerveris) volle Rückendeckung erhalten, sind mittlerweile an der Front des Verbrechens gefragte Profiler, die mühelos an Serienkiller-Promis wie den „Son of Sam“ David Berkowitz (Oliver Cooper), den Krankenschwester-Mörder Richard Speck (Jack Erdie) und sogar an Charles Manson herankommen (Damon Harriman spielt den Sektenführer auch in Quentin Tarantinos neuen Film „Once Upon a Time in Hollywood)“. Nicht immer mit Erfolg.

Als im Jahr 1979 in Atlanta eine zweijährige Mordserie an mindestens 28 farbigen Kindern und Jugendlichen beginnt, schickt Gunn seine Vorzeigeagenten Ford und Tench nach Atlanta, um vor Ort ihre Expertise unter Beweis zu stellen. Sie geraten dabei in eine politische Gemengelage, in der die Ermittler zwischen den unterschiedlichen Interessen fast aufgerieben werden. Da sind die lokalen Polizeibehörden, die nur mäßig an einer Unterstützung durch das FBI interessiert sind und lieber den Ku-Klux-Klan observieren. Da ist der farbige Bürgermeister, der die Marketinginteressen der Stadt fest im Blick hat und keinen Serienmörder gebrauchen kann. Und da sind die immer militanter agierenden farbigen Mütter, die ihre Kinder verloren haben und fassungslos sind, als ihnen Holden Ford erklärt, dass der Täter nur ein Farbiger sein kann, da Serienmörder so gut wie nie die Rassenschranken überschreiten.

Am Ende hat Ford Recht. Der 33-jährige Farbige Wayne Williams (Christopher Livingston) wird dank einer der vielen von Holden Ford ausgetüftelten Fallen nahe einer Brücke festgenommen, von der kurz zuvor eine Leiche in den Fluss geworfen wurde. Nach der Festnahme hörte die Mordserie auf. Aber Williams wurde niemals wegen der Morde an den Kindern angeklagt, sondern wegen der Tötung zweier Erwachsener zu lebenslanger Haft verurteilt. Bis 2019 flammten die Ermittlungen immer wieder neu auf.
Wayne Williams war übrigens so etwas wie der nette Nachbar von nebenan. Ein junger Mann mit Schmerbauch, der sich erfolglos als Musikproduzent versuchte.


„Mindhunter“ verabschiedet sich vorläufig mit einer exzellenten zweiten Staffel. Geplant sind fünf. Falls NETFLIX am Ball bleibt, werden wir noch weitere nette Nachbarn von nebenan kennenlernen.


Note: BigDoc = 1


Mindhunter (USA) – Netflix (2017-2019) – zwei Staffeln, 19 Episoden – basierend auf dem Buch Mind Hunter: Inside the FBI’s Elite Serial Crime Unit von John E. Douglas und Mark Olshaker – Idee: Charlize Theron – Creator/Showrunner: Joe Penhall – Executive Producer: David Fincher (auch Regie und Schnitt), Joe Penhall, Beth Kono, Charlize Theron u.a. – D.: Jonathan Groff, Holt McCallany, Anna Torv, Hannah Gross, Cotter Smith u.a.