Freitag, 12. Februar 2021

Neues aus der Welt - Spätwestern mit Tom Hanks und Helena Zengel


Die einleitende Idee ist originell, die Geschichte ist es nicht. Das macht aber nichts, denn gute Geschichten kann man immer erzählen. Bloß sieht sie momentan nicht im Kino, sondern bei Netflix.
Mit seinem Spät-Western „Neues aus der Welt“ ist Paul Greengrass ein Glücksgriff gelungen. Denn in dem Film stimmt alles: die melancholische Geschichte eines Mannes, dem 1870 sein Homecoming nach dem Amerikanischen Bürgerkrieg erst noch gelingen muss. Die wunderschönen Bilder von Dariusz Wolski, eine naturgewaltige Nebendarstellerin und ein Happy End, das man bei einem Film mit Tom Hanks zwar erwartet, das zum Glück aber glaubhaft ist, weil das Melodramatische den Realismus der Geschichte nicht aushebelt.

Kids werden sich Augen reiben

Darauf muss man erst mal kommen: Nach Beendigung des Amerikanischen Bürgerkriegs verdient sich ein ehemaliger Captain der Südstaaten-Armee seinen Lebensunterhalt damit, dass er mit einem Packen Zeitungen durch die Provinz tingelt und den Menschen die Nachrichten vorliest. 
Der Filmtitel ist ein netter Euphemismus, denn in unserer Zeit erwarten die Digital Natives Push-Nachrichten im Minutentakt. Wenn aber Captain Jefferson Kyle Kidd (Tom Hanks) seinen begierig lauschenden Zuhörern von der Verbreitung der Meningitis in den nördlichen Provinzen vorliest, muss er ahnen, dass die Geschichte seine Geschichten mit rasantem Tempo überholt hat. Für seine Zuhörer sind die „News of the World“, so der der Originaltitel, aber von unmittelbarer Bedeutung, auch wenn sie einige Wochen alt sind. Neu sind sie immer noch. Kids werden sich trotzdem die Augen reiben.

„Neues aus der Welt“ ist ein Spät-Western, ein Familiendrama, irgendwie auch eine Buddy- und On the Road-Geschichte mit Pferd und Gespann. Wir sind im Jahr 1870 in Texas, der Bürgerkrieg ist seit fünf Jahren beendet und der Konföderierten-Captain Jefferson Kyle Kidd ist seitdem nicht nach Hause zurückgekehrt. Im Wald entdeckt er ein umgestürztes Fuhrwerk, am Baum hängt ein farbiger Nordstaaten-Soldat, von Rassisten aufgeknüpft. Ein Zettel an der Leiche behauptet: „Texas gehört den Weißen.“ 
Das kleine Mädchen im ledernden Indianer-Outfit wurde von den Mördern verschont, vielleicht lag es an ihren blonden Haaren. Nun hat Kidd ein Problem: Was tun mit dem Kind? Die deutschstämmige 12-Jährige
wurde vor Jahren von den Indianern entführt und spricht nur in ihrer Sprache. Dank eines Dokuments, das Kidd findet, erfährt er, dass der aufgehängte Soldat die Kleine zum Büro für indianische Angelegenheiten bringen sollte.

Auch fünf Jahre nach Kriegsende ist die Situation in Texas angespannt. In dem Western von Paul Greengrass, der sich als Regisseur der beiden ersten Teile der Bourne-Trilogie als Experte der Shaky Cam (Wackelkamera) profilierte, muss man also genau hinschauen. Als Kidd und das Kind am Ort des Lynchmords von einer Nordstaaten-Patrouille überrascht werden, kommt der ehemalige Südstaaten-Offizier Kidd nicht nur dank seiner Entlassungspapiere mit dem Leben davon, sondern auch, weil seine kurzläufige Flinte nur mit Vogelschrot geladen ist. Waffenbesitz ist verboten: So sieht es auf der Seite der Verlierer halt aus. Und Hilfe kann Kidd von den Soldaten auch nicht erwarten, er soll sich halt selbst um das Mädchen kümmern.

Zwei Traumatisierte lernen das sprachlose Sprechen

So entwickelt sich eine ungewöhnliche Geschichte zwischen einem Mann, der sich einen Funken Anstand bewahrt hat, und einem Kind, dessen Kiowa-Familie ausgerottet wurde und das nun zum zweiten Mal seine Eltern verloren hat. Ein wenig erinnert „Neues aus der Welt“ an Henry Hathaways ironischen Spätwestern „True Grit“ (dts. Der Marshal, 1969), einen Film, in dem sich John Wayne als Ex-Marshal „Rooster“ Cogburn mit einem jungen Mädchen (Kim Darby) auf die Suche nach dem Mörder ihres Vaters begibt. 

