Samstag, 9. Januar 2021

Feinde – dem ethischen Diskurs der ARD fehlte die Substanz

Das von der ARD angekündigte zweiteilige TV-Experiment wollte eine Debatte entfachen und die Zuschauer zum Mitdenken motivieren. Ein Perspektivwechsel sollte in „Feinde“ einen brisanten Entführungsfall von zwei Seiten beleuchten, doch die beabsichtigte Dialektik scheiterte weniger an der ethischen Fragestellung, sondern an der mangelnden dramaturgischen Substanz.

Stattdessen entzog sich Ferdinand von Schirachs Geschichte der Konstellation eines bekannten Falls, der Entführung von Jakob von Metzler, um die Geschichte so hinzubiegen, dass sie zur Botschaft des Erzählers passte.

Trotz Verbot wird weltweit gefoltert

Nein, es darf nicht gefoltert werden. Das muss klar sein, um das Folgende zu verstehen. Für diese Einsicht braucht man sicher den Hinweis auf Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention und Art. 1 des Grundgesetzes, aber mehr noch die Gewissheit, dass die kulturellen und rechtlichen Konventionen und Traditionen, die sich auf dem europäischen Kontinent seit der Aufklärung etabliert haben, von einem breiten Konsens getragen werden. Nein, es darf nicht gefoltert werden.

Dies gilt um so mehr, weil auch in Europa gelegentlich misshandelt, geschunden und gefoltert wird. Etwa in Frankreich, die Fälle reichen bis in die Nachkriegszeit zurück („Die Herrschaft der flics“, Spiegel 1959, „Der Staat als Feind“, Deutschlandfunk 2017). Und das Verbot gilt auch, weil die USA im Kampf gegen den Terror die Folter zwar nicht offiziell legitimierte, aber als vermeintlich unverzichtbare Verhörtechnik dauerhaft etablierte: der Zweck heiligte die Mittel.

Doch der Konsens hat Risse bekommen. 2006 veröffentlichte der SPIEGEL die Ergebnisse eine Umfrage der britischen BBC, die darüber Auskunft gab, dass in Deutschland immerhin 21 Prozent der Befragten die Folter befürworteten. In den USA waren es 36 Prozent, in Israel gar 43 Prozent. Natürlich handelte es sich nicht um eine generellen Zustimmung zur Folter, sondern darum, ob Gewalt legitim sei, wenn dadurch das Leben Unschuldiger gerettet werden kann. Und besonders dort, wo der Terrorismus grassiert, schnellte die Anzahl der Befürworter in die Höhe.

Folter ist also per definitionem in den meisten Fällen eine Ausnahme inmitten einer etablierten Rechtordnung, die Folter generell unter Strafe stellt. Darum geht es auch in „Feinde“, dem Zweiteiler der ARD. Als in Berlin die zwölfjährige Lisa von Bode auf dem Weg zur Schule entführt wird, muss die ermittelnde Polizei schnell handeln, denn die Eltern des Mädchens wollen sofort das geforderte Lösegeld zahlen, was das Team um Kommissar Peter Nadler (Bjarne Mädel) für problematisch hält. Als Nadler das Umfeld der Familie unter die Lupe nimmt, kommt ihm besonders der Sicherheitsexperte Georg Kelz (Franz Hartwig) verdächtig vor, der kein belastbares Alibi vorweisen kann. Nadler lässt sich weniger von konkreten Beweisen, als vielmehr von seiner Intuition leiten: Kelz muss der Täter sein. Und da mitten im bitterkalten Winter das Leben des Kindes als besonders gefährdet erscheint, bittet Nadler die Polizeipräsidenten darum, verschärfte Verhörmethoden anwenden zu dürfen. Dies wird natürlich abgelehnt und so beschließt Nadler, den mittlerweile inhaftierten Kelz zu foltern. Bereits nach einem kurzen Waterboarding bricht Kelz zusammen und nennt dem Polizisten den Ort, an dem das Mädchen gefangen gehalten wird. Doch das SEK findet das entführte Kind nur noch tot vor. Es ist an Kohlenmonoxid erstickt, aber das erfährt man erst im zweiten Teil des Fernsehfilms.

