Montag, 21. Dezember 2020

Tenet – Christopher Nolans Mission Impossible


Er hat es wieder getan. In seinem neuen Film „Tenet“ wirft Christopher Nolan erneut die Naturgesetze über Bord. Glauben Sie, dass eine Tasse, die von einem Tisch auf den Boden gefallen ist, sich wieder zusammensetzen kann, indem sich ihre zerborstenen Teile wieder zusammenfügen und sie zurück auf den Tisch fliegt?
Wohl nicht, auch Christopher Nolan dürfte nicht ernsthaft daran glauben, möchte aber dem Zuschauer zeigen, wie eine Welt aussieht, in der dies geschieht. Das Ergebnis ist ein Film, der einen beim Zuschauen nicht im Geringsten berührt. Egal, in welche Richtung der Zeitpfeil sich richtet: „Tenet“ ist Zeitverschwendung.

„Erfahrung in Überlebensgröße“

Erfahrung im Kino stellt sich ein, wenn es für den Zuschauer einen lebensweltlichen Bezug gibt. Das raubt filmischen Fiktionen keineswegs ihr Potential, man muss seinen Kinokonsum auch nicht auf Sozialdramen beschränken, denn auch in Comics oder Science-Fiction-Filmen durchleben die Protagonisten häufig genug die gleichen Dramen wie der Zuschauer: Liebe und ihren Verlust, Freundschaft und Verrat, Zweifel und Skrupellosigkeit, Ungerechtigkeit und Wahrheitssuche.

Das alles kommt auch in „Tenet“ vor, aber wenn in der zweite Filmhälfte die zuvor gesehene Handlung noch einmal abläuft – diesmal rückwärts – weiß man nicht, ob die Menschen, die gerade von einer Kugel tödlich getroffen wurden und nun wieder aufstehen und rückwärts zurücklaufen, auch spüren und verstehen, was mit ihnen geschieht. Auch Nolan scheint sich dafür nicht zu interessieren.

Für die moderne Physik und besonders für das Phänomen der Zeit hat der britische Filmemacher schon immer ein Faible gehabt. „Memento“ (2000) beginnt mit dem Ende der Handlung und bewegt sich danach rückwärts durch die Zeit. Verwirrend zu sehen, aber letztlich nur ein eskapistisches Experiment für Filmnerds. 

Die Batman-Trilogie (2005-2012) wurde überwiegend linear erzählt. Mit dem Ergebnis, dass Nolans „The Dark Night“ ein opulentes Meisterwerk wurde, quasi die erste ernsthafte Comic-Verfilmung. Der Film funktionierte auch wegen der Kohärenz des Dramas, denn es wurde von Charakteren erzählt, auf die der Zuschauer empathisch reagieren konnte. So war der von Heath Ledger gespielte Oberschurke zeitweise spannender als der dunkle Ritter. 


Zwischendurch schob Nolan „Inception“ (2010) ein, eine Reise ins Unbewusste der Figuren, in unterschiedlich schnell verlaufenden Zeitebenen. Visuell war der Film ein Prachtstück, dessen innere Logik man beim zweiten Mal sogar verstehen konnte.

„Interstellar“ (2014) schaffte es ebenfalls, den Zuschauer intellektuell bis zum Anschlag zu beschäftigen, auch dort ging es um die Zeit. Aber Nolan gelang es dank intensiver wissenschaftlicher Beratungdie auf den ersten Blick absurd erscheinenden Effekte der relativistischen Zeit glaubhaft zu bebildern. Nolans Credo, dem Zuschauer Erfahrung in Überlebensgröße zu ermöglichen, wurde also erfüllt. Doch dann ruinierte Nolan das Ende des Films durch eine abstruse Reise in ein schwarzes Loch, weil er sich vorgenommen hatte, die Kausalität umzudeuten. 

