Dienstag, 12. Oktober 2021

Nomadland - Chloé Zhaos Film entdeckt Nomaden auf vier Rädern

„Nomadland“ erhielt sowohl bei den Oscars 2021 als auch bei den Golden Globe Awards 2021 die Auszeichnungen als Bester Film. Chloé Zhao wurde in beiden Wettbewerben für die Beste Regie in den Adelsrang erhoben. Und Frances McDormand wurde bei den Oscars als Beste Hauptdarstellerin ausgezeichnet. Überhaupt wurde Zhaos dritter Spielfilm mit Preisen zugeschüttet, bei Filmfestspielen von Venedig 2020 gab es den Goldenen Löwen.
Das ist schon eine Menge für einen Film, über den Juliane Liebert in der Süddeutschen ironisch schrieb, dass „eine stoische Hauptfigur widrige Umstände erträgt, die Leute sich weitgehend aus dem Weg gehen, viel in der Natur sind und sonst nichts passiert.“ Die eigentliche Überraschung ist aber nicht, dass eine in den USA lebende chinesische Regisseurin ausgezeichnet wurde, sondern dass ein Independent Movie bei den Oscars die prominente Konkurrenz, etwa Davids Finchers „Mank“, aus dem Rennen warf.

Surviving in America

Eine Systemkritikerin ist die junge Regisseurin Chloé Zhao nicht. Die Geschichten von Menschen, die in ihren Autos, Vans und Wohnwagen leben und auf der Suche nach Saisonarbeit durch die USA tingeln, spiegeln ein Phänomen wider, das durchaus kapitalismuskritisch mit der Großen Rezession und dem Platzen der Immobilien-Blase in den Jahren nach 2007 in Verbindung gebracht werden kann. Während der Krise des Finanzkapitals verlorene unzählige Menschen Haus, Hof und Vermögen, während sich das Credo to big to fail" in der Rettung untergehender Banken durch öffentliche Mittel widerspiegelte. Danach waren viele Menschen on the road". Und wie die Hobos und Tramps des ausgehenden 19. Jh. und des beginnenden 20. Jh. waren sie Opfer einer ökonomischen Anarchie, die sich um Regeln nicht scherte. Und sie waren Lichtjahre von den Hipstern der 1950er Jahre entfernt, die in Jack Kerouacs On the Road" zugedrönt durch die USA fahren. Das war Lifestyle.
In „Nomadland“ haben die Menschen, die durch die USA fahren, geringe Perspektiven im Überlebenskampf. Sie gehören bestenfalls zu unteren Mittelschicht. Ihr Absturz bedeutete allerdings nicht den Verlust von Villa und Porsche. Sie waren schon vorher „poor“ oder Opfer des industriellen Niedergangs in einigen Regionen.
„Company Men“ von John Wells war ansatzweise ein politischer Film. Auch dort geht es um den Verlust des eigenen Hauses und um Identitätskrisen, aber im Mittelpunkt steht ein von Ben Affleck gespielter reicher Top-Manager, der aus den Höhen seines Lifestyle abstürzt und hart aufschlägt.

An „Früchte des Zorns“ (The Grapes of Wrath, 1939) hat Zhaos Film einige Kritiker erinnert, aber John Fords Film, die Verfilmung eines Buchs von John Steinbeck, ist deutlich brutaler gewesen. Die Menschen, die nach der Großen Depression um ihr Leben kämpfen, werden in Fords Klassiker gnadenlos ausgebeutet, in Lager gesperrt und gedemütigt. Die Antwort der Unterdrückten ist am Ende die Gewalt.
Explizite Kapitalismuskritik findet man in Chloé Zhaos Film nicht. Das hat die Regisseurin auch ausdrücklich nicht gewollt. Sie kann aber durchaus in den Köpfen der Zuschauer entstehen. Trotzdem bleibt das Gefühl zurück, dass in Zhaos Film eine große Lücke klafft. Allerdings ist es ein Fehler, Filmemachern vorzuwerfen, dass sie den falschen Film gemacht haben. Dann hätte man recht schnell einen Kanon, ein Pflichtenheft, das fatal an der Sozialistischen Realismus erinnern würde. Eine Debatte über Filme unter diesem Vorzeichen wäre fatal.

