Mittwoch, 23. März 2022

The Power of the Dog

Als reiner Lizenznehmer überlebt man weder im Streaming-Business noch in der Auseinandersetzung mit den großen Networks. Eigenproduktionen sind die Ultima Ratio, nicht nur bei NETFLIX. NETFLIX gelingt es allerdings regelmäßig, neben hunderten von selbst produzierten und unspektakulären Filmen und Serien auch mit ambitionierten Produktionen erfolgreich in den Filmmarkt einzudringen.
„Roma“ (Alfonso Cuarón), „The Ballad of Buster Scruggs“ (Coen Brothers), „The Irishman” (Martin Scorsese), „Mank” (David Fincher) und „Army of the Dead” (Zack Snyder) sind nur einige Beispiele. Oscar-Nominierungen für Filmkunst von NETFLIX gab es am Fließband, auch etliche Auszeichnungen, 2021 sogar für einen Dokumentarfilm. „Mank“ dagegen stürzte 2021 trotz 10 Nominierungen ab. Der neueste Coup von NETFLIX hat bereits 12 Oscar-Nominierungen verbucht: Jane Campions „The Power of the Dog“. Ganz und gar zu Recht. Was unterm Strich übrig bleibt, wird man sehen.

Ein spannendes Arschloch

Auch wenn Regisseure wie Christopher Nolan befürchten, dass Eigenproduktionen das Kino ruinieren, wird dieses Lamento NETFLIX und Co. nicht aufhalten. Gerade in Corona-Zeiten profitierten die Streamingdienste von den pandemischen Zuständen, während die Kinoketten am Abgrund standen. Auch andere Gründe erklären, warum sich immer häufiger prominente Filmkünstler von NETFLIX bezahlen lassen. Man kann in Ruhe arbeiten und muss sich keine Gedanken um die Finanzierung machen.

Das war wohl auch bei Jane Campion der Fall. Die 68-jährige neuseeländische Filmregisseurin und -produzentin (1993 „Goldene Palme“ für „Das Piano“) hat seit 13 Jahren keinen Film mehr gedreht und war 2013 und 2017 immerhin mit der interessanten, aber auch leicht überspannten Serie „Top of the Lake“ in Erscheinung getreten. Mit der Verfilmung des gleichnamigen Erfolgsromans des 2003 verstorbenen Schriftstellers Thomas Savage hat sich Campion nun wieder ins Rampenlicht begeben, nachdem einige ihre älteren Filme eher das anspruchsvolle Arthouse-Publikum bedienten.
„The Power of the Dog“ ist dagegen mainstream-tauglich, wohl auch dank des Casts. So brillieren Benedict Cumberbatch und Kirsten Dunst, die zuletzt nicht häufig zu sehen war, sich nun aber über ihre erste Oscar-Nominierung freuen darf. Gleiches gilt für Cumberbatch, der die besten Chancen besitzt, die Trophäe im zweiten Anlauf zu gewinnen (zuletzt 2014 nominiert für „The Imitation Game“).

In „The Power of the Dog” spielt Cumberbatch ein Arschloch. Aber ein spannendes. Phil Burbank (Cumberbatch) und sein Bruder George (Jesse Plemons) sind wohlhabende Viehzüchter inmitten einer Zeitenwende. Wir sind in Montana im Jahr 1925. Im nord-westlichen Bundesstaat der USA fahren bereits die ersten Autos, auch George hat eins, aber Phil Burbank lebt lieber in der Vergangenheit. Alles Moderne lehnt er im Gegensatz zu seinem Bruder kategorisch ab. Für Phil ist der alte Westen mit seiner Cowboy-Kultur nicht untergegangen. Phil lebt nur, wenn er auf dem Rücken eines Pferdes sitzt und das Vieh zusammentreibt. Und wenn er von Bronco Billy erzählt, einem Vorzeige-Cowboy, der Phils Mentor war, bevor er starb, dann lebt Bronco Billy als Phils Über-Ich in den Anekdoten weiter, die er seinen Cowboys erzählt. Das hört sich nach Neo-Western an, ist am Ende aber ein Krimi – im wahrsten Sinne des Wortes.

Da viele Zuschauer im Kino nach einer Botschaft suchen oder zumindest nach dem, was uns ein Film sagen will, soll dieser Wunsch umgehend erfüllt werden. In „The Power of the Dog” geht es um einen reichen Rancher, der seine homosexuellen Wünsche unterdrückt, indem er in einer homophoben Männergesellschaft den harten Hund spielt und auch sonst ein Arschloch ist. Durchzuhalten ist das nur, wenn man ausreichend Macht besitzt, um die etablierten Verhältnisse zu konservieren. Doch im Zwang ist Freiheit eine Illusion. Als die Hauptfigur endlich ihrer Libido freien Lauf lassen will, ist das sein Untergang.