„Feinde – Gegen die Zeit“ und „Feinde – Der Prozess“ lauten die Titel der beiden Teile. Zum Prozess kommt es bereits in Teil 1. Aufritt Klaus Maria Brandauer, der den Anwalt Konrad Biegler spielt. Er macht die 30-minütige Hauptverhandlung zum Höhepunkt in „Feinde“. Doch wer sind eigentlich die „Feinde“. Sind es der Kommissar und der mutmaßliche Täter? Oder sind es der Anwalt und der Polizist, der vom Anwalt rhetorisch so gekonnt demontiert wird, dass er gesteht, den Inhaftierten gefoltert zu haben? 
Diese Fragen müssen die Zuschauer selbst beantworten. Weniger unentschieden ist das Urteil: Kelz wird freigesprochen, weil ein durch Folter erpresstes Geständnis auf keinen Fall eine hinreichende Grundlage für eine Verurteilung bietet.

 

Schlampige Inszenierung und logische Inkonsistenzen

„Feinde“ trägt seine Botschaft wie ein Banner vor sich her und strickt die Handlung so zusammen, dass alles auf das gewünschte Ergebnis hinausläuft. Damit begehen die Macher eine Todsünde des Films und fügen noch eine weitere hinzu. 

Die erste Sünde: Wohl kein Filmemacher lässt sich dazu hinreißen, die Botschaft seines Films lauthals zu verkünden. Stoiker wie John Ford leugneten sogar vehement, eine solche zu besitzen. Auch ein filmischer Moralist wie Martin Scorsese, der seine Zuschauer immer wieder bei der Wahrheitsfindung in ethische Dilemmata führt, würde wohl kaum vor der Filmpremiere den moralischen Zeigefinder heben und dem Zuschauer mitteilen, welche Entscheidung er gefälligst zu treffen hat. In „Feinde“ ist das Gegenteil der Fall.

Um dies als moralethischen Höhepunkt zu inszenieren, hetzt die Handlung unter der Regie von Nils Willbrandt, der u.a. Ferdinand von Schirachs „Schuld“ (2019) inszenierte, wie getrieben auf den geplanten Höhepunkt zu: die Gerichtsverhandlung. Willbrandt hat zusammen mit Jan Ehlert das Drehbuch geschrieben, aber es war Ferdinand von Schirach, der aus dem Skript die Endfassung machte. 

Von Schirach hat sich als Autor und Filmemacher über die letzten beiden Jahrzehnte zu einem raffinierten Erzähler gemausert, der mit Kurzgeschichten wie „Verbrechen“ (2009) und „Schuld“ (2010) nicht nur regelmäßig die Bestsellerliste des SPIEGEL eroberte, sondern auch im Theater präsent war und ist. Ins öffentliche Gedächtnis hat sich der Autor 2015 mit „Terror“ geschrieben, jener Erzählung über den präventiven Abschuss eines von Terroristen entführten Passagierflugzeugs, die 2016 von Lars Kraume für die ARD verfilmt wurde. „Terror“ soll laut dem deutschen Bühnenverein Goethes „Faust“ als erfolgreichstes Bühnenstück abgelöst haben. 
Der entscheidende Coup war jedoch, dass im Theater der Zuschauer am Ende über Wahrheit und Unwahrheit entscheiden durfte - eine moralische Partizipation, die dem Publikum auch in „Gott“ (2020) zugebilligt wurde. Ein Theaterstück über die Sterbehilfe, das ebenfalls sehr rasch auch den Weg ins TV fand. Und abschließend durften die Zuschauer auch dort abstimmen.
Ferdinand von Schirach ist sozusagen der Chefmoralist der Republik geworden. Und er hat seine Themen. In einem Interview erklärte er. „Wenn meine Bücher eine Bedeutung haben, dann liegt sie darin, dass sie versuchen, die Würde des Menschen zu verteidigen.“ 
Das ist ein ehrenwertes Unterfangen, aber diesmal schien die ARD von einer Zuschauerbefragung nichts Positives zu erwarten.