In „Nomadland“ werden die unmittelbaren Folgen der ökonomischen Krise, die auch eine Krise bestimmter Schlüsselindustrien in den USA ist, immerhin agedeutet. Ansonsten ist alles unpolitisch und Fern (Francis McDormand),
die Hauptfigur des Films, arbeitet immer wieder bei Amazon, um Geld für Lebensmittel und Sprit zu verdienen. Und man hat nicht den Eindruck, als seien die sauberen Hallen des E-Tailers der Vorhof der Hölle. Und wenn der Job vorbei ist, sucht sich Fern den nächsten. Das Schlimmste, was ihr passiert, ist ein Parkverbot in der Nähe einer Tankstelle.

„Vandwelling“ nennt man diesen Lebenstil, und beschrieben wurde er von der amerikanische Journalistin Jessica Bruder in ihrem Buch Nomadland: Surviving America in the Twenty-First Century, das 2017 erschienen ist und im gleichen Jahr im Dokumentarfilm CamperForce von Brett Story adaptiert wurde. Nun hat Chloé Zhao darüber einen semi-fiktionalen Film über die „Van Dwellers“, die Reisenden in einem Van, gemacht und wer ihren Film „The Rider“ kennt, wird geahnt haben, dass von der chinesisch-stämmigen Regisseurin keine analytische Kapitalismuskritik zu erwarten ist, wie sie etwa Adam McKay in „The Big Short“ (2015) oder J.C. Chandor in „Margin Call“ (2011) mit jeweils stargespickten Ensembles versucht haben. 
Nein, Chloé Zhao geht es erneut um die genaue Beobachtung von Menschen, die nicht nur durch ökonomische Verluste, sondern auch durch andere Lebenskatastrophen aus der Bahn geworfen werden. Wie in „The Rider“ lässt sie in „Nomadland“ die Betroffenen sich selbst
spielen

Frances McDormand als Protagonistin eines Heilungsprozesses

Nur ist diesmal so, dass Zhao einen Star ins Zentrum gestellt hat. Nämlich Frances McDormand, die in dieser Rolle völlig alternativlos zu sein scheint. McDormand spielt so zurückhaltend, als wolle sie dieses Zentrum gar nicht beanspruchen. Sie reiht sich in die Vandwellers so diskret ein, als sei sie eine von ihnen. Auch am Set soll sie übrigens auch so aufgetreten sein.

Die 64-jährige Schauspielerin hat bereits von „Three Billboards Outside Ebbing, Missouri“ großartige Filme gemacht und vier Oscars und zwei Golden Globe Awards gewonnen, viermal für ihre darstellerischen Leistungen. McDormand wurde 1996 dank „Fargo“ endgültig berühmt, arbeitete schon davor regelmäßig mit den Coen-Brüdern zusammen, auch mit Wes Anderson. Es überrascht nicht, dass sie in den letzten drei Jahrzehnten in vielen stilprägenden US-Filmen ihre Spuren hinterlassen hat. So auch in John Sayles fast vergessenem „Lone Star“ (1996), der nicht nur meiner Meinung nach zu den Meilensteinen des Kinos in den 1990er Jahren gehört.

In Chloé Zhaos Film spielt Frances McDormand mit gewohnter Subtilität die 60-jährige Fern, die ihre Sachen packt, als eine Gipsplattenfabrik in Black Rock Desert, Nevada, geschlossen wird. Fern hatte zuvor ihren schwerkranken Mann verloren. Nun hält sie nichts mehr in dem Kaff mit dem frivolen Namen Empire. Aber wenn sie am Ende noch einmal zurückehrt und ihr altes Haus mit dem wunderbaren Ausblick durchwandert, spürt man auch ohne viele Worte, dass Fern einen Ort aufgeben hat, an dem sie glücklich war. In der vorletzten Einstellung verlässt sie ihn zum zweiten Mal. Wohl für immer.

„Nomadland“ ist ein elliptisch erzählter Film. Das heißt, dass es keine kohärente Dramaturgie gibt. Die kurzen Szenen werden bruchstückhaft aneinandergereiht und erzählen in der ersten halben Stunde vom Loslassen. 
In der Grammatik bedeutet „elliptisch“ das Weglassen von sprachlichen Bausteinen, die für einen Satz wichtig sind. Im Kino entsteht durch diesen Stil eine Fragmentierung, die in Zhaos Film adäquat spiegelt, was sich im Inneren von Fern ereignet. Dabei ist Fern aber nicht depressiv, zumindest nicht erkennbar. Sie bleibt freundlich und kommunikativ. Was in ihr vorgeht, wird nicht durch Dialoge erklärt, sondern durch ihre Handlungen. Und als sie in der Szene der Nomaden angekommen ist, werden die Szenen länger, so als wolle Chloé Zhao dem Zuschauer zeigen, dass er Fern bei einem Heilungsprozess beobachtet.

