Freitag, 1. April 2022

Nightmare Alley - Guillermo del Toro erzählt vom amerikanischen Alptraum


Das Problem mit der Lüge ist nicht etwa, dass sie unwahr ist. Das Problem ist, dass sie gut schmeckt, wenn sie die Bedürfnisse des Belogenen befriedigt. Fliegt die Lüge auf, sind zwei Wege möglich: man reagiert mit Aggression auf die Unwahrheit oder man verteidigt sie mit Zähnen und Klauen.
Wird die Lüge zur Wahrheit erklärt, dann ist man in der Neusprech-Welt George Orwells gelandet - oder mitten im modernen Framing. In Guillermo del Toros „Nightmare Alley“ ist Lügen, Schummeln und Betrügen das Geschäftsmodell der Armen und der Reichen. Vom American Dream bleibt in del Toro wenig übrig: Betrogene und Betrüger bleiben auf der Strecke, aber nicht alle. Ein bildprächtiger und opulenter, aber finsterer Film.

Zwischen Rummelplatz und High Society

Zu Beginn sehen wir, wie Bradley Cooper eine Leiche durch ein Zimmer schleift, in ein Loch wirft und danach das Haus abfackelt. Dass die von Cooper gespielte Hauptfigur in „Nightmare Alley“ ein Monster ist, werden wir erst ganz am Ende erfahren.
In Guillermo del Toros neuen Film sind wir in den USA der beginnenden 1940er-Jahre. Die Folgen der Weltwirtschaftskrise sind immer noch erkennbar. Tagelöhner durchstreifen das Land und heruntergekommene Männer wie Stanton Carlisle sind froh, wenn sie auf dem „Carnival“ (Rummelplatz) für einen Dollar, eine warme Mahlzeit und eine wurmstichige Matratze hart arbeiten dürfen. Wenigstens haben sie den Tag überlebt. Aber Stanton will mehr, er will nach oben, er will zu den Gewinnern gehören.

In „Nightmare Alley“ prallen daher beinahe unvermeidlich zwei Welten aufeinander: der Rummelplatz und die High Society. Die Gesellschaft der Gaukler und Schwindler gibt dem staunenden Publikum, was es verlangt: Sensationen, Hellseherei, clevere Wahrsager und grässliche Monstrositäten wie den „Geek“, der – angeblich halb Mensch, halb Tier – Hühnern den Hals durchbeißt und ihr Blut schlürft. Der Geek ist ein Publikumsmagnet.

Die andere Seite scheint deutlich gefährlicher zu sein. Del Toro nennt sie die „höfliche Gesellschaft“. Die Macht der reichen Elite ist groß, feinsäuberlich versteckt hinter einer Fassade aus luxuriösen Wohnungen im „Art déco“-Stil oder hinter den Mauern gotischer Schlösser wie Charles Foster Kanes „Xanadu“ in Orson Welles‘ „Citizen Kane“. Er herrschen gute Umgangsformen, aber die verborgene Monstrosität und die moralischen Abgründe der Upper Class sind umso gefährlicher für jene, die nicht in sie hineinpassen. Dieser klassenkämpferische Antagonismus in del Toros Film mag ein wenig anachronistisch wirken, aber nicht jedes Klischee ist unwahr. Immerhin bezeichnet del Toro den Film noir als klassenbewusstes Genre.

Perfider Machtkampf

Abgebildet wird dieser Gegensatz durch einen perfiden Machtkampf, der im Mittelteil des Films von Cate Blanchett und Bradley Cooper als psychologisches Manipulations-Drama mit rhetorischer Raffinesse inszeniert wird. Blanchett spielt die wohlhabende und einflussreiche Psychologin Dr. Lilith Ritter, während Cooper den betrügerischen Mentalisten Stanton Carlisle gibt. Während einer Show in Buffalo, in der Carlisle sehr tricky das Publikum damit verblüfft, dass er Dinge über die Gäste weiß, die er nicht wissen kann, versucht Ritter den Mentalisten als Betrüger zu entlarven. Ritter hat erkannt, dass Carlisle die benötigten Informationen von seiner Assistentin Molly Cahill (Rooney Mara) erhält – und die nutzt ein kompliziertes System sprachlicher Codes, das Dinge bis ins kleinste Detail beschreiben kann. Nun soll der Hellseher sagen, was Ritter in ihrer Handtasche mit sich herumträgt. Carlisle muss improvisieren, landet aber einen Volltreffer: es handelt sich um einen Damenrevolver. Als er danach auch noch die Biografie der Gedemütigten öffentlich und punktgenau seziert, überschreitet er eine Grenze. Ritters Rache wird fürchterlich sein, auch weil das Handwerkzeug einer Psychoanalytikerin geschliffener ist, als es sich Carlisle vorzustellen vermag.