Vielleicht zu Recht, denn der Fernsehfilm entpuppte sich als dramaturgische Schlamperei, die eine erzählenswerte Geschichte verschenkte. Der Entführungsfall, die polizeilichen Ermittlungen und die moralische Kehrtwende des Hauptermittlers wurden nicht mit den erforderlichen Mitteln unterfüttert. Die Macher wollten sich nicht damit aufhalten, der Figur des Peter Nadler einen moralischen Antagonisten entgegenzustellen. Dies hätte Raum für Dialoge geschaffen, in denen Für und Wider verhandelt wird, bevor Nadler beschließt, den Verdächtigen zu foltern. Aber Katharina Schlothauer, die Nadlers Co-Ermittlerin Judith Lansky spielt, kommt über knappe Gesprächsbeiträge nicht hinaus – eine verschenkte Rolle. Stattdessen sieht man einen Polizisten, der emotional erregt ist und ohne Reflexion rein intuitiv handelt, aber ansonsten ohne viel Aufwand die Entscheidung für eine „Rettungsfolter“ trifft (ein Begriff, der seit Fall Jakob von Metzler bekannt ist).

Auch die Gerichtsverhandlung wird, obwohl dreißig Minuten lang, in ein zeitliches Korsett gepresst. In einer Darstellung einer Gerichtsverhandlung von so grundsätzlicher Bedeutung die Staatsanwaltschaft bis auf einen Zwischenruf nicht ein einziges Mal zu Wort kommen zu lassen, ist ein erzählerischer Faux pas, der verblüfft. Gelinde gesagt. Da auch die Rolle der Vorsitzenden Richterin (Anne Ratte-Polle) ähnlich eingedampft wird, gerät die Verhandlung zu einem Wortgefecht zwischen Anwalt Biegler und dem Zeugen Nadler, der durch den rhetorisch brillanten Anwalt sukzessive demontiert wird. Was dem Zuschauer hier zugemutet wurde, war zwar spannend, aber juristisch eine Farce.

Kelz‘ Anwalt verwandelt das Verfahren in eine One-Man-Show. Das spielt Klaus Maria Brandauer brillant. Mit freundlichen Geduld dringt er langsam bohrend in die Einzelheiten der Ermittlung vor, zieht Nadler in eine Debatte über die Folter, der Nadler auf Dauer nicht gewachsen ist, und entlockt dem Kommissar das Geständnis, dass er Georg Kelz einem Waterboarding unterzogen hat. 
Dies ist die Wende in dem Prozess. Kelz wird freigesprochen und die Urteilsbegründung entspricht dem Stand der Rechtsprechung. Wenngleich „Feinde“ der Komplexität des Themas nicht vollständig gerecht wurde, so wurden die wichtigsten Aspekte des Themas deutlich. Aber alles waberte an der Oberfläche. Kein Wunder, wurde der Staatsanwältin durch das Drehbuch das Rederecht verweigert.

Auch der zweite Teil warf Fragen zur Dramaturgie auf. Beabsichtigt war, dass der Zuschauer das Geschehen aus einer weiteren Perspektive wahrnehmen sollte. In den Fokus rückte nun Biegler, der Anwalt. Aber Neues erfuhr man in Teil 2 nicht, nur dass Biegler von seinem Hausarzt zu einer gesünderen Lebensweise ermahnt wurde.

Spannender war das Gespräch zwischen Kelz und seinem Anwalt. Es sollte wohl die andere Perspektive herstellen, aber mit einer gewissen Fassungslosigkeit sah man, dass Biegler nur erfahren wollte, was Kelz der Polizei mitgeteilt hatte. 
Auch wenn der juristische Laie sich ein ums andere Mal keine Antwort auf die Frage findet, warum Anwälte solche Fälle übernehmen, so ist dies eine Säule unseres Rechtssystem.
Aber wir sind in einer Fiktion und nicht im realen Leben. Und so fragt man sich, warum die Macher vollends darauf verzichtet haben, den Anwalt nach dem Täterwissen seines Mandanten zu fragen. Immerhin hatte Kelz ja de facto den Ort genannt, an dem sich das entführte Mädchen befand. Auch im Prozess kam das Täterwissen nicht zur Sprache – wohl eine der gravierendsten Löcher im Skript. Aber all dies schien Biegler nicht zu interessieren, obwohl es allein aus prozessstrategischen Gründen genug Gründe gibt, um als Anwalt der Sache auf den Grund zu gehen.

Stattdessen folgte die zweite Todsünde. Der Zuschauer musste man sich in der überflüssigen Fortsetzung am Ende erneut die Hauptverhandlung in voller Länge anschauen. Geändert wurde nur der Bildschnitt. Die Kamera fokussierte stärker auf den Anwalt, während der Kommissar in die Totale befördert wurde. 

