Sonntag, 16. Februar 2020

Aniara

Filme bewegen sich in Grenzbereichen. Einige zerschellen an der Grenzmauer, weil sie halbherzig sind, andere übersteigen sie mutig. Aber nicht immer ist das, was man jenseits der Mauer findet, auch das, was man sich erhoffte. Der SF-Film „Aniara“ von Pella Kågerman und Hugo Lilja gelingt der Aufstieg. Was danach kommt, war nicht zu erwarten, nämlich wenig Sci-Fi, dafür aber eine Meditation über das, was der Mensch nicht kann in der Leere des Weltalls.
„Aniara“ ist die Verfilmung eines Versepos von Harry Martinson und seit Februar auf Bluray und DVD erhältlich. Der Film ist nie in die deutschen Kinos gekommen. Zu Recht, man erträgt ihn kaum. Er ist zu gut.




Tragisches Ende

Für „Aniara. Eine Revue vom Menschen in Zeit und Raum“ erhielt der schwedische Schriftsteller 1974 zusammen mit Eyvind Johnson den Literaturnobelpreis. Diese Auszeichnung haben ihm einige Kritiker verübelt. Immerhin gehörte Martinson dem Gremium an, das ihn auszeichnete. Vier Jahre später brachte sich der Dichter um, der zuvor unzählige Literaturpreise erhalten hatte, mit einer Schere um.
Ob dies ein Paradigma für Missgunst und Neid ist, kann diskutiert werden. Wird es aber nicht. Denn Harry Martinson ist inzwischen wohl vergessen worden. Wer sein Epos bei Amazon sucht, wird allerdings fündig. Er kann die chinesische Übersetzung von „Aniara“ bestellen. Und wer lange googelt, findet auch die deutsche Übersetzung von Herbert Sandberg als PDF. Nun also der Film. Eine Oper gab es bereits.


Die „Aniara“ ist ein Raumschiff, das einige Tausend Menschen zum Mars bringen soll. Im Prolog sieht man Umweltkatastrophen, schnell zusammengeschnitten sind sie die Erklärung für den Exodus. Wer in Zeiten des planetaren Shutdown noch die Mittel für so eine Rettungsaktion aufbringen kann, wird nicht erklärt. Immerhin: Das Raumschiff ist schnell, aber gerade das wird ihm nach dem Start zum Verhängnis. Weltraumschrott in Form einer kleinen Schraube prallt auf das Schiff und weil es nun mal die kinetische Energie gibt, die in solchen Fällen freigesetzt wird, ist der Schaden des Antriebs fatal. Aufgrund der Äquivalenz von Energie und Materie können wenige Gramm Materie bereits die Wirkung der Hiroshima-Bombe entfalten, da ist eine Schraube schon lebensgefährlich. Die Aniara kann danach nicht mehr gesteuert werden, driftet aber nicht ziellos im All, weil die Fluchtgeschwindigkeit groß genug ist, um das Sonnensystem zu verlassen. Natürlich will das keiner.


In „Aniara“ geht es nur am Rande um Physik. Nur das erhoffte Swing-By-Manöver, bei dem die Gravitation eines anderen Himmelskörpers zur Kurskorrektur genutzt werden könnte, dient kurzfristig als Mutmacher für die panischen Menschen. Als eine mysteriöse Rakete, die im All eingefangen wird, sich auch nicht als rettendes Vehikel erweist, ist allen klar, dass die Aniara ein Generationenschiff geworden ist, das fremden Welten entgegensteuert.


Ähnlich wie in „Ad Astra“ geht also um die ungeheuerlichen Weiten des Alls. Aber sie sind nur der Anlass für eine Vivisektion menschlicher Gefühle – das Labor ist ein Raumschiff, für die Lebenden an Bord gibt es scheinbar keine Ziele mehr außer der Lebenserhaltung. Irgendwann isst man Algen, auch der Sauerstoff wird in einem Biotop erzeugt.
Pella Kågerman und Hugo Lilja folgen in dieser bedrohten Miniaturgesellschaft rhapsodisch, also eher flüchtig und unzusammenhängend, einer Handvoll Personen, an denen sich das existentielle Drama exemplarisch vollzieht. Emelie Garbers spielt Emelie Jonsson, die „Mimaroben“ (in Martinsons Gedicht ist diese Figur die Ich-Erzählerin), die die Passagiere auf den Umgang mit der KI „Mima“ vorbereitet, die wie eine wabernde Masse aus orangener und goldener Farbe an der Decke hängt. „Mima“ kann direkt auf die Erinnerung der Menschen zugreifen, die in einer Art Entspannungsraum auf dem Bauch liegen und in behaglichen Bildern schwelgen, die von der KI in ihre Köpfe projiziert werden. 