Film noir? Zu schön?

Guillermo del Toro orientierte sich in „Nightmare Alley“ nach eigenen Aussagen an den großen amerikanischen Erzählungen. Ob er damit programmatisch die Great American Novel meinte, bleibt offen. Man kann sich aber angesichts der ausufernden epischen Qualität seines neuen Films durchaus vorstellen, dass „Nightmare Alley“ ohne eine Beziehung zu den Romanen von F. Scott Fitzgerald, William Faulkner, John Steinbeck oder John Dos Passos kaum denkbar gewesen wäre.
Allerdings ist del Toros Film auch ein Remake, und zwar eine Neuverfilmung des gleichnamigen Films (1947) von Edmund Goulding (dts. Der Scharlatan), in dem Tyrone Power den Mentalisten spielte. Gouldings Film war eine Literaturverfilmung. Die Vorlage lieferte William Lindsay Gresham (1909-1962), der sich alkoholabhängig und verarmt das Leben nahm und damit Aufstieg und Fall der Hauptfigur seines erfolgreichsten Romans auf tragische Weise Realität werden ließ.

Ob „Nightmare Alley“ dem Film noir zuzuordnen ist, bleibt dem Zuschauer überlassen. Auch weil es nicht ganz klar ist, ob das Genre über seine Inhalte oder seine Ästhetik definiert werden muss. Ziemlich noir sind tatsächlich einige Dinge in del Toros Film: es gibt eine Femme fatale, die die Männer in den Abgrund stürzt. Auch der Fatalismus und die pessimistische Grundstimmung sowie der Zynismus, mit dem die moralisch korrupte Gesellschaft aufs Korn genommen wird, sprechen dafür. Noir sei, so del Toro, ein Genre, „das die Besitzenden und die Besitzlosen aufeinanderprallen lässt. Und die Besitzlosen können diese Barriere nur durch Gewalt oder Verbrechen durchbrechen. Dieses Spiel zwischen Besitzenden und Besitzlosen gab es damals und es ist auch heute wieder sehr stark da."

Allerdings ist die Hauptfigur in del Toros Film ist alles andere als der typische Antiheld in den noir-Filmen, jene Figur, die alles enthüllt, ohne die Verhältnisse ändern zu können. Auch Martin Scorsese hat in einem sehr persönlichen Essay in der Los Angeles Times den Umgang mit dem noir-Begriff kritisch bewertet: „But the term “noir” has been used so often and in such a cheeky way that it seems more like a flavor than anything else, and it might just lead someone seeking information about the picture in the wrong direction. They might be expecting a noir “pastiche,” of which there have been many. That doesn’t even begin to do justice to Guillermo and Kim Morgan’s adaptation.”
Auch ästhetisch können die Unterschiede zwischen noir-Film und del Toros Film kaum größer sein: dort der Film noir mit seinen Schwarz-Weiß-Ästhetik und den expressionistischen Kamera-Einstellungen, hier nun ein Film, der mehr als ein halbes Jahrhundert später mit den opulenten Bildern von Dan Laustsen, der auch für „Shape of Water“ hinter der Kamera stand, eine Farb- und Detailpracht bietet, die alles andere als noir ist. 

Laustsen Kamera gleitet elegant durch die Interieurs. In fast allen Takes wird mit Steady Cam oder Kran gearbeitet. Immer bewegt sich die Kamera mit den Figuren und wie immer in Guillermo del Toros Filmen stimmt bei der Ausstattung alles bis ins letzte Detail – vom kompletten Nachbau eines Rummelplatzes bis hin zur Innenausstattung der Nachtklubs. Alles wird alles in warme Farben gehüllt, die jeden Vergleich mit einem Film noir konterkarieren.