Verschenkte Sendezeit, die man anders – und besser - hätte nutzen können. Etwa für eine Debatte zwischen Anwalt und Kommissar nach dem Prozess, aber diesmal unter Ausschluss der Öffentlichkeit – von Mann zu Mann und ohne Taktieren. So fiel das Credo „Langweile nicht deinen Zuschauer“ einem ambitionierten Versuch zum Opfer, der den Konflikt zwischen Recht und Gerechtigkeitsgefühl verhandeln wollte, dann aber kurz vor Mitternacht alle mit einer Wiederholung quälte, die sich trotz der Ungereimtheiten und logischen Inkonsistenzen noch vor dem TV befanden.


Ein Message-Movie geht auch anders als unterkomplex

Am Ende will Konrad Biegler sich nicht so recht als Sieger fühlen. „Gewonnen hat der Rechtsstaat“, murmelt er auf der Rückfahrt in seine Kanzlei. Und damit sprach er auch das Credo von Ferdinand von Schirach aus, dem es im Kampf um die Würde des Menschen diesmal um das konsequente Folterverbot ging, das laut Amnesty International von 78% der Deutschen ohnehin ohne Abstriche befürwortet wird.
Wenn man schon offene Türen einrennt, so sollte eine TV-Erzählung dem Zuschauer keine Botschaft aufs Auge drücken, sondern ihn geistig und emotional herausfordern. Ein einfaches, aber immer wieder exzellentes Mittel wäre der Zweifel gewesen. Der bildete sich auch in den Befragungen ab, die eine kurze Doku zwischen den zwei Teilen präsentierte.

War der Freispruch falsch oder richtig? Die Juristen unter den Befragten stimmten mehrheitlich zu, die Polizisten waren deutlich reservierten und die Eltern von tatsächlich entführten und getöteten Kinder wurden von dem Dilemma zwischen Moral und Bauchgefühl fast zerrissen. Folter nein, aber wenn es mein Kind rettet?

Was „Feinde“ überhaupt nicht zur Diskussion stellen wollte, war das reale juristische Dilemma, das bereits vor Jahrzehnten von führenden Rechtswissenschaftlern verhandelt wurde. So löste 1995 ein Beitrag des bekannten Rechtswissenschaftlers Winfried Brugger eine facettenreiche Debatte aus. Brugger stellte die Hypothese in den Raum, dass es in begrenzten Ausnahmesituationen zu einem Konflikt zwischen der von Art. 1 des Grundgesetzes garantierten Menschenwürde und der Würde eines Opfers kommen könne. In wenigen Fällen könne es darum gerechtfertigt sein, Personen zu foltern, die im Sinne des Polizeirechts für eine schwere Tat verantwortlich sind.

Das Dilemma: in „Feinde“ gibt es keine Indizien dafür, dass der vom Ermittler Verdächtige in die Tat involviert ist. Dennoch bleiben Bruggers Argumente aussagestark genug. Noch heute kann man in der Bundeszentrale für politische Bildung Bruggers 2006 verfassten Aufsatz „Einschränkung des absoluten Folterverbots bei Rettungsfolter“ nachlesen.
Brugger macht in dieser Arbeit keinen Hehl daraus, dass im Jahre 2002 im Falle des entführten Jakob von Metzler an der Täterschaft des verdächtigten Magnus Gäfgen ermittlungstechnisch nicht die geringsten Zweifel bestanden. Der Frankfurter Polizeivizepräsident Wolfgang Daschner drohte Gäfgen Gewalt an, dieser nannte den Ort, an dem das Kind zu finden sei. Es war bereits tot. Gäfgen wurde zu lebenslanger Haft verurteilt, Daschner kam mit einer geringen Strafe davon.
Damals kamen bis zu zwei Drittel der deutschen Bevölkerung zu der Einschätzung, dass Daschner richtig gehandelt hatte. Aber es ist zu vermuten, dass solche Bewertungen sich teilweise einem archaischen Rechtsverständnis verdanken. Tatsächlich geben u.a. Art. 1 und auch Art. 1 der UN-Anti-Folter-Konvention den rechtliche Rahmen vor. Das setzt Diskussionen allerdings nicht außer Kraft. Etwa dann, wenn man angesichts der zunehmenden Gewalt in demokratisch geprägten Gesellschaften und auch angesichts der wachsenden Popularität von populistischen Regierungen, der gesellschaftliche Konsens in diesen Fragen auf eine harte Probe gestellt wird.

