Donnerstag, 9. Dezember 2021

Keine Zeit zu sterben (No Time to Die) - James Bond nimmt Abschied

Nur wenige Wochen nach dem Kinostart war der neue „Bond“ bereits bei Amazon Prime Video zu kaufen – für das knapp Zweieinhalbfache einer Kinokarte. Nach „Dune“ sorgte der Streaming-Anbieter für einen weiteren zeitnahen Konsum eines Blockbusters, diesmal 14 Tage vor dem Erscheinungstermin der Bluray plus 4K Ultra HD.
Die Geschichte des Films ist eigentlich Nebensache, die der Hauptfigur nicht. „No Time to Die“ wird Kinogeschichte schreiben – als der Film, in dem der von Daniel Craig gespielte Geheimagent sterben muss. Den Rest wird man schnell vergessen. Da hilft es auch nicht, dass im Abspann versprochen wird, dass Bond bald wieder da ist. Der Markenkern ist unwiderruflich beschädigt.

 

Kinomythen – man muss sie gesehen haben

Zum Kinomythos wird ein Film, den gefühlt alle gesehen haben, über den alle sprechen, während man das Gefühl hat, ihn sehen zu müssen, um überhaupt noch gesprächsfähig bleiben zu können. Kaum zu glauben, dass es Menschen gibt, die nie „Vom Winde verweht“ oder „Avatar“ gesehen haben.
Ein massenpsychologisches Phänomen sind Kinomythen grundsätzlich nicht. Es gibt singuläre Kinoerfahrungen, die eine so intime Beziehung zu einem Film herstellen, dass man ihn sich immer wieder ansehen kann. „Lone Star“ von John Sayles ist so ein Film. Zumindest für mich.

Kinomythen können seriell sein, aber auch streng monogam. „The Searchers“ von John Ford ist ein Solitär, die Geschichte ist auserzählt. Die „Alien“-Serie hatte trotz verschiedener Regisseure und völlig unterschiedlicher Stilformen einen großen Nachhall und konnte dagegen mühelos weitererzählt werden.
Der „Herr der Ringe“ oder die die Geschichten um den Zauberlehrling Harry Potter waren so massenkompatibel, dass sie nach Sequels und andere Nachverwertungsformen bis hin zur Theater- und Musicalbühne verlangten. Und die Filme über James Bond trieben alle ins Kino, auch wenn man den letzten Film nicht mochte.

Kinomythen kann man ideologiekritisch dekonstruieren. James Bond, nicht nur in Ian Flemings Romanen ein zynischer Agent mit der Lizenz zum Töten, bot auch in den Filmadaptionen genügend Angriffsflächen für kritische Attacken. War Bonds Dauerkrieg mit irren Schurken für viele doch nichts anders als eine Allegorie, die eigentlich den Kalten Krieg meinte und dem Agenten die Rettung der freien kapitalistischen Welt übertrug.
Sean Connery spielte das als gut gekleideter Womanizer mit eiskalten Manieren, einem großen sexuellen Appetit und einem großen Arsenal an technischen Gadgets. Vielleicht kam er der Figur Ian Flemings am nächsten. Am Ende war die Welt gerettet. Immer.

Natürlich kann man 007 parodistisch veralbern, aber Filme wie „Casino Royale“ mit David Niven und Peter Sellers als 007 versanken trotz der geballten Wucht eines stargespickten Ensembles in der Vergessenheit. Nicht ganz zu Unrecht, denn Kinomythen sind mit so einem Firlefanz nicht kleinzukriegen.

Im Kern ist aber ein Kinomythos ein Kunstwerk, dass sowohl originell als auch einschneidend alles verändert – die Art, wie man Filme erzählt, wie man filmt, wie man schneidet, wie man Sachen macht, die woher wie selbstverständlich anders gemacht wurden. „Citizen Kane“, allerdings langsam verblassend, war so ein Film, „Matrix“ ein anderer. Cary Joji Fukunagas „No Time to die” gehört nicht zu diesem illustren Kreis.

Nun ist er tot

Der Mythos James Bond, der ganze Generationen von Kinogängern fesselte, war nicht ausschließlich der etwas statischen Hauptfigur zu verdanken, die sich essentiell kaum weiterentwickelte. Dafür gestatteten uns die Filme einen Blick in Zukunft. Eine Smartwatch sah man bereits in „Liebesgrüße aus Moskau“, auch Navigationssysteme und Tracker lernte man zum ersten Mal in Bond-Filmen kennen. Bond-Filme waren im wahrsten Sinne Science- Fiction, lange bevor es die „Mission Impossible“-Filme zur Methode machten. Im neuen Bond gibt es davon nicht allzu viel zu sehen. Bond sitzt sogar in seinem alten Aston Martin, der kaum besser ausgestattet ist als in „Goldfinger.“ „No Time to Die“ erinnert also eher an Vergangenes. Nach vorne ist der Blick nicht gerichtet.

