Mittwoch, 16. November 2022

„The Crown“ – echt oder Fälschung?

„Amerikaner erzählen mir, dass sie ‚The Crown‘ gucken, als würden sie eine Geschichtsstunde nehmen. Nun ja, das tun sie aber nicht. Es gibt viele Vermutungen und viele Erfindungen. Man kann sich an Fakten entlanghangeln – aber die Momente dazwischen sind dazu erfunden“, erklärte vor einem Jahr Charles Spencer. Gemeint war die Serie „The Crown“ und besonders die Darstellung von Spencers Schwester Diana, der Prinzessin von Wales, die 1997 bei einem Autounfall ums Leben kam.
Um den Rosenkrieg zwischen Prince Charles und Lady Di geht es auch in der 5. Staffel - und die Vorwürfe wiederholen sich. Nun aber schneidender und schärfer. Immer wieder ist zu lesen, dass die Serie „fiktiv“ sei und ein Disclaimer gefälligst darauf hinweisen solle, da die historischen Tatsachen in groben Zügen stimmen, im Detail aber verfälscht wurden. Geschrieben wurde dann leider nur noch über die Details. Und den Disclaimer hat NETFLIX auf seiner Website bereits platziert – ein Fehler.

Der Disclaimer ist nämlich ein Zugeständnis. Denn unabhängig von der Authentizität der dargestellten Fakten bleibt eine Fiktion eine Fiktion. Mit seinem Disclaimer hat NETFLIX nun eingestanden, dass seine Zuschauer, wie von Charles Spencer vermutet, Deppen sind, die nicht wissen, was sie sehen und wie sie es sehen. Das ist schlechte PR-Arbeit in eigener Sache.

Sehenswerte Nebenhandlungen

Unterhaltsam sind die zehn neuen Episoden auf jeden Fall. Mal voller Humor, dann folgt plötzlich Horror. Und einiges ist überflüssig. Showrunner Peter Morgan schüttelt die Zuschauer auf jeden Fall ganz schön durch. 

Witzig ist, dass die Queen (neu: Imelda Staunton, bekannt als „böse“ Dolores Umbridge in „Harry Potter and the Order of the Phoenix
) technisch ziemlich ultra-konservativ ist und sich nicht von ihrem analogen Röhren-Fernseher trennen mag, obwohl der Bildausfall – nun ja - gravierend ist. Enkel William (beeindruckend gespielt von Dominic Wests Sohn Senan) empfiehlt einen Neukauf mitsamt Schüssel auf dem Dach. Ein No-Go für die Queen. Die ändert aber schnell ihre Meinung, als der digitale Channel IPTV.TV der BBC die Sendelizenz für die von der Queen geliebten Pferderennen wegschnappt. Nun hantiert sie mit einer Fernbedienung herum, die kaum zu bändigen ist …

Horror pur ist dagegen die Massakrierung der Romanov-Familie durch die Kommunisten. Peter Morgan zeigt sie in Episode 6
Ipatiev House” (Regie: Christian Schwochow) mit ungeheurer Brutalität. Im Jahre 1917 hätte King George V die Romanovs außer Landes bringen können, ließ sich aber auf ein ablehnendes Veto seiner Frau ein. Da die Windsors über sieben Ecken mit der Zarenfamilie verbandelt waren, macht die Queen dem neuen russischen Präsidenten Boris Jelzin (Anatoliy Kotenyov) klar, dass ein Besuch in Moskau nur möglich sei, wenn man die Leichen der Romanovs exhumiert und standesgemäß beisetzt. Ob George V ein moralischer Feigling war, wie einige Historiker behaupten, bleibt offen. Peter Morgan zeigt stattdessen eine Queen, die George V entlastet, also alles im Interesse der Monarchie glattbügelt und damit auf ihre ganz eigene Weise Geschichtsrevision betreibt.