Brugger hingegen machte darauf aufmerksam, dass in einem Entführungsfall das Gefahrenabwehrrecht der Polizei und das Aussageverweigerungsrecht des Beschuldigten aufeinanderprallen. Das Aussageverweigerungsrecht, so Brugger, müsse aber bei Gefahr für Leib und Leben eines Opfers ausgesetzt werden und bezog sich auf Paragraph 12 II des hessischen Polizeigesetzes. Die aus Verhören gewonnenen Erkenntnisse dürften allerdings nur der Rettung des Opfers dienen, in einem späteren Verfahren aber nicht gegen den Angeklagten eingesetzt werden.
Und wenn der Verdächtigte nicht reden will? Hier erkannte Brunner die Notwendigkeit einer Diskussion über die Handlungen aus Notwehr gemäß Paragraph 32 des StGB, die zu der durchaus paradoxen Situation führen könne, dass die Polizei keinesfalls mit Gewalt Informationen erpressen darf, jedoch die Eltern (so sie des mutmaßlichen Täters habhaft werden) foltern dürften. Paradox sei auch, dass der Polizei zum Schuss eines Opfers der finalen Rettungsschuss gestattet sei, aber keineswegs der Einsatz von Gewalt, um lebensrettende Informationen zu erpressen. Eine Argumentation, die auch der Fernsehkommissar Nadler in der Verhandlung anführt.

Für Brugger entstehen auf diese Weise „Bewertungslücken“: „Die Norm ist zu abstrakt, zu wenig trennscharf und nicht ausreichend auf die Fallumstände bezogen. Sie bedarf deshalb einer interpretativen Verengung für Fälle, in denen Leben gegen Leben oder Würde gegen Würde steht. Auch für Fälle, in denen Leben gegen Würde steht? Man könnte ja argumentieren, dass es für das Entführungsopfer "nur" um Leib und Leben geht, während die Folter die "Würde" des Entführers verletzt. Da aber "Leben" Voraussetzung für "Würde" ist, verdient jenes nach der Verfassung niedrigere (weil einschränkungsfähige) Rechtsgut den gleichen Schutz wie das höhere (weil nach dem Text schrankenlose) Rechtsgut Würde.“

Dies spiegelt nur einen Ausschnitt der juristisch sehr komplizierten Debatte wider. Aber sie sollte zumindest skizziert werden, um zu zeigen, dass es diese Debatte und diese keineswegs auf tönernen Füßen steht. Nun kann ein Fernsehspiel nicht zu einem juristischen Kolloquium werden, muss aber wenigsten in Ansätzen zeigen, dass die Rechtsprechung auch in ihren ethischen Grundlagen keine Apodiktik bereithalten kann, solange es Ausnahmefälle gibt, die unseren Konsens erschüttern.

Auch der 2010 verstorbene Brugger wusste: „Lassen wir auch nur einen Fall von Folter zu, werden unsere Polizisten über kurz oder lang in vielen Situationen zu diesem Mittel greifen; ferner werden andere, rechtsstaatlich nicht so gefestigte Staaten die weltweit verankerten Folterverbote umso öfter missachten. Unbestreitbar ist, dass eine Organisation wie die Polizei, deren Hauptaufgabe effektive Gefahrenabwehr (und dann auch Strafverfolgung) ist, strukturell in Gefahr steht, rechtsstaatliche Grenzen zu überschreiten.“

Gleichwohl definierte Brugger eine Ausnahmekonstellation: „Diese sollte acht Merkmale umfassen: (1) eine klare, (2) unmittelbare, (3) erhebliche Gefahr für (4) das Leben oder die körperliche Integrität einer Person durch (5) einen identifizierten Aggressor, der (6) gleichzeitig die einzige Person ist, die zur Gefahrenbeseitigung in der Lage und (7) dazu auch verpflichtet ist. (8) Die Anwendung körperlichen Zwangs ist das einzig erfolgversprechende Mittel. Eine Ausnahme vom Folterverbot ist also nicht gerechtfertigt, wenn (1) ein bloßer Verdacht einer Gefahr vorliegt oder die Gefahr (2) lediglich mittelbar oder (3) unerheblich ist oder (4) ein nicht so gewichtiges Rechtsgut - etwa Eigentum - betrifft oder wenn (6 u. 7) die Polizei die Gefahr selbst oder (8) mit geringer eingreifenden Mittel beseitigen kann. (5) Gegen bloß Verdächtige, selbst stark Verdächtige, oder dritte Personen - etwa Verwandte oder Rechtsanwälte - darf nicht vorgegangen werden.“