„Da seh ich plötzlich klar, wie alles sich gewandelt. Wie diese Menschen, diese Emigranten
doch langsam lernen: das, was einst gewesen, ist nun vorbei, und was als einzige Welt uns noch vergönnt, ist diese Welt bei Mima. Und während wir dem sicheren Tod entgegen durch land- und küstenlose Räume reisen, bekommt die Mima Macht, die Seelen aller zu Ruh und Sammlung tröstend hinzuführen vor jener letzten Stunde, die dem Menschen ja stets bevorsteht, wo er auch daheim sei“ 
(Emelie in Aniara, Vers 6).

Ihre kleine Kabine teilt Emelie mit einer älteren, knorrigen Frau, die von allen nur die „Astronomin“ genannt wird. Anneli Martini spielt diese sarkastische Frau ausdrucksstark als Misanthropin, die bereits früher als alle anderen erkennt, dass eine Rettung nicht nur unwahrscheinlich ist, sondern dass die von ihr verachteten Mitglieder der menschlichen Spezies auch völlig unfähig sein werden, das ihnen auferlegte Schicksal zu meistern. 
Das Sagen an Bord hat der sogenannte Chefone, der Kapitän des Schiffs, der alles unternimmt, um die Ordnung und ein Minimum an Disziplin an Bord aufrechtzuerhalten. Er wird seine Integrität im Laufe der Jahre verlieren und dann auch noch zum Mörder werden. Und da ist noch Isagel (Bianca Cruzeiro), eine wortkarge Pilotin, die ihre Gefühle abschotten kann, später aber wird sie eine sexuelle Beziehung mit Emelie eingehen, aber am Ende ihrer Verzweiflung zugrunde gehen wird.

Zugrunde geht auch „Mima“. Die KI kann den gewaltigen Ansturm menschlicher Erinnerungen und Gefühle nicht mehr ertragen, beginnt ihre Psychose unerwartet mit sprachlichen Kommentaren anzudeuten und begeht schließlich Selbstmord. Es ist der Anfang vom Ende.



Unkonventionell und deprimierend

Pella Kågerman und Hugo Lilja halten sich eng an die nicht leicht zu verfilmende Vorlage. Nicht einfach wird es für Zuschauer, die an Genekonventionen gewöhnt sind. Mit der gnadenlosen Effizienz amerikanischer Genrefilme hat der Film von Pella Kågerman und Hugo Lilja aber nur wenig zu tun. Weder wird mit einer klassischen Dramaturgie eine eindeutige Hauptfigur präsentiert, noch scheinen sich die Regisseure nicht für einen kontinuierlichen Spannungsaufbau zu interessieren. Und schon gar nicht werden psychologisch deutbare Konflikte mit Identifikationspotential etabliert, die am Ende ermunternd aufgelöst werden.
Die Bilder von Spohie Winqvist sind karg, eher dokumentarisch und distanziert. Die Effekte zeigen nur das Notwendige, auf Action sollte man besser nicht warten.

„Aniara“ präsentiert seine Handlung trotz seiner gliedernden Zwischentitel, die auch Zeitangaben machen, vielmehr in immer trostloser werdenden Fragmenten. Der Film mäandert zwischen den Figuren hin und her und passt sich auch stilistisch dem Prozess der Desorientierung an, der die Menschen trotz der luxuriösen Ausstattung der Aniara bereits nach zwei Jahre verzweifeln lässt. 
Man hätte sich durchaus eine differenzierte Figurenzeichnung von den Regisseuren gewünscht, die auch das Drehbuch geschrieben haben. So aber wirkt „Aniara“ zunächst sehr sprunghaft und scheinbar unsystematisch. Allerdings macht das mit zunehmender Laufzeit Sinn. Der Zuschauer wird so in den Sog der zerfallenden kulturellen und sozialen Kräfte hineingezogen, die immer abstrusere Verhaltensweisen auslösen. An Bord des Raumschiffs etablieren sich religiöse Sekten, eine betet „Mima“ an und zelebriert Orgien, die den Film hart an den Rand zur Pornographie führen. Andere leben sich in den Trainingsräumen physisch aus, tanzen und trinken, während sich langsam die Anzahl individueller und ritueller Selbstmorde häuft und Nervenzusammenbrüche kaum noch Beachtung finden.


Natürlich schwebt über all dem die Frage nach dem Sinn. Kann man sich mit seinem Schicksal abfinden, indem man Kinder und Jugendliche ausbildet, damit sie die kommenden Herausforderungen bewältigen können? Bietet die Religion einen Trost, auch wenn man sie für diesen Zweck neu erfinden muss? Aber was kann man erwarten, wenn die „Astronomin“ klarmacht, dass die „Aniara“ trotz ihrer enormen Geschwindigkeit nur ein Tropfen in einem ruhigen Wasserglas ist, der einfach nicht von der Stelle kommt? Sind Sex und Hedonismus mitsamt einer moralischen Scheiß-egal-Stimmung ein Ausweg? Oder sollte man sich einfach umbringen, anstatt in die Schwärze des Alls zu blicken?