Aber noch mehr spürt man in „Neues aus der Welt“ das dramatische Potential von John Fords „The Searchers“ (dts. Der schwarze Falke, 1956). Dort soll John Wayne als Kriegsveteran Ethan Edwards seine von Comanchen entführte Nichte (Lana Wood, Natalie Wood) befreien. Nur will die rassistische Hauptfigur in Fords Meisterwerk seine Nicht lieber tot als lebend heimbringen und ein Homecoming gibt es für Fords ikonische Hauptfigur trotz Läuterung dann auch nicht.

Nun ist Tom Hanks in der Verfilmung des gleichnamigen Romans von Paulette Jiles (2016) alles andere als ein Rassist, sondern ein Mann mit moralischen Überzeugungen, der allerdings aufgrund seiner Kriegserfahrungen nicht weniger traumatisiert ist als das Mädchen, das er zu seinen Verwandten zurückbringen will. Und natürlich wird die lange Reise dorthin zu einer Odyssee, während der beide lernen müssen, sich auch ohne Sprache zu verständigen.

In dem von Luke Davies und Paul Greengrass wird die Hauptfigur allerdings nicht allzu ambivalent skizziert. Es ist ein typische Tom Hanks-Rolle, in der die Integrität seiner Figur wichtiger ist als seine seelischen Qualen. Kidd spricht zwar gelegentlich von grässlichen Dingen, die er im Krieg erlebt hat, und solchen, die auf sein Konto gegangen sind, aber Letzteres kauft man ihm nicht ab. Wohl aber die tiefe Melancholie, die einen Mann umtreibt und die verhindert hat, dass er zu seiner Frau nach San Antonio auch nach fünf Jahren nicht zurückgekehrt ist. Den Grund dafür erfährt man am Ende, er beschädigt Kidds moralische Integrität aber nicht.

Das Mädchen, deren Indianername „Zikade“ (engl. Cicada) lautet und die eigentlich Johanna Leonberger heißt, wird von Helena Zengel gespielt, die bereits im Alter von fünf Jahren erste Schauspielerfahrungen sammelte und durch Nora Fingscheidts „Systemsprenger“ (2019) berühmt wurde. Sie dürfte wohl vorerst auf den Rollentypus des schwer traumatisierten Kindes festgelegt sein. 
Den „Deutschen Filmpreis“ als beste Hauptdarstellerin in „Systemsprengerin“ hat sie bereits in der Tasche, für ihre Rolle in „News of the World“ ist sie als beste Nebendarstellerin für den Golden Globe, den Satellite Award und Screen Actors Guild Award nominiert worden.
Das ist vielleicht ein wenig zu viel Hype, allerdings spielt die 12-jährige Kinderdarstellerin ihre Rolle auch ohne viel Text dank ihrer authentisch wirkenden Mimik sehr ausdrucksstark. Und wenn sie mal spricht oder singt, dann eben in Kiowa, einer Sprache, die Zengel am Set zumindest rudimentär von einigen Kiowa-Indianern lernte. Und überhaupt: Sprechrollen sind manchmal leichter als das, was Helena Zengel meistern musste. Sie macht es mehr als gut.

Auf der Suche nach dem verlorenen Home

Die Odyssee quer durch Texas ist in dem zweistündigen Film natürlich voller Tücken. Zunächst wollen drei Ex-Soldaten Kidd das Kind abkaufen, um es als Kinderprostituierte zu versklaven, dann verfolgen die Outlaws die Flüchtigen in einer kargen Berglandschaft. Den Showdown überlebt Kidd nur, weil ihm Johanna zeigt, wie er seine Flinte mit Geldstücken laden kann. So landen die Münzen, die Kidd durch sein Vorlesen verdient hat, in den Körpern der Schurken.

Wenige Tage später landen Kidd und seine Begleiterin dann in dem Camp von Merritt Farley (Thomas Francis Murphy), zu dessen Agenda die komplette ethnische Säuberung seines Distrikts gehört. Auch an diesem Ort soll Kidd vorlesen, doch anstatt ein propagandistisches Blatt über Farleys historischen Auftrag zu rezitieren, erzählt Kidd den zunehmend begeistert zuhörenden Menschen die Geschichte einer Gruppe rebellischer Minenarbeiter, die sich erfolgreich gegen ihren Boss auflehnten. Eine Lektion in Sachen ziviler Widerstand, die von der Menge sofort verstanden wird. Als Farley sich an Kidd rächen will, wird der rassistische Potentat von Johanna erschossen.

