Samstag, 30. Januar 2021

Die Ausgrabung (The Dig) – eine sehenswerte Meditation über die Unvergänglichkeit

Mit „The Dig“ hat Netflix die Rechte an einem Stück Kinokunst von BBC Films übernommen, ein Film, der in jeder Hinsicht kein Mainstream ist: zu leise, zu wenig Handlung, eher ein Meditation über Leben und Tod und die Unvergänglichkeit.
Eine kluge Entscheidung, denn Regisseur Simon Stone erzählt in seinem zweiten Spielfilm nicht nur davon, wie kurz vor dem Beginn der Zweiten Weltkriegs im englischen Suffolk die vielleicht wichtigste archäologische Entdeckung aller Zeiten möglich wurde. Sondern auch davon, wie Menschen ihrem Handeln einen Sinn geben, während man eigentlich das Gegenteil erwartet.

„Based on a true story”

Basil Brown (Ralph Fiennes) ist ein Ausgräber. Ein menschlicher Bagger (Excavator), der als freier Mitarbeiter des Ipswich Museum - meist unterbezahlt – mit Schaufel und Spaten archäologische Fundstellen freilegt, bevor die akademischen Archäologen mit Pinsel und Kelle anrücken, um die Fundstücke mit der gebotenen Akkuratesse endgültig freizulegen. Brown dagegen hat keine akademische Ausbildung genossen, das lässt man ihn spüren. Das fachgerechte Ausgraben lernte er als Kind von seinem Vater. Die Schule musste er als Zwölfjähriger verlassen, um auf der heimischen Farm zu arbeiten.
 Ein mühsames Leben.
Simon Stones „The Dig“ erzählt kaum etwas über die außergewöhnliche Vorgeschichte eines Mannes, der sich als Autodidakt Latein, Französisch sowie etwas Deutsch und Spanisch beibrachte, als Hobby-Astronom eine bemerkenswerte Publikation zuwege brachte, die bis in die 1960er Jahre aufgelegt wurde, und ansonsten als Hilfspolizist und mit anderen Jobs mehr schlecht als recht das Geld verdiente, um seine Familie zu ernähren. Ausgerechnet Brown gelang dann 1939 aller Widrigkeiten zum Trotz der bis heute spektakulärste Fund der britischen Archäologiegeschichte. Von dieser Entdeckung erzählt „The Dig“ mit ruhigen Bildern und sparsamen Dialogen auf eine unaufgeregte Weise, die an die besten Filme des britischen Realismus erinnert.

Wir sind im Jahr 1939. Im britischen Suffolk wandern die Gutsbesitzerin Edith Pretty (Carey Mulligan) und Basil Brown über ein weites Feld. Sutton Hoo heißt der Ort, mehr als ein Dutzend auffällige Hügel deuten darauf hin, dass sie sich inmitten einer uralten Begräbnisstätte befinden. Die Gutsbesitzerin hat eine Ahnung und möchte con Brown wissen, ob sie Recht hat. Der vermutet, dass vermutlich nicht alle Hügel geplündert worden sind und Wertvolles auf sie wartet.
Doch was ist wertvoll? Grabplünderer wollen Schätze ausheben, Brown will Zeitreisen unternehmen und sich von den Artefakten Geschichten über die Geschichte erzählen lassen. Doch der Hobbyarchäologe will sich nicht so schlecht bezahlen lassen wie vom Ipswich Museum. Man einigt sich dann aber doch und als die beiden wieder auf dem Feld stehen, zitiert Brown den berühmten Archäologen Howard Carter: „Die Zeit hat ihre Bedeutung verloren.“
Carter (1874-1939) hatte 17 Jahre zuvor die fast 3000 Jahre alte Grabstelle des altägyptischen Pharaos Tutanchamun entdeckt. Ein spektakulärer Fund. Noch spektakulärer war, dass die Grabstelle nicht von Plünderern heimgesucht worden war. Ähnliches erhofft sich der 51-Jährige Brown von Sutton Hoo, nämlich den Blick auf Vergangenes, das unberührt Jahrhunderte überdauert hat und etwas darüber berichtet, was auch für unsere Zukunft wichtig sein könnte. Also Unvergänglichkeit inmitten von Tod und Zerfall, die die menschliche Existenz bis ans Ende begleiten.

Doch was könnte daran so wichtig sein angesichts der Flugzeuge, die pausenlos über die ostenglische Landschaft fliegen, während junge Soldaten sich begeistert im Dorf versammeln und der Radiosprecher vom letzten Ultimatum der britischen Regierung berichtet, nachdem die deutsche Wehrmacht Polen überfallen hat?