Diese Sinnkrise spiegelt womöglich nur die fragilen Konstruktionen wider, die uns auf unserem Planeten das Gefühl geben, dass das Leben ein Ziel und damit einen Sinn haben kann. Das muss Harry Martinson, den Lyriker und Buddhisten, bereits Mitte des vergangenen Jahrhunderts beschäftigt haben. Die Menschen, die am Anfang auf der „Aniara“ landen, sind zum Teil schrecklich entstellt, haben Brand- und Strahlenwunden im Gesicht, während Mutter Erde offenbar dem Untergang geweiht ist. Das Gefühl, vor noch schlimmeren Dingen gerettet worden zu sein, verflüchtigt sich allerdings schnell. Ebenso wie der notwendige Pragmatismus, den man braucht, um herauszufinden, ob das Glas halbvoll oder halbleer ist. Und so zeigt „Aniara“, dass uns die Evolution nur dafür optimiert hat, um in unserer Umwelt angepasst zu überleben. Nicht aber auf die Leere des Weltalls.


„Aniara“ unterscheidet sich in seiner Kompromisslosigkeit deutlich von James Grays „Ad Astra“, der zwischen seinem Film und den Genrekonventionen nur einen kleinen Abstand zuließ. Die Verfilmung von Harry Martinson Versepos ist dagegen illusionslos, brutal und mutig genug, den Abgrund zuzulassen. Daher ist der Film auch nur schwer auszuhalten, es gelingt ihm tatsächlich, ein schwarzes Loch zu zeigen. Nicht jenes der Astrophysiker, sondern jenes, das in uns auf den Moment der Schwäche lauert.

„Ins Paradies hätt’ ich sie gern gebracht,
doch seit wir eins, das wir zerstört, verlassen,
ward uns zum einzigen Heim die Weltraumnacht,
wo’s keinen Gott mehr kümmert, ob wir lieben, hassen.“
(Emelie in Aniara, Vers 102).

 

Postskriptum

Vermutlich wird „Aniara“ nicht viele Freunde finden. Aber Pella Kågerman und Hugo Lilja haben ein bemerkenswertes Kunstwerk erschaffen. Lyrik und Science-Fiction interagieren, wie man es im Kino selten sieht. Die düsteren Bilder des Films zeigen eine Spezies am Rande ihres Vermögens, limitiert und dazu verdammt, die Probleme ihres Planeten zu lösen. Da draußen, erzählen Kågerman und Lilja, erfahren wir nur, wie dünn die zivilisatorische Eisschicht ist, über die wir rutschen. Erfindungsgeist und Phantasie, Disziplin und Selbstbeherrschung gehen verloren, im sektiererischen Wahn verliert man nur zu willig die Vernunft und damit die Werte der Aufklärung. Da Bedrückende ist, dass man dem Film aufs Wort glaubt, was er uns vorführt.

Manchmal sind die Umstände, die eine Filmrezeption begleiten, verblüffend. Bevor ich mir „Aniara“ ansah, hatte ich mir im TV Phil Alden Robinsons Heist-Movie „Sneakers“ angeschaut. Eigentlich leichte Kost, aber der 1992 gedrehte Film überrascht am Ende mit geradezu prophetischen Einsichten in die Welt der Digitalisierung, in der Macht nicht mehr mit Waffen und Patronen erobert wird, sondern mithilfe von Informationen. Das ist schon erstaunlich für einen Film, dessen Macher nicht wissen konnten, was Data Mining bedeutet. Erschwingliche Personal Computer gab es erst seit Mitte der 1970er Jahre, das Internet hielt – heute unfassbar für die Generation Z – faktisch erst in den 1990er Jahren Einzug in unsere Kultur. Google trat 1996 auf den Plan, Facebook wurde 2004 geboren, Twitter 2006. Und danach kamen die Smombies.


Ja, auch harmlose Unterhaltungsprodukte wie „Sneakers“ kann ein Hauch von Genialität streifen. Bei Harry Martinson war es wohl nicht anders, denn die Menschen in Martinsons 1953 entstandenes Versepos verlassen die Welt, weil sie ihre Heimat ökologisch zerstört haben. Bemerkenswert, dass der Harry Martinson lange vor dem „Club of Rom“ so weit in die Zukunft schauen konnte. Und „Aniara“ ist kein schöner Sci-Fi-Film, auch kein Meilenstein des Genres, aber sehr ehrlich – wenn man es aushält. (Die FSK-Freigabe ist daher ein schlechter Witz - und das nicht wegen der Hardcore-Pornoszenen...).


Noten: BigDoc = 2

Aniara – Schweden 2018 – Regie und Buch: Pella Kågerman und Hugo Lilja – Laufzeit: 106 Minuten – FSK: ab 12 Jahren – D.: Emelie Garbers, Anneli Martini, Bianca Cruzeiro, Arvin Kananian u.a.