Fiktionen halten sich sowieso nicht an die Beschränkungen von Zeit und Raum. James Bond durfte daher in den 1960er Jahren unterwegs sein, genauso wie im 21. Jh. Bei Ian Fleming ging es begrenzter zu:  die erzählte Zeit umfasste den Zeitraum der Jahre 1951–1964.
Im Kino musste sich der MI6-Agent gelegentlich den politischen Zeitläuften anpassen – Bond-Filme griffen so by the way so immer etwas von dem Zeitgeist der Jahre auf, in denen sie in die Kinos kamen. Aber politisch waren vor allen Dingen die älteren Streifen nie.
In den Filmen mit Daniel Craig änderte sich dies zum Teil, aber nur dezent. Wenn „M“ im neuen Bond gestehen muss, dass die Briten das Nanobot-Killervirus, das in die Hände des Oberschurken gerät, in ihren Laboren entwickelt haben, so kann das in Corona-Zeiten nur noch einen querdenkenden Verschwörungstheoretiker vom Stuhl reißen.

Viele haben die Rolle des James Bond übernommen, einige sind vergessen, auch wenn sie in der Bar „Wodka Martini. Geschüttelt, nicht gerührt“ aufsagten. Connery verkörperte Bond glaubhaft als Berufskiller im Auftrag ihrer Majestät. Roger Moore interpretierte ihn anders, quasi als FSK-12 taugliche Light-Version. 
Daniel Craig war dann ganz am Ende der wohl spannendste Bond. Eiskalt bis an die Zehenspitzen, etwas prollig, gleichzeitig aber auch reflektiert und intelligent genug, um aus der für lange Zeit aufgrund des kalauernden Roger Moore eher humoristisch getönten Kinoserie ein echtes emotionales Drama zu machen.
Pierce Brosnan hatte diese Möglichkeiten der Figur lediglich angedeutet. Daniel Craig schrieb man dagegen ab 2006 Drehbücher auf den Leib, in denen Bond älter wurde, damit auch angreifbarer und verletzlicher. Ein Berufsagent, dem man sogar nicht mehr die Physis zutraute, die der Job verlangt. Dieser Bond wurde ein Mann, der – ohne allzu politisch zu werden – zunehmend Zweifel an der Sinnhaftigkeit seines Tuns entwickelte.

Nun ist Daniel Craigs James Bond tot. Nicht eiskalt abserviert von Cary Fukunaga („True Detectives”) und seinen Drehbuchautoren, wohl eher auf Craigs eigenen Wunsch. Fast fühlte man sich an “The Walking Dead” erinnert. Wenn dort eine Figur gefühlsselig wird oder gar einen Anflug von Glück verspürt, ist sie garantiert zehn Minuten später tot. 

In „Keine Zeit zum Sterben“ geht es genauso zu – Bond erfährt das zuvor von ihm zerstörte Gefühl der Liebe erneut und entwickelt zarte Vatergefühle. Und das endet tödlich für ihn. Off course. Am Ende schaut er gefasst den Raketen entgegen, die auf eine Insel herabregnen, auf der Nanobots für massenhafte Genozide zusammengebastelt wurden. Der schwer angeschlagene Held darf sich noch liebevoll von seiner Familie verabschieden, dann schaut er gefasst dem Tod entgegen. Nun hat er Zeit zum Sterben.

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Dass Craig an der Rolle kein Interesse mehr hatte, ist bekannt. Dass man einen Kinomythos umbringt, um sicherzustellen, dass man ihn garantiert nicht mehr spielen muss, ist eine andere Sache. Unabhängig davon muss so ein Abgang deutlich mehr zu bieten haben als Action und Weltrettungsphantasien. Was man in „No Time to die“ dann aber sehen konnte, war eine allegorische Literarisierung der Hauptfigur.