Überflüssig ist die dritte Episode „Mou Mou“, die sich ausschließlich mit dem Aufstieg des ägyptischen Geschäftsmanns Mohamed Al-Fayed (Salim Daw) beschäftigt, dem Vater von Dodo Fayed (Khalid Abdallah), dem späteren Liebhaber von Lady Di. Die Episode wirft ein Schlaglicht auf die Windsors, die dem windigen Neureichen trotz aller Bemühungen den Handschlag verweigern. Die Episode setzt in Flashbacks Al-Fayds Butler Sydney Johnson (Jude Akuwudike) zudem ein kleines Denkmal und erzählt die Geschichte einer ungewöhnlichen Männerfreundschaft. Das ist nett erzählt, aber die Standalon-Episode sprengt die Kontinuität der Erzählung. Im Großen und Ganzen sind die Nebenplots und Subtexte in „The Crown“ aber sehenswert und eine Fokussierung auf den Hauptplot wird dem Narrativ allein aus diesem Grund nicht gerecht.

In der „Firma“ bröckelt der Putz

Diskutiert wurde trotzdem fast ausschließlich der Hauptplot. Der beschäftigt sich mit den Jahren 1991-1997. Es sind die Jahre, in denen die Tories den Premierminister stellten: John Major (Jonny Lee Miller), der als Protegé von Margaret Thatcher galt. In diesem Jahrzehnt schüttelte eine schwere Rezession Großbritannien durch, das Land nahm am Zweiten Golfkrieg teil, während Majors gegen Widerstände in der eigenen Partei einen pro-europäischen Kurs einschlug. Thatcher wandte sich von ihm ab. Angesichts des Brexits ein spannender Erzählstoff, zumal eine ganze Menge darauf hinweist, dass die Queen EU-freundlich war.
Was ist davon in „The Crown” zu sehen? Wenig.
Peter Morgan lässt nur zu, dass sich die Queen von John Major nach dessen Wahlniederlage mit großem Bedauern verabschieden darf.

Die vorangegangenen Staffeln gaben der politischen Zeitgeschichte mehr Raum. In der 5. Staffel steht dagegen die Ehekrise von Prinz Charles und seiner Frau noch deutlicher im Mittelpunkt als in Staffel 4. Das dirigiert „The Crown“ deutlich in Richtung Soap. Dies spiegelt allerdings wider, was Millionen vor 25 Jahren für wichtiger hielten. Der „War of Wales“, wie ihn Hugh Montgomery in seiner Rezension für die BBC nannte, faszinierte, weil ein weiblicher David gegen einen mächtigen Goliath antrat. Und das war nicht nur der Thronfolger Charles, dessen Beziehung zu Camilla Parker Bowles kein Geheimnis war. Gemeint war auch das „System“ einer königlichen Kaste, die alle ausschließt, die sich nicht bedingungslos den aus Geschichte und Tradition abgeleiteten Regeln unterwarfen. Aus Sicht von Diana (Elisabeth Debicki) wurde sie von einer Familie zerstört, die sich in der Serie selbst „die Firma“ nennt. So wurde die CIA spöttisch genannt, in Peter Morgans Version begeben sich die Windsors also in denkbar schlechte Gesellschaft.

Dass in der „Firma“ der Putz bröckelt, war zunächst nicht das Hauptthema der Serie. Später schon. Und so erzählte „The Crown“ in den letzten beiden Staffeln zunehmend von den Dilemmata einer konstitutionellen Monarchie, deren Protagonisten nur wenig Einfluss auf das Zeitgeschehen haben, aber in ihren Riten und Regeln erstarren und das Ausfüllen ihrer Rollen für alternativlos halten. Und die irgendwann damit begannen, diese Rollen zu hinterfragen und nicht länger dem moralischen Codex des „Souveräns“ zu folgen. Man gestattete sich heimliche Freiheiten, die schweigend geduldet wurden, solange das Rollenspiel und die royale Fassade nicht brüchig wurden.
Doch das ist, so zeigt die neue Staffel, ein frommer Wunsch und eigentlich auch eine lächerliche Illusion. Alle Krisen wurden öffentlich und die Skandale zum Akt der Befreiung. Das zeigen in der 5. Staffel nicht nur Charles und Diana, die in den 1990er-Jahren als Medien-Ikone mittlerweile ein eigenes Privatleben mitsamt Affären führte. Auch Ehe von Prince Andrew (James Murray) ist ruiniert, er wird durch heikle Fotos seiner Frau kompromittiert. Später wurde Andrew in die Epstein-Affäre verwickelt. Und Prinzessin Anne (Claudia Harrison), die nach einer gescheiterten Ehe zum zweiten Mal heiraten will, sorgt damit in der königlichen Familie für Trouble. Davon wird aber nur am Rande erzählt, oft nur in einer einzigen Szene.