Und was bewegt egentlich die schwerkranke Edith Pretty? Die leidet unter Sodbrennen, hat einen schweren Herzklappenfehler, was der Dorfarzt nicht erkannt hat. Der Zuschauer erfährt es nach einer halben Stunde. Edith dagegen, als sie in London einen Spezialisten aufsucht, während die Bevölkerung per Lautsprecher vor Gas- und Bombenangriffen gewarnt wird. Die Diagnose hat finalen Charakter: die Chance, dass Edith die nächsten Jahre überlebt, ist gering. Trotzdem gibt sie nicht auf. Die Archäologie lernte sie auf Reisen kennen, ihr Vater war an Ausgrabungen beteiligt. Fünf Jahre zuvor starb ihr Mann an Krebs, nun ist sie mit ihrem siebenjährigen Sohn Robert (Archie Barnes), einem blasierten Butler und etwas Personal allein auf ihrem Gut und sucht nach einer Hinterlassenschaft für die Nachwelt. Nicht des Ruhmes wegen, sondern weil es getan werden muss.

Eine unterdrückte Elegie

Da haben sich also zwei Menschen gefunden, die durch Standesgrenzen wie selbstverständlich voneinander getrennt werden, und zu britisch, zu distinguiert und zu introvertiert sind, um ihre wachsende Freundschaft beim Namen zu nennen oder pausenlos über ihre Beweggründe zu philosophieren. Splendid Isolation der ganz anderen Art. Überhaupt sind die Dialoge des Drehbuchs der Autorin und Regisseurin Moira Buffini („Jane Eyre“) so sparsam wie Beziehungsgestaltung der Hauptfiguren, erst recht beim Umgang mit Psychologie und Emotionen oder den nahenden Tod.
Fiennes spielt den Ausgräber als in sich ruhenden Mann, der seine innere Sicherheit nur zeigt, wenn es erforderlich ist und ansonsten nur etwas sagt, wenn es wichtig ist. Carey Mulligan („The Great Gatsby“, „A Christmas Carol“: ihre Rolle sollte ursprünglich Nicole Kidman spielen) gelingt die Balance zwischen Todesnähe und Visionskraft auf unpathetische Weise und stattdessen mit leisen Töne. Sie lässt sich nicht gehen – gelitten wird nur, wenn niemand zusieht.

Auch ästhetisch ist „The Dig“ zugeknöpft. Postkartenmotive der englischen Landschaft sucht man vergebens, der Himmel ist meist verhangen, die Sonne sieht im leichten Nebel verschwommen aus. Es sind farbentsättigte Bilder wie in „Arrival“. Sie erzählen entschleunigt davon, dass sich zwei Menschen, die der Nachwelt ein Kapitel ihrer fast vergessenen Geschichte überlassen möchten, sich dabei wie in einer Zeitkapsel bewegen und unbeirrt ihre Mission verfolgen, während die reale Welt unmittelbar vor einem Weltenbrand steht. „The Dig“ wirkt
wie eine unterdrückte Elegie. Auch aufgrund des mal minimalistischen, dann wieder hyperdramatischen und keineswegs unumstrittenen Filmscores von Stefan Gregory, der die Affekte auf eine Weise drosselt und gelegentlich wieder hochfährt, als müsse man sie eigentlich vor dem Zuschauer verbergen, was auf Dauer aber fehlschlagen muss.

Fahrt nimmt der Film auf, als Brown der Durchbruch gelingt. In zwei Metern Tiefe entdeckt er einen erhalten gebliebenen Schiffskörper mit einer imposanten Länge von 27 m. Er vermutet, dass es sich um ein Artefakt aus dem angelsächsischen 7. Jh. handelt, eine Einschätzung, die von den nun aufmerksam geworden Archäologen für unmöglich gehalten wird. 

Der berühmte Charles Phillips (Ken Stott), Mitglied des Selwyn College in Cambridge, reißt in arroganter Selbstermächtigung die Ausgrabungen in Sutton Hoo an sich und Basil Brown verdankt es nur der Entschlossenheit von Edith Pretty, dass er nicht von der Fundstätte verbannt wird und weiterhin simple Aufgaben übernehmen darf.
Als die junge Archäologin Peggy Piggott (Lily James) den Beweis dafür findet, dass die Funde tatsächlich dem 7. Jh. zuzuordnen sind und Brown zudem eine Goldmünze aus der Kultur der Merowinger entdeckt, ist seine These bestätigt. Brown ist der wichtigste Fund der Archäologiegeschichte gelungen. Den Ruhm wollen aber andere ernten.

Handeln, nicht reden

Simon Stones zweiter Film wird einigen Zuschauern nicht viel Freude bereiten. Die Handlungsarmut des Films wird nur gelegentlich durchbrochen, etwa wenn Brown ganz zu Beginn der Ausgrabungen unter den ausgehobenen Erdmassen begraben wird und die Helfer ihn mit ihren Händen im allerletzten Moment ausbuddeln können. Auch eine über einem Weiher abgestürzte Maschine der Royal Airforce führt die Allgegenwärtigkeit des Todes vor, der Pilot kann nur tot aus dem versunkenen Wrack geborgen werden.

