Mittwoch, 18. März 2020

In diesen Corona-Zeiten…

Natürlich hat auch der Filmclub – zumindest vorübergehend – in Zeiten von Corona aufgehört zu existieren. Keine Filme mehr, zumindest nicht mehr gemeinsam. Dafür regelmäßige Kontaktpflege und Austausch von Informationen – was der eine nicht weiß, das weiß der andere. Einige Gedanken dazu, quasi Off-Label verwendet.



Filme gegen die Angst

Die existieren praktisch nicht. Filme über Epidemien und Pandemien gibt es wie Sand am Meer, postapokalyptische Filme und Serien ebenfalls. In denen geht es weniger um die Krankheit als vielmehr um den zivilisatorischen Kollaps. In fast allen Geschichten ist also maximaler Horror das Ziel, die Erzeugung genüsslich zelebrierter Angst. Und die funktioniert deshalb so gut, weil man sich ja selbst nicht in der Misere der Figuren befindet.

Das hat sich mittlerweile geändert, aber helfen Filme bei der Verarbeitung all der Informationen, die in Corona-Zeiten auf uns einprasseln?

Zwei Beispiele: 
„Outbreak“ (1995) gelingt es, in groben Zügen die globale Wanderung der Viren zu erklären. Wolfgang Petersen hat geschafft, die Verbindung von faktischer Aufklärung und explosiver Spannung gut auszubalancieren – in Zeiten von Ebola konnte man lernen, was Containment in letzter Konsequenz bedeuten kann. Gruselig.
Ermüdend ist aber die Geschichte in einem Punkt: die Verschwörungen einer zumindest in Teilen korrupten Regierung (oder wahlweise auch des bösen Militärs) ist eine Trope, die ihrer Natur gemäß so lächerlich oft in Filmen und Serien wiederholt wird, dass die Menschen irgendwann unterschwellig abgespeichert haben, was sie sehen. Es gibt kaum eine Weltuntergangsphantasie, an der die CIA nicht beteiligt wäre. So funktionieren Fake News. Man muss den Blödsinn nur oft genug wiederholen.


Zweites Beispiel: „Contagion“ von Steven Soderbergh ist der einzige Film, der überzeugendes Infotainment abliefert. Man hat Soderbergh vorgeworfen, dass sein Film zu emotionslos ist und dass er kein wirkliches Interesse an seinen Figuren hat. Andere Kritiker lobten dagegen die schreckliche Genauigkeit, mit der Soderbergh die Dynamik einer Pandemie erklärte. Diese Deutung scheint mir die richtig zu sein.

Auch hier gilt: sich den Film in Zeiten einer Pandemie anzuschauen, ist eine andere Sache als in Zeiten, in denen man sich nicht mal Gedanken über die nächste Grippesaison macht. Es ist daher beängstigend zu sehen, wie schnell Patient X in „Contagion“ eine globale Infektionskette in Gang setzt. Noch beängstigender sind die unvermeidlichen Kontakte und harmlosen Berührungen im alltäglichen Leben, die diesen tödlichen Prozess auslösen und weitertragen. Und diese gnadenlose Ereigniskette bekommen die Gesundheitsbehörden nicht mehr in den Griff, wenn die Reproduktionsrate des Virus ausreichend hoch und die Letalität kaum geringer ist. 
Soderbergh hat einen exakt recherchierten Film über die Dynamik einer Pandemie gemacht. Wobei die Variablen, die einsetzt, zwar deutlich über jenen liegen, die das Coronavirus zurzeit aufweist, aber die Konsequenzen, die daraus folgen, entsprechen den Prognosen der Epidemiologen. Hysterie, Ausschreitungen und Plünderungen inklusive. Hoffen, dass Letzteres dort bleibt, wo es hingehört: im Kino.



Alle Informationen liegen vor: Drucksache 17/12051

In sicheren Zeiten wird man eher das Gefühl haben, dass Steven Soderbergs Film alle Register zieht, nur um den Zuschauer zu schockieren. Aber der Film übertreibt nicht. Erinnern wir uns an die erste ‚offizielle‘ Pandemie des 21. Jh. 2002/2003 verbreitete sich SARS-CoV weltweit, es war das erste Mal, dass das SARS-assoziierte Coronavirus auftrat. Es infizierte über 8.000 Menschen, fast 800 starben an der Krankheit. Ein einziger Superspreader hatte 12 Personen infiziert, Hotelgäste, die kurz danach in ihre Heimatländer flogen. Innerhalb weniger Tage hatte sich das Virus auf dem ganzen Planeten verbreitet. Die Gesamtanzahl der Infizierten während dieser Pandemie haben wir in Deutschland bereits am 17. März längst überschritten.