Alle, die ein wenig Freud gelesen haben, werden nun wissen, was uns Jane Campion erklären will. In jeder schlauen Geschichte steckt aber eine triviale Lesart. So einfach ist das also nicht, denn Phil Burbank ist eine äußerst ambivalente Figur. Er gehört zu den schwer zu ertragenden Zeitgenossen, die pausenlos sarkastisch sein müssen und Vergnügen daran finden, andere zu erniedrigen. Zynismus und ein gewisser Hang zum Sadismus bekommt auch der füllige George ab, der in Gegenwart seines Bruders immer eingeschüchtert stammelt. Ein ungleiches Paar, das sich sogar das Schlafzimmer teilt.

Die Katastrophe bahnt sich an, als der sensible und gut erzogene George sich in die Gasthausbesitzerin Rose Gordon (Kirsten Dunst) verliebt und sie heimlich heiratet, bevor es der Bruder verhindern kann. Aber Rose findet auf der Ranch keine glänzende Zukunft vor, sondern nur die Einsamkeit. Phil demütigt die Frau, gelegentlich subtil, meistens brutal. George ist nicht imstande, seiner Frau zu helfen. Er ist fast immer geschäftlich unterwegs und verschwindet dann sogar vollständig aus der Handlung. Irgendwann greift Rose zur Flasche und verfällt ganz und gar dem Alkohol. Phil hat gewonnen, nur muss er die Frau irgendwie endgültig loswerden.

Benedict Cumberbatch spielt die Rolle grandios. Phil ist zwar der perfekte Phänotyp einer toxischen Männlichkeit, aber die deutlich ausgestellte Männlichkeitspose (Kleidung, Auftreten, Sprache) und die ungeteilte Macht, die Phil über die anderen Cowboys auf der Ranch ausübt, sind nur eine Rolle. Sie dient der nostalgischen Bewahrung einer vor dem Verschwinden stehenden Männerkultur, verkörpert durch Bronco Billy, der den Mythos des alten Westens über den Tod hinaus verkörpert.
Tatsächlich ist Phil aber kein ungehobelter Macho. Er ist, was im Roman von Thomas Savage deutlicher erzählt wird, ein verkappter Intellektueller mit College-Abschluss. In Campions Film wird das nur gelegentlich angedeutet. Phils Macht ist daher nicht nur physischer Natur, sondern funktioniert aufgrund seines messerscharfen und gut ausgebildeten Verstands und einer besonderen Empathie, die gnadenlos die Schwächen anderer analysiert. Phil dürfte seinen Shakespeare gründlich gelesen haben.

Der Kampf um die Macht

„The Power of the Dog“ erzählt diesen Plot als Veränderung der Machtverhältnisse. Sie ereignet sich auf drei Beziehungsebenen, die von Campion in durchnummerierte Kapitel gegliedert wird. Auf die Beziehung zwischen Phil und George, die mit trister Endgültigkeit ausbalanciert ist, folgt die Unterwerfung einer Frau, die die Homöostase zwischen den Brüdern bedroht. Kirsten Dunst spielt dies sehr nuanciert, auch wenn die Figur der Rose nicht zu den starken Frauen gehört, die Jane Campion in ihren Filmen bislang porträtierte.
Das wird nicht immer verstanden. So beklagte sich Rüdiger Suchsland: „Vor allem aus Kirsten Dunsts Figur macht Campion zu wenig, was auch deshalb enttäuscht, weil man von ihr Frauenfiguren von großer Tiefe und Komplexität kennt, was man in diesem Fall kaum behaupten kann. Und weil ausgerechnet Campion hier eine weibliche Figur fast komplett instrumentalisiert, und man sich gut vorstellen kann, wie das bei einem männlichen Regisseur in gewissen Kreisen kommentiert würde. Campion zeigt sich in diesem Film als sensibler für das Leiden der Männer und geradezu als Regisseurin, die Männer viel interessanter findet als die rein funktionalen Frauenfiguren dieses Films.“

Filme dürfen also nicht mehr von wehrlosen und erniedrigten Frauen erzählen, auch wenn dies in der literarischen Vorlage steht und sogar eine autobiographische Bedeutung besitzt. Denn Thomas Savages Roman bezieht sich eindeutig auf seine Jugenderfahrungen. Aus seiner Mutter wurde die Figur der Rose und sein ekeliger Stiefonkel verwandelte sich in Phil Burbank. Man muss sich also nicht dem Zeitgeist beugen, wenn das Sujet und die literarische Vorlage unbestreitbar eine Geschichte von Männern erzählen, egal, ob man das mag oder nicht.