Die Rolle der Medien

Skandal, Affären, Sex. Der Point of View der von SONY produzierten Netflix-Serie ähnelt eher den Erzählungen der Boulevard-Blätter. Peter Morgan tisch alles auf, was damals und auch heute noch von einigen Medien scheinheilig skandalisiert wurde und wird: das berüchtigte „Tampongate“, jenes heimlich mitgeschnittene Telefonat, in dem Charles seiner Geliebten gesteht, dass er gerne ihr Tampon sein würde. Aber auch das BBC-Interview, das der BBC-Journalist Martin Bashir mit Diana führte und in dem sie über ihre postnatalen Depressionen, ihre Bulimie und über die Untreue ihres Mannes sinnierte („es gab drei von uns in dieser Ehe“). Zudem deutete Diana an, dass ihr Mann nicht der richtige Thronfolger sei. 

Fast 23 Mio. Zuschauer schauten sich Bashirs „Interview with H.R.H. the Princess of Wales“ an, weltweit erreichte die BBC über 200 Mio. Zuschauer in 100 Ländern. Noch Jahre später waren Mitglieder der königlichen Familie davon überzeugt, dass die Medien Diana in den Tod getrieben haben.

Allein dem ominösen Interview mit Bashir werden zwei komplette Episoden spendiert (Nr. 7 „Woman’s Land“ und Nr. 8 „Gunpowder“). Was Showrunner Peter Morgan, der alle Drehbücher geschrieben hat, daraus gemacht hat, ist dann doch im Detail stimmig und damit weit genug entfernt von den sensationsgierigen Medien. Morgan zeigt zwar nicht, wie akribisch sich Diana auf das Interview vorbereitete, wohl aber, wie sie mit einem schwarzen Eyeliner die Augen umrandete, um möglichst angeschlagen auszusehen. Das ist belegt.

Und wer genau hinschaut, wird in einer kurzen Szene sehen, wie Peter Bashir von einem Computerexperten die Kontoauszüge von Mitgliedern aus Dianas Staff fälschen ließ. Bashir wollte der Princess of Wales damit beweisen, dass sie Opfer einer Verschwörung sei, an der ihre bestochenen Mitarbeiter und möglicherweise auch die britischen Geheimdienste beteiligt sind. 

Charles Spencer, Dianas Bruder, kam 2020 Bashir auf die Schliche. Der Betrug wurde 2021 durch eine richterliche Untersuchung bestätigt. Man darf gespannt sein, ob die 6. Staffel davon erzählen wird. Aber nicht das Interview war der Skandal (wie deutsche Klatschblätter auch heute noch behaupten), sondern es waren die kriminellen Machenschaften, die es ermöglichten. Die BBC wurde nach der Enthüllung dadurch schwer beschädigt. So, als hätte sie Kujaus Hitler-Tagebücher gekauft. Zumindest das Interview war aber echt.

Es gehört zu den Stärken der der 7. und 8. Episode, die dadurch ausgelösten medialen Verwerfungen nachzuzeichnen. Die Vertreter eines traditionellen Qualitätsjournalismus in der BBC, so zeigt es Morgan ausführlich, sind im eigenen Haus ihren modernen Gegenspielern unterlegen, die sich Mitte der 1990er-Jahre der aufkommenden Digitalisierung und den zunehmend flacheren Formaten der Konkurrenz nur zu gerne unterwerfen wollen. 

Was daraus geworden ist, sieht man in den aktuellen Debatten über die öffentlich-rechtliche BBC und die herbeigeredete Krise des ÖRR in Deutschland. Die BBC hat groteske Fehler gamacht, aber dis wird nun politisch instrumentalisiert. Die Argumente der Kritiker sind auch in Deutschland die gleichen: „zu teuer“, „woke Redakteure“, „zu linksliberal“. Tatsächlich geht es also um die Kontrolle der Meinungsbildung. Zumindest hier hat Peter Morgan also nichts falsch gemacht und „The Crown“ ist eine gut gemachte Kritik der Medienkultur und ihrer ökonomisch-politischen Strippenzieher.