Reproduktionsrate, Inzidenzrate, Superspeader, exponentielles Wachstum, Letalität - im Moment gibt es viel zu verarbeiten. Menschen, die sich schon vor Jahren vom Zeitungslesen verabschiedet haben oder den Medien nicht mehr trauen und Coronapartys feiern, dürften gefährdet sein, sind aber auch extreme Gefährder. Und zwar weil sie Superspreader sind, die zwar noch nie etwas über exponentielles Wachstum gehört haben, aber in acht Wochen einige Tausend Menschen infizieren können.

Diese Zusammenhänge sind bekannt. Auch den Politikern sind sie bekannt. Sie müssen nicht erst durch Christian Drosten von der Charité in Berlin oder vom Robert-Koch-Institut kerngeschult werden. Bereits am 10.12.2012 veröffentlichte der Deutsche Bundestag die Risikoanalyse „Pandemie durch Virus „Modi-SARS“, die aus heutiger Sicht genauso erschreckend wie Soderberghs Film ein Schreckensszenario ausbreitet, das allerdings mit Vorsicht gelesen werden muss: es ist nämlich ein Worst-Case-Szenario!

Trotzdem: sowohl die Umstände des Ausbruchs als auch die Symptomatik wurden von den Verfassern exakt prognostiziert: Fiber, trockner Husten, Atemnot. Kinder und Jugendliche haben leichte Krankheitsverläufe. Nur die Variablen der Studie sind auf dramatische Weise anders: die Letalität (als die Zahl der Erkrankten, die versterben) liegt bei 10%, bei über 65-Jährigen beträgt sie 50%. Aber die Zahl der Indexpatienten (es sind zwei) und die Ausbreitung in Clustern entspricht den Abläufen, die wir kennengelernt haben.
Davon ausgehend, dass in diesem Szenario drei Jahre lang kein Impfstoff zur Verfügung steht (was aktuell mit großer Wahrscheinlichkeit verhindert werden kann), fallen die folgenden Ereignisse so dramatisch aus, dass sie den Stoff für einen Postapokalypse-Thriller abgeben würden.
Zunächst werden regional, dann bundesweit Schulen geschlossen und Großveranstaltungen abgesagt. Trotzdem werden drei Wellen Deutschland durchlaufen. Während der ersten Welle (Tag 1 bis 411) erkranken 29 Millionen, in der zweiten Welle 23 Millionen und in der dritten noch einmal 26 Millionen. Während dieser drei Jahre sterben 7,5 Millionen Erkrankte.

Aber für das Gesundheitssystem ist auch entscheidend, wie viele Menschen gleichzeitig erkrankt sind – und zwar auf dem Scheitelpunkt der drei Wellen. Wurden rechtzeitig anti-epidemische Maßnahmen ergriffen, sind es laut Risikoanalyse des Bundestages 6 Mio. (davon im Krankenhaus: 4,1 Mio.), dann 3 Mio. (2 Mio.) und in der letzten Welle 2,3 Millionen Menschen (davon im Krankenhaus: 1,6 Mio.).

Noch einmal: diese Zahlen sind Teil eines Worst-Case-Szenarios, das den Politikern einen Verständnisrahmen für zukünftige Entscheidungen geben wollte. Politiker, die alle zukünftigen Maßnahmen im Gesundheitswesen begründen müssen. Jeder mag nun selbst beurteilen, ob die Politik aus dieser Risikoanalyse etwas gelernt hat und ob es daher vermeidbar war, dass jetzt Masken und Schutzkleidung fehlen und in einigen Laboren die Glasröhrchen ausgehen.

