Montag, 30. März 2020

Das Wunder von Marseille

„Das Wunder von Marseille“ – das ist in jeder Hinsicht ist ein doppelsinniger Filmtitel. 2011 gewann Fahim Mohammad, der 11-jährige Held des Films, als Migrant ohne Papiere die französische U 12-Meisterschaft, an der er nach dem Willen der Verbandsfunktionäre gar nicht hätte teilnehmen dürfen. Später wurde er sogar Schüler-Weltmeister. Ein Wunder.
Dass sein Vater Nura vom französischen Premierminister François Fillon nur dank des Schachtalents seines Sohns eine Aufenthaltserlaubnis erhielt, war angesichts der zu diesem Zeitpunkt deutlich restriktiveren Einwanderungspolitik das zweite Wunder. Vater und Sohn durften danach bis heute in Frankreich bleiben – natürlich auch als öffentlichkeitswirksame Beispiel einer gelungenen Migrationspolitik.



Eine unglaubliche Geschichte

Regisseur Pierre-François Martin-Laval erzählt diese Geschichte, die auf wahren Begebenheiten basiert, als Dramödie, also als Mischung aus Humor und bitterem Ernst. Gleich zu Beginn sieht man ein zerrissenes Bangladesch. Politische Unruhen beherrschen die Straßen, die Polizei schlägt zurück. Als Fahims Vater, ein Offizier der lokalen Feuerwehr, während einer Demonstration identifiziert wird, gerät auch sein Sohn in den Fokus der Polizei. Fahim wurde in der Presse kurz zuvor als Schachgenie gefeiert, nun muss die muslimische Familie fürchten, dass das Kind aus Rache entführt oder gar getötet wird. Fahim flieht mit seinem Vater aus Bangladesch nach Frankreich, entwickelt sich dank der Förderung durch den renommierten Schachtrainers Xavier Parmentier zu einem guten Turnierspieler und wird schließlich französischer Landesmeister in der U 12.

Der Film ist die Adaption des Buches „Un roi clandestine“ (übersetzt: Der heimliche König), das bereits 2015 in deutscher Übersetzung unter dem Titel „Spiel um dein Leben, Fahim!“ erschien und 2019 marktgerecht als Buch zum Film in „Das Wunder von Marseille“ umgetitelt wurde. Verfasst wurde die Autobiographie von der Schriftstellerin und Anthropologin Sophie Le Callennec unter Mitarbeit von Xavier Parmentier, der 2016 verstarb. Ins Deutsche übersetzt wurde das von Andrea Kunstmann. Der Film ist seit Anfang März auf DVD und Bluray erhältlich.

Wumm!

Falsche Erwartungen sollte man nicht haben: weder das Buch noch der Film erzählen eine Geschichte über Schach, sondern über einen Flüchtling, der Schach spielt und dem das Königliche Spiel das Leben rettet. In Pierre-François Martin-Lavals Film gelingt die Trennschärfe zwischen Sportfilm und Sozialdrama etwas intensiver als im Roman, denn die Kamera Régis Blondeaus taucht realistisch ein in die ärmlichen Banlieues der Stadt, in die schäbigen Hotels, die sich Nura und Fahim bald nicht mehr leisten können, in die engen Notunterkünfte und die provisorischen Zeltlager, in denen die Flüchtlinge hausen -  und die kalten Büros, in denen die Migranten ihre Asylanträge begründen müssen.

Dieser Realismus verblüfft, denn „Das Wunder von Marseille“ will auch eine jener typisch französischen Feel Good-Komödien sein, in denen zwar aktuelle Probleme thematisiert werden, über die man dann aber leichtfüßig hinwegwitzeln kann. 
In Martin-Lavals Film sorgt Gérard Depardieu als rabiat-kauziger Schachtrainer Sylvain für diesen komödiantischen Touch, unterstützt und auch kritisch hinterfragt von der herzensguten Schulsekretärin Mathilde (Isabelle Nanty), die am Ende sogar im Alleingang Fahim und seinen Vater retten wird. Zwei genretypische Figuren, die immer wieder für lockere Sprüche gut sind.