Jane Campion hat die fiktive Rose keineswegs instrumentalisiert. Tatsächlich erinnert Kirsten Dunst an Holly Hunter als Ada McGrath in Campions „Das Piano“ (1993), auch weil in diesem Film ein Klavier der symbolische Ausdruck sexueller Konstellationen zwischen verfeindeten Männern war. Während das Klavier in Campions wohl erfolgreichstem Film sinnbildlich für die Unterdrückung einer Frau stand, verkörpert es in „The Power of the Dog“ eine andere Facette toxischer Männlichkeit. Als George den Gouverneur, dessen Gattin und seine eigenen Eltern zu einer Dinner Party einlädt, kann Rose nicht spielen. Sie hat die Noten vergessen. Zwar hat sie zuvor tagelang geübt, aber nur um zu erleben, dass Phil alles, was Rose nicht gelang, perfekt auf dem Banjo spielte.

Die dritte Beziehung, in der es um das Ränkespiel der Macht geht, entsteht zwischen Phil und Peter Gordon (Kodi Smit-McPhee), dem Sohn von Rose. Peter ist Medizinstudent, hat aber die Ranch bislang gemieden. Als er in den Sommerferien endlich seine Mutter besucht, findet er diese in desolater Verfassung vor. Der feminin wirkende Peter wird von Phil und seinen Cowboys als „sissy“ verspottet, was ein Synonym für Tunte ist. Erstaunlicherweise wendet sich Phil dann doch dem Jungen zu, erst recht, als dieser einen Test besteht, der von Bronco Billy stammt. Peter erkennt in der hügeligen Landschaft die Konturen eines bellenden Hundes. Phil ist nun beeindruckt, noch nie hat jemand Broncos Rätsel gelöst.

Die Silhouette des Hundes ist ein Hinweis auf die Bedeutung des Filmtitels, der sich auf den biblischen Psalm 22:20 bezieht. So bittet der gekreuzigte Jesus seinen Vater: „Deliver my soul from the sword, my darling from the power of the dog.” Die Luther-Bibel hat dies mit “Errette meine Seele vom Schwert, meine einsame von den Hunden“. In der englischen Übersetzung ist ‚my darling‘ ein Synonym für Seele, wird aber auch mit ‚my precious life‘ übersetzt. Und dies bedeutet ‚mein kostbares Leben‘. Und die Hunde? Sie verkörpern das Böse.

Jane Campion hat in einem Interview mit IndieWire ihre eigene Lesart erklärt: “As the title stands, it’s a kind of warning. The power of the dog is all those urges (dts. Wünsche, unkontrollierbares Begehren), all those deep, uncontrollable urges that can come and destroy us, you know?”

Nach der Lösung des Rätsels wird Peter von Phil in die raue Männerwelt eingeführt. Phil bringt ihm das Reiten bei, sie verbringen viel Zeit in der Natur. Zeit, in der Phil sein Selbst zu erkennen beginnt, ohne zu ahnen, dass Peter als Stratege der Macht ihm um einiges voraus ist.
Peter wird ganz am Ende des Films den Psalm 22:20 in einem Handbuch für Beerdigungen lesen. Aber da wird er schon das seiner Mutter gegebene Versprechen, dass sie bald ein besseres Leben führen wird, eingelöst haben. „The Power of the Dog“ ist tatsächlich ein respektabler Krimi geworden.

Viele Lesarten eines enigmatischen Films

„The Power of the Dog“ kann man als Neo-Western rezipieren. Wenn man den Neo-Western als Antwort auf die Formeln des klassischen Western versteht, dann mag das zutreffen. Immerhin gibt es einige interessante Verweise auf John Ford. So erinnert die Figur des Phil Burbank entfernt an den von Lee Marvin gespielten Liberty Valance in „The Man Who Shot Liberty Valance“. Etwa wenn Phil zu Beginn von Campions Film durch sein rüdes Auftreten die Gäste aus Rose Gordons Lokal vertreibt oder die Dinner Party sprengt. Nur dass sich eben kein John Wayne dem Rüpel entgegenstellt.

