Dienstag, 8. März 2022

„Nobody“ – Gewalt macht Spaß

Wohin uns das Kino führt, ist ungewiss. Aber „das“ Kino gibt es nicht, und angesichts der Filme, die uns hoffen lassen, eine friedvolle und gewaltfreie Gesellschaft erschaffen zu können, verschließen viele die Augen vor den kinematographischen Rändern.
Dort wird eine andere Agenda vehement vertreten: Gewalt macht Spaß, Töten ist ein Lebenselixier und knietief im Blut zu waten ist ein pures Aphrodisiakum. Nicht anders lautet die Botschaft des russischen Musikers und Regisseurs Ilya Naishuller in seinem Genremix

„Nobody“.


„Modern Times“ in der spießbürgerlichen Vorstadtidylle

„Es gibt kein richtiges Leben im falschen“, schrieb einst Theodor Wiesengrund Adorno, einer der wichtigsten deutschen Nachkriegsphilosophen. Das meint, dass man keine legitime Nische für ein richtiges, ehrliches Leben finden kann, wenn die Welt im Ganzen kaputt ist. Nach Auschwitz gäbe es ohnehin kein Sinn mehr, meinte Adorno. Wenn also alles eine Lüge ist, kann auch das private Refugium nichts anderes sein. Das stimmt vielleicht, aber da Adorno sehr komplizierte Sätze drechselte, ist er mittlerweile vergessen.

Adorno führt uns direkt zu Hutch Mansell. Ilya Naishuller teasert dessen Leben gleich zu Beginn durchaus witzig als Abfolge trivialer und monotoner Tagesabläufe. In rasendem Tempo ziehen die Bilder vorbei, Kalenderblätter fallen rhythmisch durchs Bild wie in einem klassischen Hollywood-Schinken. Manswell arbeitet im metallverarbeitenden Betrieb seines Schwiegervaters, bedient brav die Stechuhr und verpasst daheim regelmäßig und ziemlich slapstickartig die Mühlabfuhr. Immer das Gleiche. Tag für Tag. Nervig, eintönig und lächerlich. Irgendwie „Modern Times“ in der spießbürgerlichen Vorstadtidylle.

Seine Frau Becca (Connie Nielsen) schläft seit Jahren nicht mehr mit dem Langweiler und als ein unprofessionelles maskiertes Pärchen nachts die Familie überfällt, ist es Mansells Sohn Blake (Gage Munroe), der sich den Schmalspurganoven entgegenstellt, während sein Vater zuschaut, obwohl er eingreifen könnte. Der Mann ist ein Weichei, oder?

Naishullers Film präsentiert diesen Prolog nur, um seine Plot-Prämisse zu bebildern: Wie findet Mansell zurück in (s)ein ‚richtiges‘ Leben? So erfährt der Zuschauer, dass der biedere Familienvater tatsächlich der „Revisor“ ist (in der Originalfassung „auditor“ genannt), eine extrem brutale Killermaschine, die im Auftrag diverser US-Geheimdienste perfekt seine Kill-Listen abarbeitete, nicht ohne die Delinquenten zuvor ausführlich zu befragen. Tot sind sie nach dem Gespräch trotzdem. Mansell beschreibt sich irgendwann als „the last guy any organization wants to see at their door." Das ist natürlich geklaut und erinnert Breaking Bad-Fans sofort an Walter Whites
„I am the one who knocks."
Als der
„Revisor“ einen bösen Finger aus Mitleid laufen ließ, war er nicht mehr zu gebrauchen und quittierte den Dienst, um sein wahres Glück mit Frau, Kindern und einem kleinen Häuschen in den Suburbs zu finden. Wer glaubt das schon?

„Nobody“ demontiert seine Hauptfigur am Anfang also nur, um genüsslich zeigen können, wie er wie der Phoenix aus der Asche zurück zu seinem wahren Ich findet. Das ist ein kompletter Gegenentwurf zu den durchschnittlichen Männern in Steven Spielberg- und Roland Emmerich-Filmen, die über sich hinauswachsen, zu Helden werden, um ihre Familie zu retten.
Hutch Mansell hat dagegen Downsizing betrieben und die Selbstvertrottelung zum Lebensentwurf gemacht - ein Mann, der nicht mal die Termine der Müllabfuhr im Kopf hat. Wirklich originell ist das nicht und es könnte ungepflegt in die Hose gehen, wenn Ilya Naishuller nicht Bob Odenkirk für die Hauptrolle gecastet hätte. Eine gezielte Fehlbesetzung, die sich als Volltreffer entpuppt.