Trotz dieser actionreichen Einlagen ist „Neues aus der Welt“ ein gemächlicher Film. Greengrass nimmt sich viel Zeit, um die vermeintliche Unmöglichkeit einer Kommunikation zwischen zwei verschiedensprachigen Menschen zu widerlegen, auch wenn in der Synchronfassung die Passagen verlorengehen, in denen sich Captain Kidd mit einigen Brocken Deutsch verständlich machen will.
Der ruhige Erzählfluss wird mit poetischen Bildern verstärkt, die der polnische Kameramann Dariusz Wolski (u.a. „Alien: Covenant“, „Der Marsianer“) in gewohnter Qualität abliefert. 
Pittoresk ist ausgerechnet eine Szene, von dem man es nicht erwartet. Inmitten eines gewaltigen Sandsturms werden Kidd und das Kind voneinander getrennt. Als Kidd durch den Sturm wankt, erkennt er schemenhaft die Silhouetten eines Kiowa-Stamms und rechnet damit, dass Johanna sich den Indianern anschließen will. Die aber kann den Häuptling dazu überreden, ihr ein Pferd zu überlassen. Danach gehen die Kiowa schweigend weiter und ihre Umrisse verblassen langsam im Sturm.

Am Ende erfüllt Kidd seine Mission und liefert das Mädchen bei ihren Verwandten ab. Kidd macht aber einen entscheidenden Fehler: er lässt Johanna bei den in armseligen Verhältnissen lebenden Siedlern zurück, obwohl diese nur an der Arbeitskraft des Kindes interessiert sind. Aber „Neues aus der Welt“ wäre kein Tom Hanks-Film, wenn die kurze Kraftlosigkeit seiner Figur von Dauer wäre. Ist sie auch nicht, aber Captain Kidd muss erst noch zu lange Versäumtes erledigen.

Wie die Geschichte dann ausgeht, weiß man eigentlich schon ganz am Anfang. Aber Western erzählen gerne Geschichten, die einem vertraut sind. Paul Greengrass‘ Film variiert die Topoi des Genres allerdings geschickt, und obwohl Greengrass an diesem Aspekt der literarischen Vorlage interessiert war, verzichtet er darauf, dem Zuschauer zu aufdringlich einen Kurzschluss zwischen der moralischen Verfassung eines gespaltenen Landes, das Kidd und das Mädchen durchwandern, und dem Heute nahezulegen. Dies erschließt sich by the way.


Natürlich sind fast alle Figuren, abgesehen von Kidd, Johanna, den schweigsamen Kiowa und der klugen Kneipenwirtin Ella (Elizabeth Marvel), mit der Kidd eine Nacht verbringt, bigott, rassistisch, gewalttätig und verkommen, aber dieses historische Panoptikum mitsamt seiner zivilisatorischen Abgründe gehört per se zum Spätwestern. Greengrass zeigt diese Abgründe, umschifft sie aber elegant, indem er seinen Figuren eine stoische Gelassenheit zuspricht, die sie aus jeder Bredouille entkommen lässt.

Allerdings bricht Greengrass mit einer Schablone, die Elisabeth Bronfen in ihrem lesenswerten Buch „Heimweh: Illusionsspiele in Hollywood“ beschrieben hat, nämlich die Heimatlosigkeit der Western-Figuren, die glauben, dass das Glück ausgerechnet an dem Ort zu finden ist, an dem man gerade nicht ist. Es ist ein idealisierter Ort, von dem die Einsamen träumen, ein Home, für das sie kämpfen können, an dem sie aber keinesfalls bleiben dürfen. 

Ethan Edwards betritt daher am Ende von „The Searchers“ dieses mythische Home nicht, er kehrt auf dem Absatz um und verschwindet in der Wüste. Im Gegensatz zu denen, die sich niederlassen, wird er dadurch zum Mythos. Auch Tom Hanks‘ Figur wird weiterziehen, aber eben nicht allein. Und erst recht nicht als Mythos. Das ist ein denkwürdiger Kompromiss in einem sehr sehenswerten Film.


Note: BigDoc = 1,5


News of the World (Neues aus der Welt) – Netflix 2020 – Laufzeit: 119 Minuten – FSK: ab 12 Jahren - Regie: Paul Greengrass – Buch: Paul Greengrass und Luke Davies – Kamera: Dariusz Wolski – D.: Tom Hanks, Helena Zengel, Elizabeth Marvel, Thomas Francis Murphy u.a.