Vielleicht ist diese Debatte überflüssig. Guillermo del Toro räumte ein, dass „Nightmare Alley“ zwar ein Film noir sei, aber halt ein moderner. Und überhaupt hatte der mexikanische Regisseur eher klassisches Kino im Sinn. Und damit meinte er die großen Studiofilme aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert, in denen Stars mit pompösem Glamour als Stars inszeniert wurden. Aber auch das passte nicht jedem. „Zu schön“ befand der Spiegel-Kritiker Andreas Borcholte das Ganze. „Nightmare Alley“ sei cineastisches Blendwerk, zu simpel der Plot des fast zweieinhalbstündigen Films. Auch das Politische komme zu kurz. Das ist keine komplette Fehleinschätzung, del Toro malt einiges tatsächlich in grellen Farben, aber man kann den Film auch anders sehen.

Empathie als Waffe

Dazu muss man zum Anfang zurückkehren – zum Carnival und seinen Protagonisten. Dort lernt Stanton Carlisle, der zunächst von Clem Hoately (William Dafoe) angeheuert wird, dass der Jahrmarkt der Illusionen und Eitelkeiten von einem harten, brutalen Überlebenskampf regiert wird, obwohl das fahrende Volk solidarisch zusammenhält wie Pech und Schwefel. Stantons Initiation ist hart: Hoately erklärt dem Novizen genau, wie man Obdachlose, Hobos und Landstreicher mit Schnaps und einem Schuss Opium drogenabhängig macht, um sie danach wie ein Tier in einem Käfig zu halten – bis sie als Monster, als Geek, ihren Auftritt haben. Wie üblich verzichtet del Toro nicht auf Grausamkeiten.
Bei der der Wahrsagerin „Madame Zeena“ (Toni Colette) und ihrem alkoholkranken Mann Pete (David Starthairn) lernt Stanton dagegen die Tricks, mit denen die naive ländliche Bevölkerung über den Tisch gezogen wird. Die Wahrsagerin kennt während der Vorstellung plötzlich die Namen einiger Zuschauer, weiß viel über ihr Leben und reimt sich den Rest zusammen. Stanton wird für Zeena und Pete arbeiten und lernt dabei von Pete, dass man für den ultimativen Erfolg als Wahrsager zudem ein Codierungssystem benötigt, damit das Medium mithilfe eines Assistenten seine übernatürlichen Fähigkeiten ohne Pannen vorführen kann.

Entscheidend ist aber die enorme Menschenkenntnis von Zeena und Pete. Auch Stanton besitzt eine ausgeprägte Empathie, ein Talent, das es ihm immer häufiger ermöglicht, aus allerkleinsten Details und Beobachtungen das psychologische und biografische Profil eines Menschen zu erstellen. Und er lernt schnell.
Der Rest ist kluges Raten, denn in del Toros Film ist die Conditio humana, verstanden als menschliche Individualität, eine Illusion: die meisten Menschen erleben immer das Gleiche. Männer haben fast immer Schwierigkeiten mit ihren Vätern und Frauen werden von anderen, aber immer den gleichen Dämonen verfolgt. Beim Wahrsagen ist die Trefferquote meistens hoch. Verhalten wird so zur statistischen Größe, Empathie wird  zur Waffe. Wer sein Gegenüber durchschaut, erhält Macht über ihn. Ein düsteres Menschenbild.

Nachdem er diese Lektionen gelernt hat, braucht Stanton nur noch das geheime Petes geheimes Codebuch, um mit Molly den Carnival verlassen zu können. Er weiß, dass er mit seinen Fähigkeiten und einem perfekten System der Täuschung an der Ostküste Karriere machen kann. Dafür geht er auch über Leichen. Es ist seine Version des American Dream.
“You know what the flip side of the American dream is, right? It’s a nightmare. I felt a complete sense of doom. (…) Yeah, I make movies with monsters,” kommentierte del Toro seine Intentionen in einem Interview. “But the worst monsters in them are the humans.”

Der Pakt mit dem Teufel

Auch wenn diese Gesellschaftsanalyse etwas schlicht geraten ist, so überzeugt „Nightmare Alley“ durchweg als ein Panoptikum des Bösen - eine Geschichte über Wahrheiten, die trotzdem eine Lüge sind, und über Lügen, mit der man in einer moralisch korrupten Gesellschaft jeden manipulieren kann.