Bod Odenkirk überspielt grandios alle Macken des Film

Bob Odenkirk („Breaking Bad“, „Better Call Saul“) hat im Serienkosmos des X-Files-Creators Vince Gilligan den schmierigen, aber irgendwie witzigen Anwalt Saul Goodwin gespielt, dessen tragische Vorgeschichte mittlerweile ein eigenes Prequel erhielt. Goodwin vertrat zwar Ganoven und Schwerverbrecher, hatte aber mit Gewalt selbst so viel am Hut wie eine Kuh mit dem Schlittschuhlaufen. In „Nobody“ spielt Odenkirk gegen dieses Rollenprofil an. Das Anti-Zyklische war wohl auch beabsichtigt, und tatsächlich gelingt dies Odenkirk verblüffend gut. Geradezu sensationell, denn der Schauspieler schien bislang alles andere als ein Actionstar zu sein.
Zu seinem wahren Ich findet Hutch Mansell zurück, als er nachts in einem Bus ein halbes Dutzend russischer Schläger krankenhausreif prügelt. Mansell steckt selbst eine Menge ein, aber danach fühlt er sich so vital wie nach einer Wellness-Kur in einem Reha-Zentrum. Pech (oder Glück?) ist nur, dass er sich auf diese Weise mit der mächtigen Bande des Mobsters (Yulian Kusnezow) angelegt hat, dessen jüngerer Bruder einer der Verprügelten ist. Die Familienehre und der Ehrenkodex der russischen Mafiosi verlangen, dass Mansells Tat gerächt wird.

Der Rest ist schnell erzählt. Nachdem Mansell händisch und mit diversen Küchengeräten ein vielköpfiges Killerkommando des russischen Bandenchefs liquidieren konnte, bringt er Frau und Kinder in Sicherheit, fackelt sein Haus ab, um die Leichen verschwinden zu lassen und zieht in den Krieg. Unterstützt von seinem farbigen Halbbruder Harry (gespielt vom Rapper RZA) und seinem fast 90-jährigen Vater und Ex-FBI-Agenten David (Christopher Lloyd zeigt eine neue Variante von „Zurück in die Zukunft“) stellt er sich einer gefühlt hundertköpfigen Killerarmee Kusnezows, die das Trio in einem endlosen Massaker abschießt wie einen Haufen Karnickel. Das ist nicht nur für den Sohn eine Art von Katharsis, sondern auch für seinen greisen Vater, der sein Altenheim zwar als gemütlich schätzte, aber das massenhafte Töten doch arg vermisste.

Geschrieben hat die abstruse Story John Wick-Creator Derik Kolstad – und genauso sieht der Film am Ende auch aus, nämlich wie eine endlose Gewaltorgie. Die dünne Story funktioniert nur, weil Bob Odenkirk der Figur viele interessante Nuancen abgewinnt und flotte Oneliner und die unterschwellige Ironie ansatzweise dafür sorgen, dass „Nobody“ ein B-Movie ist, das gelegentlich sogar Spaß macht. Auch weil die systematische Ironisierung des Plots durch einen witzigen Soundtrack abgeschmeckt wird: zu hören gibt es u.a. „Don’t Let Me Be Misunderstood“ von Nina Simone, „You’ll Never Walk Alone“ von Gerry & The Pacemakers, „Life Is A Bitch“ von Luther Allison und – natürlich – „What A Wonderful World“ von Louis Armstrong. Und immer passt es wie die Faust aufs Auge...

Die meisten Geschichten sind im Kino bereits erzählt worden. Also werden die Zutaten einfach neu arrangiert. Ganz entfernt erinnert der Film daher an „Breaking Bad“ (Familienvater wird zum Verbrecher), eine Prise „True Lies“ wurde hinzufügt (Familienvater verheimlicht sein wahres Leben) und das Vigilanten-Genre à la
„Harry Brown“ wurde ebenfalls kräftig zitiert (scheinbar alter wehrloser Mann entpuppt sich als eiskalter Killer).
Der Rest folgt dem das Erfolgskonzept der John Wick-Trilogie: eine hohle Story wird stylisch und comichaft erzählt, die Storylöcher werden mit Gewaltorgien zugestopft. In „Nobody“ führen die Gewaltexzesse dann aber eher zu einer Persiflage. Es verwundert nicht, dass bereits darüber nachgedacht wird, ein Crossover zu produzieren, das das John Wick-Franchise und die Nobody-Welt zusammenführt.

Das Beste an „Nobody“ ist die Erkenntnis, dass Bob Odenkirk ein grandioser Schauspieler ist. Ansonsten ist man etwas ratlos, wenn man liest, dass der Film auf Rotten Tomatoes Werte von 84% erzielte und auch die heimischen Kritiker selbst- und genreverliebt ein augenzwinkerndes Verständnis für einen Film aufbringen, der kühl kalkulierend pubertär-größenwahnsinnige Kids und ein gewaltaffines Publikum adressiert. Vielleicht gibt es ja kein richtiges Kino im falschen?

Noten: BigDoc = 3,5

Nobody - USA 2021 - Regie: Ilya Naishuller - Drehbuch: Derek Kolstad - FSK: ab 16 Jahren - Darsteller: Bob Odenkirk, Connie Nielsen, Christopher Lloyd, RZA, Aleksey Serebryakov.