Der Kriegsfilm „Dunkirk“ komprimierte dann die Zeit, um eine Handvoll von Ereignissen aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten – erneut mit spektakulären Bildern wurde eine mythische Episode aus dem Zweiten Weltkrieg auf ungewohnte Weise reflektiert, aber man hatte das Gefühl, dass Nolan eher an seinem theoretischen Konstrukt interessiert war und weniger an seinen Figuren.
Was immer Nolan unternahm, um die Zeit gegen den Strich zu bürsten, stets hatte man den Eindruck, etwas Aufregendes zu erleben. Etwas, was man auch verstehen konnte, wenn man sich intensiv damit beschäftigte. In „Tenet“ erlischt dieses Gefühl der Faszination recht schnell.

„Versuchen Sie es nicht zu verstehen – fühlen Sie es!“

Fast schon programmatisch für die Beziehung des Regisseurs zu seinen Figuren ist die Namensgebung. In „Tenet“ heißt die von John David Washington gespielte Hauptfigur lapidar „Protagonist“. Wie „The Dark Night“ beginnt der Film mit einem Action-Opener. Während eines Terroranschlags auf die Oper in Kiew soll der „Protagonist“ einen Informanten retten und dabei einen geheimnisvollen Gegenstand in Sicherheit bringen. Die Aktion scheitert, der Protagonist wird gefoltert und entzieht sich den Qualen mithilfe einer Selbstmordkapsel. Danach wacht er auf: er ist nicht tot, alles war nur ein Test, um herauszufinden, ob der Protagonist, offenbar ein CIA-Agent, geeignet ist, um eine noch größere Herausforderung zu meistern: die Verhinderung des 3. Weltkriegs. Das Problem: der Gegner existiert in der Zukunft und will die Menschheit vernichten.

In einer Forschungseinrichtung erfährt der Protagonist, dass die Menschen in der Zukunft einen Weg gefunden haben, die Entropie und damit die Kausalität, umzudrehen. Projektile kehren in den Lauf der Pistole zurück, fallengelassene Gegenstände springen zurück in die Hand. 

„Versuchen Sie es nicht zu verstehen – fühlen Sie es!“, erklärt ihm eine Wissenschaftlerin und erklärt trotzdem ein wenig, wie man Entropie und Invertierung erkennt. Nun soll die Hauptfigur trotz denkbar dürftiger Erklärungen für die geheime Organisation
„Tenet“ (was so viel wie Grundsatz bedeutet) die zunehmenden Manipulationen der Gegenwartszeit stoppen und das bevorstehende Armageddon verhindern. Und als Assistenten bei dieser Mission Impossible wird ihm ein unbekannter Agent zur Seite gestellt, der mysteriöse Neil (Robert Pattinson).

Während „Inception“ ein Heist-Movie war, begibt sich Christopher Nolan mit seinem neuen namenlosen Helden ins Spy-Genre. Vor einer kognitiven Überforderung muss sich der Zuschauer aber zunächst nicht fürchten, denn „Tenet“ funktioniert in der ersten Stunden wie ein Mix aus Hi-Tec-Actionszenen, wie man sie sattsam aus James Bond- und Ethan Hunt-Filmen kennt. Allerdings gibt es auch ziemlich altbackene Prügelszenen.
Etwas origineller ist ein witziges Bungee-Jumping in Mumbai. Der Protagonist und Neil bewegen sich dabei allerdings nach oben, anstatt nach unten, um in den hochgelegenen Hochsicherheitstrakt des indischen Waffenhändlers Sanjay Singh zu gelangen. Dort erfahren beide, dass es eigentlich Singhs Frau Priya ist (Dimple Kapadia) ist, die die Geschäfte führt. Priya lenkt die Aufmerksamkeit der beiden Eindringlinge auf den russischen Oligarchen Andrei Sator (Kenneth Branagh). Und der hat offenbar die von den Singhs verkaufte Munition invertiert. Der Russe lebt in London und dort rät der britische Geheimdienstler Sir Michael Crosby (ein netter Gastauftritt von Michael Caine) dem Protagonisten, sich an Sators Frau Kat (Elisabeth Debicki) zu halten. Sie wird von ihrem Mann wegen eines gefälschten Goya-Bildes erpresst und wird dadurch zu einem aussichtsreichen Angriffspunkt.

