Dienstag, 16. November 2021

TV-Kritik: Die Welt steht still

Nun also, nach fast zwei Jahren Pandemie, das erste Fernsehspiel über Corona. Das ZDF hat sich mit dem 90-minütigen „Die Welt steht still“ aus der Deckung gewagt und eine Geschichte gestrickt, die irgendwo zwischen Corona-Soap und ehrenwerter Bemühung um Authentizität ihren Platz gefunden hat. Nicht schlecht, aber keineswegs überzeugend.
Dass Anno Sauls Drama auf solidem Niveau scheitert, ist aber kein Versagen: zu komplex ist die Materie. Erzählt wird davon, wie alles begann. Aber angesichts der festgefahrenen Fronten in Politik, Wissenschaft und Medien und der nicht unbeträchtlichen Anzahl von Widerspenstigen weiß man fast zwei Jahre später nicht so recht, wo man den Mehrwert des Fernsehspiels um die Ärztin Carolin Mellau finden soll.

Exemplarische Figuren

„Die Welt steht still“ geht zurück zu den Anfängen, ins Frühjahr 2020. Die Bilder aus Bergamo flimmern in den deutschen Haushalten über den Bildschirm. In Deutschland gibt es kaum Infizierte.
Dr. Carolin Mellau (Natalia Wörner), Ärztin in einem Krankenhaus in Konstanz, will eigentlich aussteigen und als Hausärztin weiterarbeiten. Aber sie bleibt vorerst, weil sie rechnen kann. So harmlos wie jetzt wird es nicht bleiben, weiß sie. Exponentielles Wachstum wütet auch anderenorts als in Italien und so kann sie genau ausrechnen, wann ihr Krankenhaus vor dem Kollaps stehen wird. Dort fehlt es an vielem: zu wenig FFP2-Masken, zu wenig Schutzkleidung. Aber man weiß: Irgendwann werden auch in Konstanz die Intensivbetten belegt sein. Das Wort „Triage“ macht die Runde.
„Bereitet euch auf einen Krieg vor“, warnt ein Kollege. Er soll Recht behalten.
Daheim warten auf Carolin ihr Mann Stefan (Marcus Mittermaier), ihre pubertierende Tochter Lucy (Lilly Barshy) mit Liebeskummer und der Jüngste, ihr Sohn Tim (Jona Eisenblätter). Stefan ist Konzertmusiker, will auf Tournee gehen. Doch damit ist es schnell vorbei in Corona-Zeiten. Und bald ist die Ärztin die Alleinverdienerin in ihrer Familie.

Karlheinz Schwarz (Klaus Pohl) ist Optiker. Bei ihm bekommt Carolins Sohn seine erste Brille. Fast über Nacht verwandelt sich der freundliche ältere Herr in einen aggressiven Querdenker, der über Bill Gates schwadroniert, aber auch die bösen Juden am Werk sieht. Seine Frau Annette (Lena Stolze) posaunt heraus, dass sie sich nicht impfen lassen wird, obwohl davon im Frühjahr 2020 nun wirklich noch nicht die Rede sein konnte.
Bei der Skizzierung eines Corona-Leugners rutscht „Die Welt steht still“ ins Kauzige und Klischeehafte ab. Das hätte man mit mehr Tiefgang verhandeln können: d
ie gezielten und gut organisierten Desinformationskampagnen in den Social Media und die Kultur der Filterblasen waren und sind ein Schlüsselproblem. Und zwar genauso wie das Versagen einiger Medien, die nicht nur im Frühjahr 2020 ideologisch motivierten Wissenschaftskritikern zu viel Raum gaben. Stattdessen präsentieren Anno Saul und Dorothee einen querulantorischen alten Kauz. Klar: für mehr Kontext hätte man mehr Zeit benötigt.

Die medizinerfahrene Drehbuchautorin und Grimme-Preisträgerin Dorothee Schön (viele „Tatorte“, „Frau Böhm sagt Nein“, „Charité“) hat für Dramatisierung des Sujets ihre Figuren auf exemplarische Weise arrangiert, um diese Limitierungen durch das Format zu kompensieren.  Eine Ärztin, weil dies hilft, medizinische Fakten in die Dialoge zu packen. Einen Berufsmusiker, um an die Misere des Kulturbetriebs in Corona-Zeiten zu erinnern. Einen alten Mann, der verbittert über den frühen Tod seiner Tochter, aus heiterem Himmel zum Querdenker wird und fast querbeet alle Argumente der Leugner herunterbetet – und der natürlich
auf der Intensivstation von Carolin Mellau landet. Dort stirbt er, weil er die Intubierung verweigert. Sein Frau muss ohnmächtig zusehen, wie er erstickt, verlässt aber geläutert das Krankenhaus - und steckt wenig später ausgerechnet Carolin ab. Zu viel Soap, zu viel Konstruiertes.