In del Toros Film kulminiert dies in der Begegnung von Carlisle und Ritter. Sie wird von del Toro brillant als Psychothriller inszeniert. Beide sind auf ihre Weise Wahrsager und werden ein Gaunerpärchen der besonderen Art werden. Während Ritter den Mentalisten mit Insiderwissen über die Reichen und Mächtigen versorgt, beteiligt Carlisle die Psychoanalytikerin an seinen Einnahmen. Es ist ein Quid pro quo-Deal: für Ritters Mitarbeit muss er ihr Wahres aus seinem Leben erzählen. Und es ist ein Pakt mit dem Teufel.

Unterm Strich ist „Nightmare Alley“ eine Mischung aus klassischem Ausstattungskino und etwas  Film noir, ein Sittengemälde, das als moralischer Kommentar des Regisseurs verstanden werden muss. In wunderschönen Bildern wird von del Toro ein Aufsteigerdrama erzählt, das den American Dream in einen amerikanischen Alptraum verwandelt. Kein komplexer filmischer Diskurs, sondern del Toros emotionales Statement in knallbunten Farben.

Aber sein Film ist wie von del Toro beabsichtigt auch ein Schauspieler- und Ensemblefilm geworden, in dem Cate Blanchett als Femme Fatale die eigentliche Hauptrolle einnimmt. Bradley Cooper hat als betrogener Betrüger einige gute Momente, aber mit Blanchetts eisiger Kälte kann er es nicht aufnehmen. Das liegt auch daran, dass seine Figur nicht gerade zur Identifikation einlädt. Erst recht nicht, als Stantons Geheimnis enthüllt wird.

Punkten kann del Toros Film auch mit seinem exzellent besetzten Ensemble. Willem Dafoe hat, obwohl ständig grinsend, schauerliche Momente, während David Strathairn als trauriger Trinker eine fabelhafte Performance hinlegt. Rooney Mara verblasst dagegen zunehmend in ihrer Nebenrolle. Dafür hat Ron Perlman als Bruno, der stärkste Mann der Welt, einige noble Szenen. 
Dämonisch ist Richard Jenkins, der bereits in „Shape of Water“ glänzte und womöglich zu den besten amerikanischen Darstellern gehört, aber wohl unterschätzt wird. In del Toros Film spielt er den reichen Ezra Grindle, der unbedingt einen übernatürlichen Kontakt zu seiner toten Jugendliebe aufnehmen will. Aber Grindle ist auch ein Soziopath, ein skrupelloses Monster, der Frauen quält und misshandelt. Lilith Ritter war eines der Opfer. Dass dieses Monster gleichzeitig ein gequälter, verzweifelter alter Mann ist, kann wohl nur Richard Jenkins so glaubwürdig spielen.

Dass „Nightmare Alley“ kein Kassenerfolg wurde, mag daran liegen, dass es kaum eine Figur in dem Film gibt, die Mitgefühl erregt – abgesehen von Rooney Mara, Ron Perlman und David Strathairn. Einige Kritiker schrieben, dass „Nightmare Alley“ ein Film ohne Monster sei. Das ist nicht wahr. Aber es ist ein bemerkenswerter Film, der von einigen Zuschauern und Kritikern einen zweiten Anlauf verdient. Oder um es mit Martin Scorseses Worten zu beschreiben: „Guillermo is certainly speaking from and to his own time, but he’s doing so in the idiom of a time gone by, and the urgency and despair of then overlaps with the urgency and despair of now in a way that’s quite disturbing. It’s like a warning bell. Disturbing, but exhilarating at the same time. That’s what art can do.“

Noten: BigDoc = 1,5


Quellen:

  • Díe erste Verfilmung kann man auf YouTube sehen: „Nightmare Alley“ (1947)
  • Martin Scorsese: Martin Scorsese wants you to watch ‘Nightmare Alley.’ Let him tell you why. In: Los Angeles Times

»Nightmare Alley«
USA, Mexiko 2021 - 
Regie: Guillermo del Toro
 - Buch: Guillermo del Toro, Kim Morgan - basierend auf dem Roman von William Lindsay Gresham
 - D.: Bradley Cooper, Cate Blanchett, Toni Collette, Rooney Mara, Willem Dafoe, Richard Jenkins, Ron Perlman, David Strathairn
 - Länge: 150 Minuten - 
FSK: ab 16 Jahren
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