Die Ukraine, Dänemark, Indien, England – Nolan arbeitet sich wie in bekannten Blockbustern energisch durch weltweite Locations. Schweden, Italien, Estland, Vietnam und Sibirien werden hinzukommen und Nolan nutzt dabei agil das McGuffin-Prinzip, um die Akteure immer wieder in spektakuläre Situationen zu bringen. Um das Vertrauen Kats zu gewinnen, müssen der Protagonist und Neil nämlich das Goya-Bild stehlen oder vernichten, aber der eigentliche Zweck ist es, ein Flugzeug während einer zerstörerischen Actionszene auf dem Osloer Flughafen in einen Gebäudetrakt rasen zu lassen.

In Oslo lernen der Protagonist und Neil zum ersten Mal (aber das ist in einem Film, der die lineare Zeit zu den Akten legt, eine zweifelhafte Aussage) auch ein „Drehkreuz“ kennen, durch das man in ein Raum-Zeit-Kontinuum eintreten kann, in dem die Zeit rückwärts läuft. Das führt zu einer sehenswerten Kampfszene, in der die Zeit invertiert ist und die Akteure rückwärts kämpfen, aber die Bilder erinnern doch ein wenig an ähnliche Szenen aus „Inception“. 

So richtig kann man sich an den Schauwerten von Nolans Film nicht erwärmen, denn einiges hat man bereits (auch bei Nolan) aufregender und überraschender gesehen. Nicht neu ist auch ein Heist-Coup auf einer englischen Autobahn, der auffällig an eine ähnliche Szene in der „Matrix“-Trilogie erinnert. Das Ganze wird aber später noch einmal zu sehen sein. Und das ist dann wirklich spektakulär.

Nichts ist das, wonach es aussieht

Dass sich in der zweiten Hälfte die Ereignisse überschlagen, ist ein Understatement. Was man dagegen wissen muss, sind einige narrative Parameter.
Erstens: Die Menschen der Zukunft wollen die Menschen der Vergangenheit beseitigen, weil ihre Umwelt durch die Menschen des 20. und 21. Jahrhunderts irreparabel geschädigt wurde. Um die Katastrophe auslösen zu können, hatte eine Wissenschaftlerin in der Zukunft einen Algorithmus entwickelt, dann aber kalte Füße bekommen. Sie zerlegte die Anleitung in neun Komponenten, die sie in die Vergangenheit schickte, um sie dort zu verstecken. 

Zweitens: Sator, der Schurke, eignet sich diese Komponenten an und will höchstpersönlich das Armageddon einleiten, weil er unheilbar an Bauchspeicheldrüsenkrebs erkrankt ist und als beleidigte Leberwurst die gesamte Menschheit in den Tod mitnehmen will.

Drittens: die Gegenwartsebene des Films ist eben nicht die Gegenwart, sondern bereits die Vergangenheit der Hauptfigur. Dies erfährt er, nachdem in der zweiten Hälfte des Films die Zeit rückwärtsläuft und einige Ereignisse offenbar von seinem Alter Ego aus der Zukunft ausgelöst wurden.

Und last but not least: fast alle Figuren existieren doppelt, einmal als invertierte Version und dann wieder in der Erzählgegenwart– aber die ist ja auch nicht das, wonach sie aussieht. Die Figuren existieren nämlich gleichzeitig und begegnen sich, was gelegentlich dazu, dass sie sich den Garaus machen wollen. Leider sind dabei Logikfehlern vorprogrammiert.

Um es kurz zu machen: das Ganze wird bereits nach einer guten Stunde ziemlich langweilig. Zu anstrengend ist die Konzentration auf die Zeitebenen, die ja nicht separat erscheinen, sondern sich durchdringen. Auch im großen Showdown laufen gleichzeitig Menschen rückwärts, während andere gleichzeitig ihrem eigenen nach vorne gerichteten Zeitpfeil folgen und dabei erleben, dass das, was für die Rückwärtsläufer für die Wirkung einer Ursache halten, in ihrer Zeitlinie die Ursache einer Wirkung ist. 