Der ist nicht einfach, Flexibilität ist gefordert. Fern arbeitet nicht nur bei Amazon, sondern auch als Toilettenreinigerin in den Badlands, als Campbetreuerin und bei der Zuckerrübenernte. Sie lernt beim Rubber Tramp Rendezvous (RTR) andere Nomaden und deren Kultur kennen. Und dort auch Bob Wells, einen Vandweller, der sich natürlich selbst spielt. Wells ist der mittlerweile berühmt gewordene Organisator der regelmäßigen Treffen, sein YouTube-Channel hat 50 Millionen Follower. Im Camp lernen die Nomaden nicht nur überlebenswichtige Techniken des Vandwelling lernen, sondern begegnen sich im Lauf der Zeit immer wieder. 
Auch Fern wird immer effektiver bei der Nutzung und Umgestaltung ihres Vans, sie lernt neue Menschen kennen, etwa Swankie (Charlene Swankie), die Fern nützliche Dinge beibringt, oder die herzliche Linda (Linda May).
Gespielt werden auch diese Rollen von echten Vandwellern. Swankie wird später an einem Hirntumor sterben und in Wells‘ Camp werden die Vandweller im Gedenken rituell Steine ins Feuer werfen, aber der Abschied sei nicht für immer, erklärt Wells. Man wird sich wiedersehen: „down the road.“ Und so begleitet man Fern auf einer Reise in eine Subkultur, die neue Formen der sozialen Beziehung entwickelt hat. Und die sind zwischen Distanz und Nähe, Verbindlichkeit und der Freiheit von Verpflichtungen verortet.

Chloé Zhao zeigt Freiheit als völlige Subjektivität

Angebote, wieder sesshaft zu werden, erhält Fern auf ihrer Reise immer wieder. Nicht nur von ihrer Schwester, bei der sie sich Geld für die teure Reparatur ihres Vans leihen muss. Aber auch von Dave (gespielt vom Schauspieler David Strathairn, der viele aus der Sci-Fi-Serie „The Expanse“ kennen), der in einer schönen Szene ungeschickt einen Karton fallen lässt und dabei auch einen Teller zerbricht, den Fern anschließend sorgfältig zusammenklebt –  eine Metapher des Lebens, auf das sie sich eingelassen hat. 
Dave gibt irgendwann das Reisen auf und will bei seiner Familie leben, Fern soll bleiben, aber sie verlässt diesen Zwischenstopp kommentarlos und fährt davon. In der nächsten Einstellung zeigt Zhao ihre Heldin am Ufer eines stürmischen Ozeans. Fern steht dort und schaut einfach nur in die Ferne.

Was geht in dieser Frau vor? Eine mögliche Antwort findet man, wenn man genau beobachtet, wie Chloé Zhao mit ihrer fiktiven Figur umgeht. Nach etwa 80 Minuten trifft Fern einen jungen Drifter, den sie schon zuvor kennengelernt hat. Sie fragt ihn nach seiner Familie, nach seiner Freundin. Ja, die gäbe es, antwortet er, er würde ihr auch Briefe schreiben, allerdings wisse er nicht, ob er sie damit erreichen könne. Fern fragt, ob er es schon mal mit Gedichten versucht hat. Und dann rezitiert Fern ein Gedicht von William Shakespeare, das berühme Sonnet 18, eines der schönsten Liebesgedichte der Literaturgeschichte. Fern erklärt, dass sie es für ihr Ehegelübde genutzt hat:

Shall I compare thee to a summer’s day?
Thou art more lovely and more temperate:
Rough winds do shake the darling buds of May,
And summer’s lease hath all too short a date;

Sometime too hot the eye of heaven shines,
And often is his gold complexion dimm'd;
And every fair from fair sometime declines,
By chance or nature’s changing course untrimm'd;

But thy eternal summer shall not fade,
Nor lose possession of that fair thou ow’st;
Nor shall death brag thou wander’st in his shade,
When in eternal lines to time thou grow’st:

So long as men can breathe or eyes can see,
So long lives this, and this gives life to thee.