Zur Vorgeschichte: Drehbuchautoren waren wie seit „The World is Not Enough“ (1999) Neal Purvis und Robert Wade, bekannt auch als Purvis & Wade. Ursprünglich sollten Danny Boyle und sein Stammautor John Hodge den neuen Bond ins rechte Bild setzen, aber kreative Differenzen mit Daniel Craig und den Producern Michael G. Wilson und Barbara Broccoli beendeten die Zusammenarbeit. Purvis & Wade hatten zuvor das Treatment für den 25. Bond geschrieben und setzten nun ihre Arbeit fort. Zusätzlich kam Scott Z. Burns („The Bourne Ultimatum“, 2007) ins Spiel, auch Cary Fukunaga werkelte am Script.
Entscheidender war aber die Arbeit von Phoebe Waller-Bridge („Fleabag“, 2016-2019). Daniel Craig wollte die Autorin unbedingt im Team haben. So kam es, auch weil die Produktionsfirma und der Hauptdarsteller dem Zeitgeist folgend den Macho Bond mit starken Frauen konfrontieren wollten.
„Das ist ein Bond für das moderne Zeitalter, der eine jüngere Generation ansprechen soll, trotzdem aber all dem treu bleibt, was man von einem ‚Bond‘-Film erwartet. Es gibt spektakuläre Verfolgungsjagden und Kämpfe und Bond ist immer noch Bond, aber er muss lernen, sich mit der Welt von #MeToo auseinanderzusetzen“, war in der Daily Mail zu lesen.  Und so überarbeitete Waller-Bridge einige Dialoge und Szenen – ganz im Sinne des Hauptdarstellers.

So wurde aus dem nicht mehr ganz unbezwingbaren Agenten mit der Doppel-Null endgültig ein zerbrechlicher Mann. Etwas, was sich in „Skyfall“ (2012) und „Spectre“ (2015) angedeutet hatte, an dessen Ende Bond mit Madeleine Swann (Léa Seydoux), der Tochter des mysteriösen Mr. White, davonfährt, nachdem Bond seinen Widersacher Ernst Stavro Blofeld (Christoph Waltz) ausschalten konnte. 

Madeleine, da wird schnell klar, ist Bonds große Liebe. Nachdem er seinen Dienst im MI6 quittiert hat, fährt er mit Madeleine ins süditalienische Matera, wo Bond das Grab von Vesper Lynd, seiner anderen großen Liebe, besuchen will. Als ein Bombenattentat das Grab in Schutt und Asche legt, ist Bond davon überzeugt, dass Madeleine ihn verraten hat. Er trennt sich von ihr, aber ihre Wege kreuzen sich Jahre später erneut, als Bond von dem in einem Hochsicherheitstrakt untergebrachten Blofeld wichtige Informationen erfahren will. Madeleine ist mittlerweile die Psychotherapeutin des lakonischen Bösewichts und Bond findet nicht nur heraus, dass sie inzwischen eine Tochter hat, sondern von ihm zu Unrecht verdächtigt wurde. Nun bekommen beide die Chance , ihr Verhältnis zu erneuern.

„No Time to Die” ist also in vielfacher Hinsicht eine Reise in die Vergangenheit. Bereits in „Spectre“ konnte man sich Gedanken über die Figur der Madeleine Swann machen, denn der Name ist ein Hybrid, eine Namens- und Bedeutungskreuzung, die zu Marcel Prousts Romanzyklus „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ führt. Dort ist Charles Swann im ersten Band „Un amour de Swann“ ein Bohemien, der wie Proust in den trendigen Salons der französischen Oberschicht unterwegs war, aber immer wieder daran scheiterte, ein die Zeit überdauerndes Kunstwerk zu schaffen. Swann kann sich aus den Fesseln seiner Gewohnheiten nicht lösen.
Eine „Madeleine“ ist dagegen ein Feingebäck, das in einer der berühmtesten Passagen in Prousts Werk auftaucht. So erinnert sich der Ich-Erzähler nur deshalb an einen für ihn bedeutsamen Sonntagvormittag in Combray, als er eine Madeleine in den Tee tunkt und der Geschmack des Gebäcks eine Assoziationskette auslöst, die ihn förmlich überwältigt und längst Vergessenes freilegt:
„Gleich darauf führte ich, ohne mir etwas dabei zu denken, doch bedrückt über den trüben Tag und die Aussicht auf ein trauriges Morgen, einen Löffel Tee mit einem aufgeweichten kleinen Stück Madeleine darin an die Lippen. In der Sekunde nun, da dieser mit den Gebäckkrümeln gemischte Schluck Tee meinen Gaumen berührte, zuckte ich zusammen und war wie gebannt durch etwas Ungewöhnliches, das sich in mir vollzog. Ein unerhörtes Glücksgefühl, das ganz für sich allein bestand und dessen Grund mir unbekannt blieb, hatte mich durchströmt. Es hatte mir mit einem Schlag, die die Liebe, die Wechselfälle des Lebens gleichgültig werden lassen, seine Katastrophen ungefährlich, seine Kürze imaginär, und es erfüllte mich mit einer köstlichen Essenz; oder vielmehr: diese Essenz war nicht in mir, ich war sie selbst. Ich hatte aufgehört, mich mittelmäßig, zufallsbedingt, sterblich zu fühlen.“