Und überhaupt: Dass ein Eingriff in die Zeitlinie zum sogenannten Großvaterparadoxon führen könnte, wird in „Tenet“ zwar erwähnt, aber auch sehr schnell und lässig beiseitegeschoben. 
Das kennen wir ja aus Star Trek-Episoden, die sich mit diesem Paradoxon viel zu häufig beschäftigten: Wer in die Vergangenheit reist und seinen Opa in jungen Jahren tötet, verhindert, dass der eigene Vater existieren wird und somit bringt sich der Zeitreisende selbst um.
Aber im Star Trek-Universum wurde nach den temporalen Kriegen das Herumreisen in der Zeit verboten. Man hatte seine Gründe und Nolan hätte aus diesen Erfahrungen lernen sollen. Aber offenbar wollte er die Macht des Kinos demonstrieren, indem er die lineare Zeit und die Kausalität aushebelte. Damit erreicht man in einigen seltenen Glücksfälle die maximale Freiheit der Fiktion. Aber noch größer ist Chance, einfach nur Bullshit zu produzieren.

So entsteht gepflegtes Desinteresse

Und genau das ist das Dilemma des Films. Christopher Nolan hat zwar immer noch kreative Ideen, um seine Blockbuster mit visuellen Highlights auszustatten, aber bereits in „Tenet“ hat man das Gefühl, dass sich sein Stil erschöpft hat. Der Film kommt großspurig daher wie ein Katastrophenfilm von Roland Emmerich, will aber auch intellektuelle Nahrung anbieten, eben „Erfahrung in Überlebensgröße“, wie es Nolan im Bonusmaterial der frisch erschienenen Bluray erklärt.
Aber im Gegensatz zu einigen seiner älteren Filme hat man nach seinem aktuellen Opus nicht mehr das Bedürfnis, seine Schulkenntnisse über Thermodynamik, die relativistische Zeit und die Theorie des Blockuniversums auszugraben, um zu beweisen, dass Nolans Phantasie größer war als sein Know-how. 

Zwar werden in der Thermodynamik reversible Ereignisse beschreiben, aber gleichzeitig ist die Thermodynamik in nicht geringem Umfang eben auch probabilistisch, macht also auch Wahrscheinlichkeitsaussagen über mögliche Ereignisse. Ein reversibler Prozess ist in der Thermodynamik eine Zustandsänderung, die auch umgekehrt ablaufen könnte und dabei keine Entropie erzeugen würde. Man beachte den Konjunktiv. Und das hängt auch damit zusammen, dass die Physik, inklusive Albert Einstein, die Zeit grundsätzlich als reversibles Phänomen beschrieben hat und/oder ihre Existenz einfach leugnete. Regel: ein Naturgesetz ist immer gültig, wann aber etwas stattfindet, spielt keine Rolle.

Wer sich also etwas wirklich Spannendem erleben will, sollte sich nicht mit „Tenet“, sondern mit dem Chemiker und Physiker Ilya Prigogine (1917-2003) auseinandersetzen. Der Nobelpreisträger Prigogine beschäftigte sich mit der Physik der Nichtgleichgewichtsprozesse, die selbstorganisiert sind und weit entfernt vom Chaos des entropischen Endzustands Strukturen von komplexer Ordnung hervorbringen können. Dies führte zur Rettung des Zeitpfeils in der Physik, weil es das Prinzip der Irreversibilität notwendig macht. Das Universum, wie es Prigogine sah, hat also eine Geschichte und wir alle sind demnach „die Kinder des Zeitpfeils, der Evolution, und nicht seine Urheber.“