Dass diese Ausnahmeregelung die Justiz dauerhaft belasten würde, dürfte jedem klar sein. Sie würde auch auch das öffentliche Rechtsverständnis aushöhlen, denn Ausnahmekonstellationen gehorchen ihrer Natur und wollen expandieren. Man mag sich nicht vorstellen, wie in einzelnen Fällen, in denen nicht gefoltert wurde, ein Shitstorm in den Social Media die zu zahmen Ermittler an den Pranger stellen würde.
Öffnet man erst einmal die Tür, dann wird man den ungebetenen Gast nicht mehr los.

Wer sich dagegen seriös mit dem Thema und einer sachkundigen Auseinandersetzung mit dem ARD-Fernsehspiel beschäftigen will, sollte die Rezension von Thomas Fischer lesen. In
„Folterkunde, einmal anders“ liefert der ehemalige Vorsitzender Richter am 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs eine komplexe Analyse des Problems ab. Die ist nicht leicht zu lesen, wird dem Anspruch gerecht, dass der Spalt zwischen intuitivem Gerechtigkeitsgefühl und etablierten Rechtsnormen niemals unterkomplex ist, sondern fordernd bleiben muss. So weist Fischer auch auf das Dilemma hin, das dadurch entsteht, dass Folter eben nicht erfolglos ist, weil man dem Gemarterten nur beliebige Geständnisse entreißen kann: Folter ist ein hochwirksames und sehr zuverlässiges Mittel zur Wahrheitserforschung."
Und Fischer leitet gerade aus dieser Erkenntnis die Forderung nach einem unbedingten Folterverbot ab:
Weil der Staat (...) seine Bürger in Friedenszeiten (und meistens auch im Krieg) nicht wie Sachen, Objekte, Sklaven, Tiere behandeln darf, egal aus welchem (guten) Grund. Das ist es, was wir »Menschenwürde« nennen."

Dies ist eine klare Abgrenzung von allen Zumutungen, die von utilitaristischen Prämissen ausgehen - nämlich sich daran zu orientierten, dass etwas rechtens ist, wenn es dem Gemeinwohl dient oder auch nur deshalb, weil es effektiv ist. Zweckethik und Pragmatismus stehen sich auch in der Frage nach der Folter unversöhnlich gegenüber.

Ein Fazit fällt schwer

Es gehört zu den durch diese Argumente erzeugten Dilemmata, dass es für den Rezensenten nicht einfach war, eine abschließende Bewertung vorzunehmen. Im Zweifelsfall ist allein schon aus Gründen der ethischen Hygiene das Folterverbot absolut zu setzen. Seine Legitimität erhält das Verbot allein schon durch die denkbare Zunahme willkürlicher Übergriffe, die durch die Bezugnahme auf die Brugger’sche Ausnahmekonstellation entstehen würden. Aber dies wäre keine positivistische Ableitung einer Rechtsnorm, das Verbot würde seine mittelbare Legitimierung vielmehr durch den denkbaren und überaus wahrscheinlichen Missbrauch in der Praxis erhalten.

Tatsächlich muss man akzeptieren, dass Rechtsnormen alle Eigenschaften eines Gesellschaftsvertrages aufweisen: sie sind keine in Stein gemeißelten Wahrheiten (das erwarten leider viele), sondern Vereinbarungen. Und damit aufkündbar. Das ist die Gefahr, aber es ist auch die Stärke von Rechtsnormen. Diskussionen darüber dürfen nicht unkompliziert sein, und so kommt Thomas Fischer zu einer vernichtenden Bewertung des TV-Spaktakels
„Feinde“: Von Schirach ist, was Johannes Mario Simmel in den frühen Jahren war: Ein Trivialautor, der vorgibt, Menschen »abzuholen, wo sie sind«, und mit angestrengt moralisierender Pose den Ungebildeten enthüllt, dass das Leben kompliziert, seine Probleme aber mit gutem Willen auf übersichtliche Fragen reduzierbar seien."