Diese Vorgehensweise ist nicht neu. Die Erzählmittel eines Films, betrachtet als Rhetorik, werden durch verschlüsselte Botschaften zur ars celare artem („Kunst, die Kunst zu verbergen“), was der römische Dichter Ovid als nützlich beschrieb. So bleiben die Figuren, von denen erzählt wird, glaubwürdig, spontan, direkt, lebensnah. Das Konstruierte bleibt im Verborgenen. In diesem Fall durch eine literarische Anspielung.

Diese Koinzidenz ist kein Zufall. Fukunaga und seine Autoren führen Bond ebenfalls auf eine Reise, die die Figur – vereinfacht gesagt – zu einer Sinnhaftigkeit führen soll, die ihm bislang verschlossen geblieben ist oder durch Katastrophen zerstört wurde. Von den Machern wurde dieses Erzählziel chiffriert durch den Namen einer Frau, die in der letzten Einstellung damit beginnt, ihrer Tochter die Geschichte ihres Vaters zu erzählen.
Immerhin kann man auf diese Weise in Daniel Craigs Bond eine in sich geschlossene Entwicklung erkennen, die einer erkennbaren Logik folgt. Als
„M“ (Judi Dench) und Bond in „Casino Royale“ den Ort aufsuchen, an dem die gefolterte und getötete Solange (Caterina Mureno) abgelegt wurde, fragt „M“ ihren Agenten: „Normalerweise würde ich Sie fragen, ob sie sich emotional distanzieren können. Aber das scheint nicht ihr Problem zu sein, oder?“
„Nein!“
Bonds Antwort ist der logische Beginn dieser Entwicklung. Als sich Bond in
„Casino Royale“ in Vesper Lynd verliebt und von ihr am Ende scheinbar verraten wird, kann er „M“ scheinbar ungerührt sagen: „Die Schlampe ist tot“, erfährt dann aber, dass mit dem Verrat sein eigenes Leben erkauft wurde. So steckt Bond bereits zum Auftakt in dem Dilemma, dass er (fast paranoid) nicht mehr weiß, ob er überhaupt jemandem vertrauen kann - und ob er jemals genug Fakten besitzen kann, um diese Frage zu beantworten. Dass in „No Time to Die“ das Motiv von Liebe und Verrat gleich zu Beginn eingeführt wird, ist nur folgerichtig.
„No Time to Die“ ist so betrachtet die ambitionierte Aufladung eines Kinomythos, eine lange Reise der Figur von einem traumatisierten Womanizer zu einem an sich zweifelnden und gebrochenen Mann, der Sinn erfährt, weil er am Ende Frau und Kind retten kann, so, als könne dies die zuvor verlorenen Zeit aufwiegen. Nur dass er, anders als Prousts Ich-Erzähler, keinen Grund mehr hat, sich unsterblich zu fühlen. Immerhin stirbt Bond glücklich.

Angesichts ihres Endes bleibt die Geschichte selbst trivial

Die Geschichte kann dieses Vexierspiel nicht ganz retten, so raffiniert sie den Zuschauer auch in eine bestimmte Richtung manövriert, ohne die Karten plakativ aufzudecken. Denn neben der Hauptfigur und ihren seelischen Dissonanzen bleiben die anderen Figuren blass.
 Das gilt besonders für den von Rami Malek („Mr. Robot“, „Bohemian Rhapsody“) gespielten Schurken Lyutsifer Safin (welche ein Name!), der immerhin einen spannenden Prolog erhält, dann aber verblasst, so spannend ist wie ein nasser Schwamm und von Christoph Waltz in einem kurzen Auftritt locker an die Wand gespielt wird.
 Safin ist nicht mehr als ein von Rachegefühlen getriebener Psychopath, der den Wissenschaftler Waldo Obruchev (Davis Dencik) entführt und für seine Zwecke gefügig macht. Obruchev hat für die Briten die Biowaffe Herakles entwickelt: es sind Nanobots, die wie Viren funktionieren und so codiert werden können, dass sie nur bestimmte Zielpersonen töten. Im großen Stil kann man innerhalb weniger Tage ganze Ethnien umbringen, wenn man über die erforderlichen Gensequenzen verfügt.
Das Tragische für Bond: Personen, die nicht zur Zielgruppe gehören, können trotzdem Überträger von Herakles werden. So bringt Bond unbeabsichtigt Blofeld um und am Ende trägt auch Bond das Virus in sich, das von Safin auf Madeleine und ihre Tochter umprogrammiert wurde. Bond wird beide nie wieder berühren können. Time to die.