Nun könnte man meinen, dass Künstler wie Christopher Nolan die kreative Freiheit besitzen sollten, sich in Phantasiewelten mit eigenen Regeln zu beschäftigen. Aber abseits der Physik gibt es einige Gründe, allzu ausufernden und skurrilen Erzählungen zu misstrauen. Einer wäre das nach Wilhelm von Ockham (1288-1347) benannte Prinzip von Ockhams Rasiermesser: eine einfache Theorie ist einer komplexen vorzuziehen, wenn sie hinreichend einen Sachverhalt erklären kann; und einfach ist sie, wenn sie nur wenige Variablen und Hypothesen enthält und diese in einer logischen Beziehung zueinander stehen. Ob man es glaubt oder nicht: auch das Kino hat sehr lange gut damit leben können, dass mit wenig Variablen plausible und nachvollziehbare Geschichten erzählt wurden, bevor der Hype der des Hyperkomplexen entstand, dem wir Serien wie „Devs“ verdanken.

Ein anderes Problem sind die Figuren. In der Batman-Trilogie und einigermaßen auch in „Inception“ gelang es Nolan, Figuren zu erschaffen, die sich von ihrem Schöpfer lösten und ein Eigenleben führten. Rezeptionsästhetisch bedeutet dies, dass sie immer wieder neue Facetten anbieten und das Deutungsgeschehen auch widerspiegelt, welche Prioritäten der Zuschauer jeweils entwickelt.
In „Tenet“ ist bereits der Hauptdarsteller ein Problem. John David Washington, der Sohn von Denzel Washington, spielt seine Figur so ausdrucksarm, dass man die platonische amour fou zur Frau des Schurken einfach nicht glauben mag. Das wird überdeutlich, weil Washington vom Supporting Actor Robert Pattinson, der sich enorm entwickelt hat, mühelos an die Wand gespielt wird. Pattinson gibt der Figur ein humorvolles und gelegentlich ironisches Flair, während Washington einfach nur cool sein will.
Kenneth Bragnagh, der nach eigenen Aussagen das Drehbuch etliche Male lesen musste, um es ansatzweise zu verstehen, gibt dagegen sein Bestes, um dem Schurken in seiner Zerrissenheit zwischen Brutalität und nie ganz unterdrücktem Bedürfnis nach Liebe und Vertrauen ein eigenes Profil zu geben. Das gelingt der australischen Schauspielerin Elizabeth Debicki „Widos – Tödliche Witwen“, 2018) nicht ganz so eindrucksvoll. Aber von wenigen Ausnahmen hatte Nolan, dessen Filme gelegentlich wie Laborversuche aussehen, schon immer ein reduziertes Feeling für seine Figuren.
In „Tenet“ wird dies überdeutlich.

Natürlich liefert der Film einige Hingucker ab. Kameramann Hoyte van Hoytema sorgt wie erwartet für schöne Bilder und gibt dem Film eine gediegene Ästhetik, in der auch die Actionszenen gut aufgelöst werden. Das liegt natürlich auch am guten Bildschnitt von Jennifer Lane („Manchester by the Sea“).
Verheerend ist aber die grauenhafte Abmischung der Musik, die passagenweise an das düstere Staccato des Original Score von Hans Zimmer und James Newton Howard in „The Dark Night“ erinnert. Die Musik legt sich so aufdringlich über die Dialoge, dass man gelegentlich gezwungen ist, die Untertitel aufzurufen, um überhaupt verstehen zu können, was gerade gesagt wird. Das war so gewollt, aber über die Gründe will ich erst gar nichts wissen. Es wirkt so, als wolle Nolan mit lauter Musik eine Emotionalität herstellen, die die Geschichte und die Figuren beim besten Willen nicht hergeben.
So legt sich gepflegtes Desinteresse wie ein Leichentuch über den zweieinhalb Stunden langen Film. Und ganz ehrlich: ich war mehrmals kurz davor, die Bluray auszuwerfen und ins Regal zurückzustellen.

Und die Kritik?