Den kleinen Fahim nimmt Sylvain erst dann in seinen Kurs auf, als er dessen enormes Talent erkennt. Der schwergewichtige Gérard Depardieu läuft dabei zu großer Form auf. Die Verwandlung vom zynischen Misanthropen in einen empathischen Freund und Förderer gelingt dem Altstar nicht dann, wenn er am Demobrett seinen Schülern Partien vorführt, Schach als brutalen Krieg definiert und jedes Opfer mit einem krachenden Faustschlag gegen die Wand begleitet, sondern als er endlich damit beginnt, sich über die politische Zerrissenheit von Fahims Heimat zu informieren. Sylvain nimmt Fahim nun nicht mehr als Schachspieler wahr, sondern als Kind mit einer schweren Bürde.
Fahim ist ein ungeschliffener Diamant, der auf den 64 Feldern nur den Angriff kennt und erst noch den positionellen Feinschliff benötigt, um die Spielstärke eines Meisters zu erlangen. Das junge Schachtalent wird von Assad Ahmed gespielt. Es ist seine erste Filmrolle, beim Casting landete er nur durch einen Zufall. Während der von Mizanur Rahaman zurückhaltend und glaubwürdig verkörperte Vater Fahims mit ewig traurigem Blick und der für ihn unüberwindbaren Sprachbarriere immer weniger mit der Kultur- und Sozialpolitik eines fremden Landes klarkommt, spielt auch Assad Ahmed seine Rolle als enorm anpassungsfähiges Kind verblüffend gut. Selbstbewusst und am Schachbrett aggressiv auftretend, gelingt dem Kind die Anpassung an Sprache und Kultur mühelos.

Dass die Vater-Sohn-Beziehung zunehmend an Bedeutung verliert, gehört zu den Schwächen des Films. Während Fahim immer mehr in seinem Schach-Biotop versinkt, wird sein Vater immer mehr zur Randfigur. Dass Nura ausgewiesen werden soll, nur noch auf der Straße lebt und nachts in den U-Bahn-Stationen schläft, zeigt „Das Wunder von Marseille“ nur noch episodisch. Fahim bekommt davon nichts mehr mit.

Buch und Film unterscheiden sich erheblich – auch in Sachen Schach

Sophie Le Callennec erzählt in „Spiel um dein Leben, Fahim!“ sehr differenziert von den politischen und sozialen Spannungen in Frankreich, dessen Migrationspolitik sich 2011 bereits im Umbruch befindet. Der kleine Fahim muss im Buch (er tritt als Ich-Erzähler auf) die Erkenntnis verarbeiten, dass es für ihn in Frankreich erneut ums nackte Überleben geht. Dabei gelingt es der Ghostwriterin Sophie Le Callennec, den „anderen Blick“ eines Kindes auf diese prekäre Umgebung empathisch in eine ausdrucksstarke Kunstsprache zu verwandeln. Und die zeigt deutlich, dass Fahims Trennung von seiner Mutter und seine extremen Kindheitserfahrungen nur schwer zu bewältigen sind. 
Dieser Blick wird durch die intelligenten Kommentare des Schachtraines Xavier Parmentier ergänzt, der Fahims Geschichte aus einer anderen Perspektive sieht: Politisch, sozial, kulturell - und natürlich sportlich. Dem Leser wird klar, dass das Buch von einem schwer traumatisierten Kind erzählt. Der Film „erspart“ dem Zuschauer diese ernüchternden Perspektiven.

Und das Schach? So beindruckend das Buch auch ist, wer etwas über Schach lesen will, wird enttäuscht sein. Sophie Le Callennec schreibt völlig kenntnisbefreit über ein Spiel, das sie offenbar nicht versteht. Auch Andrea Kunstmann konnte als Übersetzerin die schwierige Materie nicht bändigen. So werden Figuren nicht etwa getauscht, sondern „geworfen“. Und dass Fahim im Buch ohne Kompensation eine Dame einstellt, um dann den stundenlangen „Zermürbungskampf“ zu gewinnen, scheint – gelinde gesagt – doch recht fiktiv zu sein. 
Bereits als Achtjähriger demonstrierte der echte Fahim 2008 in einem ungarischen Open eine Spielstärke von deutlich über ELO 2000 - und diese Wertungszahl ist nicht weit von der eines erfahrenen Meisterkandidaten entfernt. Dass einem Achtjährigen, der gestandene Turnierspieler schlägt, elementare Kenntnisse beigebracht werden müssen, obwohl er enthusiastisch als Genie gefeiert wird, wirkt nicht gerade überzeugend.
Im Film ist funktioniert das besser. Die Trainingsstellungen Sylvains sind nicht nur realistisch, sondern deuten ein gehobenes Niveau an. Ebenso die Partiefragmente, die man immer wieder im Film sieht. Und das ist angesichts der oft abstrusen Darstellung von Schach in Kinofilmen ein fetter Pluspunkt für „Das Wunder von Marseille“.