Von #MeToo ist im neuen Bond wenig zu sehen. Sieht man einmal davon ab, dass Bond in London durch eine farbige 007 ersetzt wurde. Nomi (Lashana Lynch) kann fighten wie ein Martial Arts-Kämpfer, ist schlagfertig mit einem Bond’schen Anflug von Arroganz. Aber spätestens, wenn sie
„M“ (Ralph Fiennes) darum bittet, dem aus der Rente geholten Vorgänger seine „007“ zurückzugeben, ist es vorbei mit Woman’s Lib. „Das ist nur eine Nummer“, erwidert Bond und lehnt gnädig ab.

Ralph Fiennes hat die undankbare Aufgabe, in „No Time to Die“, den Volltrottel zu spielen. „M“ glaubte ernsthaft und ohne einen Anflug von Realitätssinn, dass er eine Biowaffe für staatlich angesegnete Morde kontrollieren kann. Wie immer wird Hybris aber durchkreuzt.
Auch die kurzen Auftritte von „Q“ (Ben Whishaw) und der tatsächlich unsterblichen Eve Moneypenny (Naomie Harris) können nichts an der immer düster werdenden Stimmung des Films ändern. Sie erreicht ihren Tiefpunkt erreicht, als auch der treue Felix Leiter (Jeffrey Wright) das Zeitliche segnen muss. Über Fukunagas Film legt sich eine tiefschwarze Depression wie ein Leichentuch. Natürlich auch, weil wohl auch der Letzte irgendwann gehört haben muss, wie der Film endet. Und obwohl die Actionszenen solide, aber nicht sonderlich innovativ sind, ist der Unterhaltungswert des Films daher eher lauwarm. Als Drama funktioniert Fukunagas Film aber prächtig, weil Daniel Craig den verzweifelt-zweifelnden Helden restlos überzeugend spielt und weil der 53-jährige Darsteller mit dieser Rolle alt geworden ist. Man sieht es inzwischen.

Gnädig war die Kritik trotz Craigs grandioser Performance nicht immer. Wolfgang Höbel schrieb im SPIEGEL von einer „Heldenzertrümmerung“, so als habe der Regisseur „die Lizenz zum Killen.“ Andere Kritiker, die sonst kein gutes Haar an Blockbustern lassen, sehnen sich erstaunlich offenherzig
nach einem ironischen augenzwinkernden James Bond. Verblüffend.
 Susanne Burg sah für den Deutschlandfunk einen ganz anderen Film: „Das ist Arthouse und Actionfilm gleichzeitig und hat die Marke Bond wirklich ins 21. Jahrhundert geholt.“ Auch weil die Frauenfiguren komplexer und ebenbürtiger seien und Style und Witz besitzen. Style ja, aber komplex? Eher nein.

Am Ende singt Louis Armstrong „We Have All The Time In The World” – ein kontrapunktischer Schlussakkord. Und eine nette Lüge. Erst recht in unseren Zeiten. In zwei Punkten bin ich mir sicher: es war mutig, diesen Bond zu machen – das Drama macht den Film irgendwie ehrlich und damit sehenswert.
Andererseits killt man einen Kinomythos nicht. Das hat anderen Filmen und Serien nicht gutgetan, wenn sie nicht gleich komplett ruiniert wurden. Wer auch immer das nächste Drehbuch für den dann 26. Bond schreibt, wird folglich eine schwere Last zu tragen haben. Und der nächste Bond-Darsteller, der sicher aus einem Paralleluniversum stammt, wird es nicht besser haben. Für beides werde ich mich dann nicht mehr interessieren. Denn James Bond ist tot. Alles, was danach kommt, kann nur eine Persiflage sein.


Noten: BigDoc = 2,5


No Time to Die (Keine Zeit zu sterben) – USA 2019-2021 – Regie: Cary Fukunaga - D.: Neal Purvis und Robert Wade, Scott Z. Burns, Cary Fukunaga, Phoebe Waller-Bridge – Laufzeit: 163 Minuten - D.: Daniel Craig, Léa Seydoux, Rami Malek, Ralph Fiennes, Ben Whishaw, Naomie Harris, Christoph Waltz, Jeffrey Wright u.v.a.