Einiges ist falsch, das meiste ist richtig

Vorgeworfen wurde den Machern, dass historische Fakten gefälscht wurden. So wurde in der ersten Episode „Queen Victoria Syndrome“ die Darstellung eines Gesprächs zwischen Charles, dem Prinz of Wales, und dem frischgebackenen Premierminister John Major kritisiert. Charles (Dominic West) will ausloten, ob die Zeit nicht reif dafür sei, den Royalismus zu modernisieren. Und er will herausfinden, ob die Politik bereit ist, ihn bei der vorzeitigen Abdankung seiner Mutter zu unterstützen. In dieser Episode lässt Major (Jonny Lee Miller) die vorsichtigen Andeutungen Charles‘ ungerührt an sich abperlen. Der reale John Major leugnete („absoluter Blödsinn"), dass es jemals so ein Gespräch gegeben habe.
In „Annus Horribilis“, der vierten Episode, hält Queen Elisabeth (Imelda Staunton) eine Rede. Es ist eine Feier anlässlich des 40. Jahres ihrer Regentschaft. Erschüttert von drei öffentlich gewordenen Ehekrisen und einem verheerenden Brand des Schlosses Windsor spricht sie von einem „schrecklichen Jahr“ (Annus Horribilis) und bedauert die Fehler, die sie gemacht hat. Die Rede gab es, aber eigene Fehler wurden nicht eingestanden. Die Kritik ist in beiden Punkten also berechtigt.
Eine besondere Schärfe erhielten die Verrisse der neuen Staffel auch, weil
NETFLIX die Serie kurz nach dem Tod der Queen streamte. De facto wurde aber aus der Mücke ein Elefant gemacht. Der Journalist Hugo Vickers schrieb sogar, dass die Serie „grundlegend verlogen und deshalb letzten Endes schändlich“ ist. Und die Oscar-Gewinnerin Judi Dench unterstellte NETFLIX "geschmacklose Sensationslust". Andere Kritiker monierten, dass die Serie Charles kurz nach seiner Krönung als Scheusal präsentiere, er sei als „kalt, engstirnig und nachtragend“ dargestellt worden und NETFLIX habe sich spekulativ auf die Seite von Diana geschlagen.

Abgesehen davon, dass die Darstellung von Charles durch Josh O’Connor in Staffel 4 an der Figur kein gutes Haar gelassen hatte und Dominic West den Thronfolger deutlich weicher, selbstkritischer und erwachsener darstellt, ist nicht zu erkennen, dass Peter Morgan Partei ergriffen hat. Im Gegenteil. Wenn jemand in der Netflix-Version des „War of Wales“ eine gute Figur macht, dann ist es Charles, der von Morgan als moderner und sozial verantwortlicher Mann präsentiert wird. In Episode 5 „The Way Ahead“ unternimmt der fiktive Charles alles, um sein nach „Tampongate“ beschädigtes Image von Beratern professionell reparieren zu lassen. Man wirft in so einer prekären Situation mit dem Speck nach den Mäusen. Auch der fiktive Charles tut dies. Aber die Serie feiert ihn im Abspann für die jahrzehntelangen Erfolge seiner Stiftung „The Prince‘s Trust“. Zu Recht. Von einer Hinrichtung des neuen Königs durch NETFLIX kann also nicht die Rede sein.