Ästhetische Parallelen erkennt man in den Einstellungen, in denen Campions Kamerafrau Ari Wegner wie in Fords „The Searchers“ durch offene Türen filmt und die offene Landschaft Montanas zeigt. In Fords Film wartet draußen die Freiheit, die einsam macht, drinnen die Heimat, die Gemeinschaft, die Familie, die der einsame Held beschützt, in der er aber keinen Platz findet. In Campions Film wartet in der Kadrierung immer noch die Freiheit, aber sie ist endgültig ein falsches Versprechen geworden, ein Mythos, der sich auflöst. Und drinnen warten Terror, Gemeinheit und Erniedrigung. Eine Dekonstruktion der klassischen Werte, in der besonders Phil einen aussichtslosen Kampf um die eigene Identität führt.

Dies erinnert durchaus auch Elisabeth Bronfens Analyse in „Heimweh: Illusionsspiele in Hollywood“. Dort verwies Bronfen in der Untersuchung von Fritz Langs „Secrets Beyond the Door“ (1948) darauf, dass es Abwehrmechanismen gibt, die „vor traumatischem Wissen schützen, indem sie (…) erlauben, dieses bedrohliche Wissen auf verschlüsselte und somit erträgliche Weise zum Ausdruck zu bringen.“
In „The Power of the Dog” gelingt es Phil durch Homophobie und Frauenfeindlichkeit, seine Fassade zu schützen. Aber Campion, und das ist die eigentliche Qualität des Films, interessiert sich mehr für die Figuren als für vordergründige Bedeutungen. Etwa wenn sie Phils Gesicht endlos lang in einem Closeup studiert, während er zuhört, wie George und Rose im Nebenzimmer Sex haben.
Es ist eine „Schutzdichtung“ (Bronfen), wenn Phil in den Stall geht und Bronco Billys alten Sattel liebevoll putzt oder wenn er halbnackt im Gras liegt, seinen Körper mit einem Schal des toten Bronco Billys liebkost und danach masturbiert, aber ausgerechnet in diesem Moment diskreter Intimität von Peter entdeckt wird.
Aber anders als bei Bronfen soll Phils Refugium nicht das traumatische Wissen fernhalten, sonders es zuzulassen, auch wenn dazu die völlige Kontrolle über die Situation nötig ist. Die wird von Peter zerstört, der schon lange ahnt, was Phil und Bronco Billy verbunden hat. Das Faszinierende ist, dass Benedict Cumberbatch dies so brillant spielt, dass man förmlich spürt, wie Phil sein Schwulsein ‚auf erträgliche Weise‘ ausdrücken kann, ohne es sich selbst einzugestehen.

Leider haben sich einige Kritiker in die Darstellung der Frauen in Campions Film festgebissen. Wieder einmal Frauen in einer Opferrolle, die am Ende von Männern gerettet werden! Die Regisseurin hat ihre Perspektive ziemlich rustikal auf den Punkt gebracht: „Die Opfer von Männern wie Phil zu zeigen, gehört aber dazu. Das Interessante an solchen Alphamännern ist ja, dass eigentlich niemand sie leiden kann, nicht einmal andere Alphas. Sie machen jedem das Leben zur Hölle, letztlich auch sich selbst. Aber sie haben eben eine Macht in dieser Welt, mit der wir alle umgehen müssen. In den USA war bis vor gar nicht allzu langer Zeit einer dieser Männer mit so einer – ich will mal sagen: idiotischen – Macht schließlich sogar Präsident.“

Dass Campion in ihrem Film abseits des politischen Seitenhiebs eine besondere Dialektik zwischen Stärke und der ihr innenwohnenden Schwäche mit großer Sensitivität nachspürbar macht, gehört ganz sicher zu den Charakteristika guter Filme. Allerdings muss man als Zuschauer genau hinschauen, um statt einer vordergründigen Botschaft die subtilen Nuancen zu entdecken. Zu empfehlen ist es daher, zumindest die Inhaltsangabe des Romans von Thomas Savage in der Wikipedia nachzulesen. So viel Zeit muss sein.

Noten: BigDoc = 1,5

Quellen:

  • Elisabeth Bronfen (1999): Heimweh: Illusionsspiele in Hollywood
  • IndieWire: Jane Campion Talks About ‘The Power of the Dog’ and the Myth of the Sensitive Cowboy


The Power of the Dog-- USA/AUS/NZ 2021 – Laufzeit: 128 min. - FSK: ab16 
- Regie: Jane Campion - Drehbuch: Jane Campion - Kamera: Ari Wegner- Darsteller: Benedict Cumberbatch, Kirsten Dunst, Jesse Plemons, Kodi Smit-McPhee.