Guter Film trotz einiger Abstriche

Den Film von Pierre François Martin-Laval, der auch an dem Drehbuch mitarbeitete, ist insgesamt sehenswert, auch wenn er einige biografische Details seiner gradlinigen Dramaturgie geopfert hat. „Das Wunder von Marseille“ ist ein Nischenfilm, daran ändert auch die Verpflichtung des Zugpferdes Gérard Depardieu kaum etwas. Aber Martin-Lavals Film macht doch eine Menge aus der komplizierten Thematik und ist auch schachtechnisch auf der Höhe. Dass der Film mit dem größten Triumph seiner Hauptfigur endet und dann auch noch ein fettes Happy-Ende serviert, ist ein marktgerechter Kompromiss, den man wohl oder übel akzeptieren muss. Im Film wird die Familie wieder zusammengeführt, in der Realität sah dies anders aus.


Dort wurde Fahim Mohammad recht schnell FIDE-Meister. 2018 erreichte er eine ELO von 2383 (entspricht in etwa der Spielstärke eines Internationalen Meisters, Großmeister haben eine ELO von über 2500, der Weltmeister Magnus Carlsen liegt über 2800), danach stürzte Fahim in einem Turnier in Metz völlig ab, verlor fast alle Partien und büßte 250 ELO-Punkte ein.
Ob der Tod seines Mentors Xavier Parmentier einen Anteil an dieser Entwicklung hat, bleibt offen. „Als ich den Film sah, war ich gerührt, hatte aber gleichzeitig ein seltsames Gefühl. Alles ist echt, aber ich fand, dass es eigentlich nicht um mich ging“, beschrieb Fahim Mohammad seine Erfahrungen mit der filmischen Fiktion. „Die Geschichte ist im Groben meine Geschichte, aber der Fahim des Films entspricht nicht vollkommen meiner Person. (…) Ich persönlich mag den Film, weil er nicht nur das Elend der Menschen schildert und weil er eine schöne Geschichte erzählt, denn die Figuren schlagen sich ja am Ende durch. Ich mag ihn auch deshalb, weil Schach dort eher als Abenteuerspiel behandelt wird statt als intellektuelles Spiel. Leute, die nichts davon verstehen, werden trotzdem auf ihre Kosten kommen. (…) Im Gegensatz zu dem, was man denken könnte, hatte ich nie vor, mein ganzes Leben dem Schachspiel zu widmen. Ich fürchte mich zu sehr davor, verrückt zu werden, wie einige große Meister. Deshalb brach ich vor einigen Monaten mein Training ab. Ich werde es wieder aufnehmen, aber ganz sachte. Heute bin ich mit mir im Reinen. Ich denke nicht mehr an die Zeit, als ich auf der Straße schlief.“

„Das Wunder von Marseille“ hat mich positiv überrascht, ich hatte mit einer gelungenen Umsetzung des Stoffes nicht gerechnet. Unterm Strich wird diese ungewöhnliche Migrationsgeschichte mehr als passabel erzählt, im wahren Leben gibt es allerdings mehr Brüche. 
„Fahim wartet immer noch darauf, seine Mutter wiederzusehen“, schreibt Sophie Le Callennec im Nachwort des Buches. „Aber indem das Leben ihm seine Kindheit raubte, hat es ihm die Flügel gestutzt. In ihm zirkuliert immer noch das Gift der Angst. In seinem Alter steckt man dreieinhalb Jahre in der Hölle nicht so leicht weg (…) Er ist zwar kein illegaler König mehr, aber noch immer ein König auf dem Wege der Genesung.“

Das Wunder von Marseille – Original-Titel: Fahim – Frankreich 2019 – Regie: Pierre François Martin-Laval – Buch: François Martin-Laval u.a. – Laufzeit: 107 Min. – FSK: ab 12 Jahren – D.: Assad Ahmed, Gérard Depardieu, Isabelle Nanty, Mizanur Rahaman u.v.a.