An sich sollte man als Filmkritiker andere Kritiker nicht auf die Schippe nehmen. Aber manchmal sehne ich mich nach den Zeiten von Hans C. Blumenberg und Wolf Donner zurück. Gut, die kennt nicht mehr jeder, aber das ist nicht entscheidend. Wichtiger ist, dass die Filmkritik in der 1980er und 1990er Jahren kenntnisreicher war und auch die Fähigkeit hatte, ideologiekritisch auf Filme zu reagieren. „Tenet“ erreichte dagegen bei der deutschen  Filmkritik eine große Zustimmung, die allein deswegen in „Tenet“ großes Kino sehen, weil der Film unbedingt auf die große Leinwand gehört und damit den Streamingdiensten etwas entgegensetzt. Aber auch, weil der Film in Corona-Zeiten den Menschen ein Stück Normalität zurückgingt, so Sebastian Markt in DIE ZEIT.

Früher hätten die von der Frankfurter Schule sozialisierten Kritiker den Film als Industrieprodukt bezeichnet, mit dem die kapitalistische Unterhaltungsindustrie Verblendungsartikel abliefert, die den Unbedarften das Geld aus der Tasche ziehen sollen. Nun ist das so eine Sache mit der Ideologiekritik. Sie will ökonomisch denken, aber auch erklären, wann und warum die Ideen zum Blendwerk werden. Damit kommt man heutzutage schnell an Grenzen, weil man nach anfänglicher Begeisterung für diese Rezepturen der Filmkritik gelernt hat, dass die Filmstudios schon immer großen Banken und Unterhaltungskonzernen gehört haben. Neu ist das nicht.
Mittlerweile
haben sie aber eine Geschmeidigkeit entwickelt, die dazu führt, dass ohne jegliche Parteinahme genau die Themen und Inhalte schön verpackt abgeliefert werden, nach denen das Publikum verlangt oder die vom Zeitgeist diktiert werden. Das schließt anti-rassistische, feministische und ökologisch fokussierte Filme genauso ein wie beliebige Komödien und Actionfilme von der Stange. Wer an Rendite orientiert ist, muss sich mitleidlos von weltanschaulichen Präferenzen trennen und einfach ein Gespür dafür haben, was sich gut verkaufen lässt.

Verblüffend fand ich daher die Kritik aus der Süddeutschen. „Nachdenken verboten“ steht da als Überschrift und Tobias Kniebe hat seine Kritik so geschrieben, wie es heute angesagt ist: mit augenzwinkernder Ironie. Aber Kniebe ist auch ironiefrei davon begeistert, was er gesehen hat und rät dazu, dass man sich „am besten einfach fallen lässt, um die atemberaubenden Bilder und die wunderliche Logik dieses Filmtraums zu genießen. (…) Zum Nachdenken darf es also nicht kommen, wenn man diesen Film sieht, und Christopher Nolan gibt sein Bestes, um störende kognitive Aktivitäten zu unterbinden.“ Zu schön sei die Trance, die Nolan dem Zuschauer verschafft.
Ironie oder bitterer Ernst? Man kann es einfach nicht unterscheiden. Aber immerhin kommt Kniebe zu dem Schluss, dass eine kleine Verbesserung den Film zehnmal spannender gemacht hätte: „…wenn man verstehen würde, warum.“

Von der alten Schule ist dagegen Mike McCahill, der auf IndieWire eine andere, sehr wütende Lesart anbietet – garantiert ironiefrei: „Since rebranding Batman, Nolan has dedicated himself to fabricating vast, clanking machine-movies, engineered to generate a pulse-racing setpiece every half hour, and the repeat viewings that transform a $250 million smash into a $500 million or $1 billion megahit. (…) That’s the strategy: scramble the viewer’s mind so hard first time out they’ll pay multiple times to unscramble it.“


Dem ist nichts hinzuzufügen. Punkt.

 

Noten: BigDoc = 4


Tenet, USA 2020 - Regie und Buch: Christopher Nolan. Kamera: Hoyte van Hoytema. D.: John David Washington, Robert Pattinson, Elizabeth Debicki, Kenneth Branagh. Laufzeit: 150 Minuten.