Ansonsten ist die Geschichte des Ausgräbers und seiner Auftraggeberin ein melancholisches Narrativ, das den Zuschauer auf Distanz hält und ihn nur selten ins Innere der Protagonisten vordringen lässt. Die handeln lieber, als dass sie reden. Getragen wird der Film daher vom Episodischen, das ebenfalls mit reduzierter Dramatik präsentiert wird. Etwa die feinfühlige Beziehung zwischen Ediths Sohn Robert (Archie Barnes spielt die Rolle eines Kindes, das den nahen Tod der Mutter ahnt, außergewöhnlich gut) und dem Ausgräber, der ohne viele Worte zum Ersatzvater des Kindes wird. Stone erzählt dies unsentimental und genau beobachtend - und deswegen auch glaubhaft und einfühlsam.

Dass in „The Dig“ eine Romanze zwischen Peggy Piggott und Ediths Cousin Rory Lomax (Johhny Flynn) in die Geschichte eingebaut wird, soll wohl weniger für romantischen Input sorgen, sondern ist eher John Prestons Roman „The Dig“ (2007) zu verdanken. Dort hat der Autor seiner Tante Peggy eine privilegierte Rolle bei den Ausgrabungen in Sutton Hoo angedichtet. Für die sexuell frustrierte Jung-Archäologin, die an ihrem verklemmtem Mann Stuart (Ben Chaplin) verzweifelt, wird der attraktive Rory zu einem Love Interest, das allerdings abrupt endet, als Rory von der Royal Airforce eingezogen wird. Peggy verlässt trotzdem ihren Mann (tatsächlich geschah dies 1954). Hier oszilliert der Film ein wenig zwischen Emanzipationsgeschichte und der literarischen Vorlage hin und her. Diese Nebenhandlung wirkt ein wenig überflüssig, sprengt den Rahmen des fast zweistündigen Films aber nicht. Ärgerlicher ist da schon die Darstellung der akademischen Archäologen und der Vertreter des lokalen Museums, die über das Rollenklischee vom blasierten und eitlen Besserwisser nicht hinauskommen.

„The Dig“ überzeugt am Ende trotz dieser kleine Schwächen, weil Browns Credo glaubwürdig auf den Prüfstand gestellt wird. „Ich finde, dass wir das Leben zutage fördern“, erklärt der Ausgräber seiner Auftraggeberin den Sinns der Ausgrabungen. Ein sehr ambivalentes Credo.

Einige Kritiker haben in dieser mit leiser Empathie erzählten Geschichte das Paradigma der Vergänglichkeit entdeckt. 
Das mag stimmen, aber die Unvergänglichkeit scheint nicht weniger wichtig zu sein. Sie ist etwas, was Film und Kino an sich verkörpern wollen: den Moment für alle Zeiten festzuhalten und Bilder in die Zukunft zu schicken. Wenn Peggy ihrem Lover Rory erklärt, dass von ihnen in Tausend Jahren kaum mehr als Staub übriggeblieben sein wird, so ist dies in einer filmischen Diegese eben doch ein unvergänglicher Moment, der nicht verschwindet. Zumindest nicht für eine gewisse Zeit.
Es ist ein Moment, der nicht nur das zu „Sand komprimierte“ (Brown) angelsächsische Schiff meint, sondern auch die schönste Szene des Films vorbereitet. Und die erleben Robert und seine todkranke Mutter in einer sternenklaren Nacht. Robert hat Decken und Kissen im Schiff ausgebreitet, liegt dort mit seiner Mutter und beide blicken in den Himmel, während Robert davon erzählt, wie sie mit dem Schiff zu fernen Sternen reisen. Auch dies ist nur ein Moment, aber man versteht, dass Browns Credo eben auch eine andere Bedeutung haben kann.

Am Ende schüttet der Ausgräber seinen Fund wieder zu. Edith, die sich juristisch alle Rechte über die Fundstelle und den Schatz gesichert hat, vermacht die kostbaren Fundstück später dem Britischen Museum. Edith Pretty stirbt 1942. Basil Brown stirbt 1977 mit 89 Jahren an einer Lungenentzündung. Dass er der Entdecker von Sutton Hoo war, wurde erst vor wenigen Jahren bekannt.

Noten: BigDoc = 1,5, Melonie = 2, Mr.Mendez = 3


The Dig (Die Ausgrabung) – Netflix 2021 – Regie: Simon Stone – Buch: Moira Buffini (nach dem gleichnamigen Roman von John Preston) – Kamera: Mike Eley – Musik: Stefan Gregory – D.: Ralph Fiennes, Carey Mulligan, Lily James, Johhny Flynn, Ben Chaplin, Ken Stott, Archie Barnes.