Das lyrische Subjekt erklärt seiner Geliebten, dass sie schöner als ein Sommertag sei, zumal der Sommer heftigen Stürmen ausgesetzt ist und irgendwann zu Ende geht. Der Sommer seiner Geliebten würde aber ewig anhalten, auch der Tod könne ihr nichts anhaben. Denn durch dieses alle Zeiten überdauernde Gedicht würde auch sie unsterblich bleiben.
Für Zhaos fiktive Figur bedeutet dies, dass sie sich in eine Kunstfigur verwandelt hat. Und zwar wenn man unterstellt, dass die Rezitation nicht sonderlich realistisch ist. Kann man von Fern erwarten, dass sie nach all den Jahren ein altes Gedicht in der Sprache des frühen 17. Jh. rezitiert? Und dass ihr Gegenüber sie versteht?
Nun könnte man meinen, dass Fern dieses Gedicht vor ihrer Hochzeit ausgewählt hat, um ihr Liebesglück kunstvoll zu artikulieren. Das Tragische ist jedoch, dass nach dem Tod ihres Mannes das Sonnet plötzlich eine erweiterte Bedeutung erhält, nämlich die des Überwindens des Todes durch Transzendenz. Und zwar in Form von Poesie. Aus Fern scheint in dieser Szene die Regisseurin zu sprechen, die dem Zuschauer erklären will, dass ihre Figur keine tragisch-traumatisierte Frau ist, sondern ihr Leben in ihren Erinnerungen bewahrt. Dies würde erklären, warum es für Fern unmöglich war, Daves Angebot anzunehmen. Und es würde deutlich machen, wie Fern ihre Freiheit definiert.

Die kurze Szene zeigt, wie uneingeschränkt sich Chloé Zhao auf die Subjetivität ihrer Figuren einlässt. Was Fern empfindet, ist nicht übertragbar, es bleibt etwas Singuläres. „Nomadland“ bietet daher keinen absoluten Freiheitsbegriff an. Die Nomaden in ihrem Film leben nicht vollständig frei, nur anders. Ökonomisch können sie die Beziehung zur Gesellschaft nicht kappen. Sie müssen Geld verdienen. Und sie taugen daher auch nicht als Speerspitze einer neuen Avantgarde, die sich wie bei Jack Kerouac vom etablierten System abwendet.
Zhaos Film ist auch kein naives Plädoyer für ein sparsamen, naturnahen Lebensstil. Auch wenn Chloé Zhao immer wieder betont, dass die Nähe zur Natur für Fern eine existentielle Bedeutung besitzt. Zhao, die mit einem Budget von 5 Mio. US-Dollar in South Dakato, Nebraska, Nevada, Kalifornien und Arizona gedreht hat, zeigt die weiten Landschaften fernab der urbanen Zentren zwar mit einem Gefühl für deren Schönheit, aber es ist nicht die Ästhetik des Marlboro-Landes und dessen Freiheitsversprechungen. Der Marlboro-Cowboy ist an einem Ort, an dem er bleiben wird – er hat sein „Home“ gefunden.
In „Nomadland“ geht es dagegen immer weiter. Auch bei Fern.

Aber dies ist weder ein Scheitern noch eine Tragödie, denn Chloé Zhao wollte eine Geschichte über Menschen erzählen, die ihre Würde nicht verloren, aber die Lust am Leben gewonnen haben, auch wenn Fern sorgfältig Distanz und Nähe zu den anderen Nomaden sorgfältig ausbalanciert. Dazu passt die sparsame Musik von aus dem Klavierzyklus „Seven Days Walking“ von Ludovico Einaudi, der durch einsame Wanderungen in den italienischen Alpen inspiriert wurde. Und der seltene, aber pointierte Einsatz der Musik fügt sich hervorragend in das ästhetischen Konzept einer Filmemacherin ein, die nicht nur Regie geführt hat, sondern auch das Drehbuch geschrieben und den Schnitt selbst erledigt hat.

„Nomadland“ ist also ein sehr persönlicher Blick auf ein Amerika, das man auf diese Weise im Kino noch nicht kennengelernt hat. Ein Blick, der sich Konventionen und Genremustern entzieht, ein Blick, der subjektiv sein will. Chloé Zhao schlägt sich dabei auf die Seite ihre Hauptfigur.
Aber ganz ohne amerikanische Kino-Mythologie geht es dann doch nicht. Und so erinnert Fern ein wenig an jene Western-Figuren, die am Ende davonreiten wie Henry Fonda in John Fords „My Darling Clementine“. Nicht weil sie den Ort zum Bleiben nicht gefunden haben, sondern weil sie ihn gefunden haben. 

Aktualisierte Fasssung v. 15.10.2021.

Noten: Klawer, BigDoc = 2

Nomadland - USA 2020 - Regie, Buch und Schnitt: Chloé Zhao. Kamera: Joshua James Richards. Musik: Ludovico Einaudi. D.: Frances McDormand, Charlene Swankie, Linda May, David Strathairn. Laufzeit: 107 Minuten.