Vor acht Jahren prognostizierten die Verfasser auch eine gezielte Desinformation durch Social Media. Aber auch eine streckenweise misslungene Krisenkommunikation: „Nur wenn die Bevölkerung von der Sinnhaftigkeit von Maßnahmen (z. B. Quarantäne) überzeugt ist, werden sich diese umsetzen lassen“ (Seite 67 f.).
Ob dieser Überzeugungsarbeit gelingt, wird zu einer essentiellen Ursache für kommende Ereignisse werden. In der Drucksache 17/12051 bricht unser Gesundheitssystem zusammen (Seite 73).
Trotz eines Worst-Case-Szenarios hilft dieses acht Jahre alte Dokument, das die meisten Politiker (hoffentlich) kennen, auch den interessierten Laien dabei, zu begreifen, wie exponentielles Wachstum funktioniert und das alles schlechter werden wird, bevor es besser wird.
Wir stehen vermutlich nicht vor einer Phase, in der wir einfach nur acht Wochen die Zähne zusammenbeißen müssen, damit alles wieder gut wird. Nein, wir stehen vor einer Phase, in der sich entscheiden wird, ob unser Gesundheitssystem zusammenbricht oder nicht. Aber auch, ob wir den Verlauf so lange verzögern können, bis die ersten Therapeutika eingesetzt werden können. Also Medikamenten, die den konkreten Patienten unmittelbar helfen. Also: wir müssen zwar noch einiges aushalten, aber es wird irgendwann definitiv vorbei sein.



Alltägliches

Persönlich versuche ich, die sozialen Kontakte gegen null zu reduzieren. Nicht nur aus Sorge um mich, sondern auch, weil die Zahl symptomfreier, aber hochinfektiöser Menschen sehr hoch sein soll. Das Bizarre an dieser Situation ist, dass man Täter und Opfer sein kann – gleichzeitig!
Ich verurteile auch nicht die Menschen, die Hamsterkäufe tätigen. Angst ist ein Virus, das sich noch schneller verbreitet als Corona. Viele Menschen in meinem Umfeld (längst nicht alle) sind wie ich verängstigt und verunsichert. Sie erinnern sich noch gut daran, dass vor wenigen Wochen noch von einer harmlosen Erkältungskrankheit gesprochen wurde und dass die aktuelle Grippewelle viel schlimmer sei. So habe ich vor drei Wochen auch gedacht. Nur wenig später müssen wir alle befürchten, dass eine Ausgangssperre verhängt wird.
Aber wieso „befürchten“? Wenn der Virologe Alexander Kekulé Recht hat, dann wäre das Virus weg, wenn wir alle (bis auf Notfälle, die ins Krankenhaus müssen) 2-3 Wochen (also etwas länger als die vermutete Inkubationszeit) zu Hause bleiben. Wenn dann das Virus erneut importiert werden würde, dann wäre man entscheidend auf einen neuen Ausbruch vorbereitet. Leider sähe unser Land danach etwas anders als vorher…


Wer also aus Angst in mittelgroßen Lkw 50 Großpackungen Toilettenpapier nach Hause fährt, handelt rational betrachtet ziemlich idiotisch, aber angesichts dieser Optionen entspricht dieses Verhalten dem evolutionären Programm unserer Spezies: in extremen Notsituationen denken wir an uns und unsere Familie. Alles andere ist uns wurscht.
Sollte es aber nicht, denn selbst in dem scheußlichen Szenario der Drucksache 17/12051 wird nicht von einem Zusammenbruch der Discounter und Supermärkte berichtet (S. 74) und der Selbsteinschluss der Bevölkerung wird auch gegenwärtig nicht diskutiert. Die radikale Reduzierung der Kontakte ist allerdings beschlossene Sache.


Auch Szenen wie in „The Walking Dead“ wird es nicht geben. Durch die Gegend vagabundieren, um Läden und Apotheken zu plündern, während die Toten einen fressen wollen, wird nicht nötig sein. Trotzdem gibt es keine Garantie dafür, dass Hysterie nicht irgendwann in Gewalt umschlagen wird. Auch hier muss jeder eine Mischung aus Fatalismus und Optimismus entwickeln, um sich nicht mitreißen zu lassen.


Versuchen wir also alle, unsere Ängste und Sorgen etwas mehr einzugrenzen. Verschwinden werden sie nicht, das Virus wohl auch nicht. Am wichtigsten ist, dass wir alles besser und anders machen, wenn die Pandemie vorbei ist.

 

Quelle:

Drucksache 17/12051