„Feinde“ hat mit der Konstruktion eines Falles, in dem die von Brugger entworfenen Konstellationen erst gar nicht entstanden sind (keine Indizien für die Täterschaft des Beschuldigten), eine komplexe Diskussion geradezu verhindert. Stattdessen hätte gezeigt werden müssen, dass Kelz der alleinige Täter ist, allein schon deswegen, weil man bei einem Verdacht ohne Indizien meilenweit von Bruggers Ausnahmesituation entfernt ist.
Dass dies nicht geschah, war mutlos.
Stattdessen wurde die Handlung passgenau manipuliert und dramaturgisch Zeit verschenkt, in der eine solche Diskussion hätte stattfinden können. Zudem konnte sich die ARD nicht dazu durchringen, eine Talkrunde mit offenem Ergebnis anzubieten – bloß nichts aus dem Ruder laufen lassen. Aber dies führt dazu, dass schlimmstenfalls die von den Machern gewünschte Auseinandersetzung mit der Dialektik eines intuitiven Rechtsempfinden und einer normierten Rechtsprechung eben doch aus dem Ruder läuft und der Stammtisch sich seine eigene Meinung bildet.

Trotzdem ein Fazit: Über die unterschiedlichen Fassungen des Fernsehspiels und die Reihenfolge, mit der sie im Hauptprogramm und den Dritten gezeigt wurden, will ich nicht reden. Dies ist ein anderes Thema.
Wichtiger ist Folgendes: Ungeachtet der Tatsache, wie der fiktive Kommissar in „Feinde“ das Opfer zu retten versuchte, kann das dabei glasklar bewiesene Täterwissen von einem Gericht nicht ignoriert werden. Es ist zwar unklar, ob Kelz der Haupttäter, ein Gehilfe des Täters oder ein passiver Mitwisser war, aber involviert war er auf jeden Fall. So aber kommt der mutmaßliche Täter frei, der Kommissar muss mit einer Klage rechnen und diejenigen, die seit Jahren vom Täterschutz zulasten des Opfers schwafeln, haben die Erfahrung gemacht, dass sie wohl nicht ganz schief liegen. So etwas nennt man Rohrkrepierer.

Feinde - Deutschland 2021 - Nach einer Idee von Ferdinand von Schirach - Buch: Jan Ehlert, Nils Willbrandt, Ferdinand von Schirach - Regie: Nils Willbrandt - D.: Klaus Maria Brandauer, Bjarne Mädel, Franz Hartwig, Katharina Schlothauer, Alix Heyblom, Ursina Lardi u.a.

Literatur: 

  • Einschränkung des absoluten Folterverbots (Winfried Brugger, 2006)
  • Jeder Dritte lehnt Folter nicht grundsätzlich ab (SPIEGEL, 19.10.2006)
  • Folter im Anti-Terror-Kampf (STERN, 21.01.2015). Den Einsatz von Folter befürworten 15 Prozent der Bundesbürger, wenn dadurch terroristische Anschläge verhindert und Menschenleben gerettet werden könnten. Vor allem Anhänger der rechtspopulistischen AfD votieren nach einer Forsa-Umfrage für den stern mit 35 Prozent für Verhörpraktiken, wie sie auch im US-Gefangenenlager Guantanamo angewandt wurden, die aber in Deutschland grundgesetzlich strikt verboten sind. Auch die Sympathisanten der Linken (18 Prozent) und die Ostdeutschen (17 Prozent) sind etwas häufiger als der Durchschnitt der Auffassung, dass Folter im Notfall erlaubt werden sollte.
  • Bericht belegt: Folter ist in vielen Ländern alltäglich (Amnesty International, 12. Mai 2014). Weltweite Umfrage zum Thema Folter
Als Teil der "Stop Torture" Kampagne hat Amnesty International eine weltweite Umfrage bei GlobeScan zum Thema Folter in Auftrag gegeben. Befragt wurden mehr als 21.000 Menschen in 21 Ländern – darunter Deutschland - über ihre Einstellung zum Thema Folter und zur Situation in ihrem Land. Die Studie ergab, dass beinahe die Hälfte (44%) der Befragten weltweit befürchteten, dass sie nach einer Festnahme in ihrem Heimatland gefoltert würden. Die überwiegende Mehrheit (82%) ist weltweit – und derselbe Anteil der deutschen Befragten – der Meinung, dass klare Gesetze zur Bekämpfung von Folter notwendig sind. 78 Prozent der Deutschen halten Folter unter keinen Umständen für gerechtfertigt.
  • Folterkunde, einmal anders“ (Thomas Fischer 2021).