Querdenkende Programmpolitik in den Sendeanstalten

Anno Saul erzählt diese Geschichte recht konventionell, aber mit gutem Timing. In „Die Welt steht still“ werden mit moderatem Tempo die Ereignisse des Frühjahrs 2020 rekapituliert und tatsächlich wird by the way einiges ins Gedächtnis zurückgerufen, was diese Monate geprägt hat: von den Hamsterkäufen (Toilettenpapier) bis zu den ersten zaghaften Versuchen, im familiären Umfeld so etwas wie Kontaktbeschränkungen zu etablieren.
Und schlecht gespielt ist das auch nicht. Das Darstellerensemble verkörpert glaubwürdig die Sorgen und Nöte in der Frühphase der Pandemie, allen voran Natalia Wörner als empathische Ärztin, die aufopferungsvoll an allen Fronten kämpft: in der Klinik, in der Familie, wo sie ihrem Sohn das Präventionsparadoxon erklärt, beim rhetorischen Clinch mit dem starrsinnigen Corona-Leugner, den sie souverän gewinnt, und schließlich auch bei der liebevollen Betreuung ihrer dementen Mutter (Elisabeth Schwarz), die im Altenheim festsitzt und nicht mehr versteht, was das Bild ihrer Tochter auf dem Laptop bedeutet, den man ihr vors Gesicht hält. Nicht nur Natalia Wörners Figur, sondern auch die anderen Rollen werden dabei nicht allzu ambivalent, sondern eher typologisch gezeichnet. Das macht sie etwas eindimensional, aber mehr ist in den viel zu kurzen 90 Minuten wohl nicht zu erwarten.

„Die Welt steht still“ ist ein für ein breites Publikum gemachter Schnelldurchlauf, um die Anfänge der Seuche auf einem prominenten Sendeplatz noch einmal Revue passieren zu lassen. Das war überfällig angesichts der geisterhaften TV-Produktionen, in denen Corona einfach nicht vorkam. 
Man konnte dies Sonntag für Sonntag im „Tatort“ sehen. No Corona. Dort wurde am letzten Sonntag in „Die Kalten und die Toten“ das Unwort wenigstens beiläufig ausgesprochen, aber ansonsten liefen alle Protagonisten wie üblich ohne Maske durchs Bild. Kein Wunder, dass es bislang keinen ernsthaften Corona-Tatort gab: für die öffentlich-rechtlichen fiktionalen Erzähler existiert das Virus als Sujet offenbar nicht. In Talkshows ist SARS-CoV-2 ein Dauerbrenner, auch spät in der Nacht. Zur besten Sendezeit wird das unterhaltungsbedürftige Publikum in Unterhaltungsformaten aber nicht übermäßig belästigt. Funktionell ist diese Programmpolitik zwar nicht querdenkend, aber mutlos. Allein schon deswegen ist Anno Sauls Fernsehfilm trotz aller Schwächen verdienstvoll.

Hier kann nur eine Serie helfen

Trotzdem ist der biedere und gelegentlich an Daily Soap erinnernde 90-Minüter kein Kandidat für einen Fernsehpreis. Kann er auch nicht. Dafür ist die reale Pandemie zu komplex. Den Stillstand der Welt hätte man auch aus der Perspektive eines Journalisten erzählen können, der für politische Strategien instrumentalisiert wird. Auch aus der eines Virologen, den man mit Todesdrohungen konfrontiert.
Vielleicht am spannendsten: die Perspektive eines Politikers, der lernen muss, dass man in seinem Berufsstand erst dann hektisch reagieren muss, wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist, aber bitteschön auf keinen Fall präventiv. Ironie Ende.
Dazu hätte man aber eine Serie wie „The Wire“ machen müssen, also mit Fokus auf unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen und Institutionen, zum Beispiel aus der Sicht eines Lehrers. Man mag es kaum glauben:
„The Wire“ hat sich eine Staffel lang nur mit Schulen beschäftigt! Das wird aber vermutlich nicht passieren, obwohl diese Jahrhundertkrise förmlich nach so einem Format schreit.

„Die Welt steht still“ ist kein Reinfall, aber alles, was nicht erzählt wird, schmerzt ein wenig. Und es stellt sich die Frage, warum von den Anfängen erzählt wird, wenn das Ende noch nicht in Sicht ist. Zum Glück erspart uns der Fernsehfilm ein Happy End. Hier siegte der Realismus. Dass es die Hauptfigur irgendwann auch erwischt, zeigt eine Rahmenhandlung bereits mit den ersten Bildern, als Carolin Mellau ins künstliche Koma versetzt und intubiert wird. Am Ende erfährt man nicht, ob sie es schaffen wird. Im Abspann wird stattdessen die Zahl derjenigen genannt, die sich in ihren medizinischen Berufen infizierten, erkrankten und starben. Es waren viele. „Die Welt steht still“ ist also eine ehrenwerte Hommage an das medizinische Personal in den deutschen Krankenhäusern. Dieses Statement haben sich die Ärzte und Pfleger verdient.


Die Welt steht still- Deutschland 2021 – ZDF-Fernsehspiel– Regie: Anno Saul – Drehbuch: Dotothee Schön – D.: Natalia Wörner, Marcus Mittermaier, Klaus Pohl, Lena Stolze, Lilly Barshy, Jona Eisenblätter, Elisabeth Schwarz.