Der Cast ist ein Volltreffer

Die Darsteller machen in „The Crown“ ihre Sache besser als die Figuren, die sie verkörpern. In Imelda Staunton steckt immer noch ein bisschen Dolores Umbridge, wenn sie die Queen mit einem permanenten und maskenhaften Dauerlächeln spielt. Aber dies macht eine Frau sichtbar, die sich die Empathie abtrainiert hat und nicht die geringsten Emotionen zeigt. Und gerade dies macht sie zunehmend hilfloser. Staunton spielt dies als Kampf gegen den Kontrollverlust.
Jonathan Pryce („Game of Thrones”) ist ebenfalls ein Volltreffer. Sein Prince Philip drückt die zunehmende Distanz zu seiner Frau mit gnadenloser und völlig desillusionierter Höflichkeit aus, ohne sich zu Übertreibungen hinreißen zu lassen. Beinahe beiläufig wird gezeigt, dass sich
Philip ein eigenes Privatleben und eine intellektuelle Freundschaft zu einer anderen Frau arrangiert hat. Die Queen nimmt dies ratlos zur Kenntnis.
Dominic West („The Wire“) ist deutlich sympathischer als seine Vorgänger. West spielt Charles als erwachsenen Mann und geht reflektiert mit seiner Figur um. Im Gegensatz zu Princess Margaret (Lesley Manville ist deutlich überzeugender als Helen Bonham Carter) ist er in Sachen Ehe ein Rulebreaker, der von den Royals aber gedeckt wird. Das komplexe Zusammenspiel von Privatleben und Rollenspiel bringt West gut auf den Punkt, auch weil Olivia Williams als Camilla Parker Bowles eine intellektuell spannende Frau porträtiert wird und klar wird, was Charles an seiner Geliebten so faszinierend fand. Sie ist ein anderes Kaliber als Diana, die von Elisabeth Debicki mit schräger Kopfhaltung und zur Schau gestellter Naivität dargestellt wird. Trotzdem macht Debicki deutlich, dass Diana sich ihrer Ikonisierung bewusst war und auch der Macht, die sie dadurch erhielt. Debicki hält den Zuschauer daher auf Distanz, was es nicht einfach macht, diese Figur sympathisch zu finden. Als gruselig gut" bewertete die Times“ Debickis Performance.
Bemerkenswert ist Senan West als Prince William. Der Sohn von Dominic West lässt erkennen, wie schwer es ist, einen Platz inmitten der Ränkespiele, die sein Vater und seine Mutter auch in der Öffentlichkeit inszenieren, einen eigenen Platz zu finden. Von jugendlicher Unschuld kann bei dem 15-Jährigen längst nicht mehr die Rede sein, denn auch William wurde von seiner Mutter für deren Ziele instrumentalisiert. Und er durchschaut dies. Der Zwang, frühzeitig erwachsen werden zu müssen, ist für ihn desillusionierend und es ist schon ziemlich talentiert, wenn man diese Ambivalenz in nur wenigen Szenen so gut auf den Punkt bringen kann, wie es Senan West gelingt.

Die Krise der Monarchie, eine Queen, der Gefühllosigkeit vorgeworfen wird und die sich an ihren Codex klammert, obwohl die postmoderne Gesellschaft sie zu überrollen droht – dies alles wird in der 6. Staffel wohl erneut heftige Debatten auslösen. Man darf gespannt sein, wie Peter Morgan den Unfalltod Dianas darstellen und ob er den Verschwörungstheorien Raum geben wird, die sich bis heute wie ein Spinnennetz über die Windsors gelegt haben. Dass die Briten mit der Monarchie nicht abgeschlossen haben, zeigten die Reaktionen auf den Tod der Queen. Dass viele die Monarchie aber für einen historischen Zombie halten, dürfte ebenfalls klar sein, wenn man die Umfragen ernst nimmt.

Symbolisch wird dies in Peter Morgans Rahmenerzählung deutlich. Es geht um die königliche Yacht „Britannia“, die hinfällig geworden ist und aufwändig restauriert werden muss. Doch wer soll das bezahlen? Die Regierung oder die königliche Familie? Das Schiff ist die heimliche Heimat der Queen, aber dessen maroder Zustand, so zeigt es Morgan, spiegelt symbolisch die Krise der Windsors wider.
Am Ende gewinnt der Labour-Politiker Tony Blair die Parlementswahlen erdrutschartig. Steuermittel für das Schiff will der neue Premierminister nicht aufbringen. Und so trennt sich die Queen von der „Britannia“. Das Schiff war für die der einzige Ort, an dem für sie Freiheit möglich war. Aber vielleicht war auch dies nur eine Illusion.

Note: BigDoc = 2


The Crown – NETFLIX 2022 – 10 Episoden - Showrunner und Autor: Peter Morgan – Regie: Jessica Hobbs, Alex Gabassi, May el-Toukhy, Christian Schwochow, Erik Richter Strand – D.: Ismelda Staunton, Jonathan Pryce, Dominic West, Elisabeth Debicki, Lesley Manville, Olivia Williams, Jonny Lee Miller, Salim Daw, Senan West, Timothy Dalton.


Nachtrag: Was sind Fiktionen?

“Inspired by real events, this fictional dramatization tells the story of Queen Elizabeth II and the political and personal events that shaped her reign.” So lautet der NETFLIX-Disclaimer, der die Fiktionalität der Serie bestätigt. Dass ist in etwa das Gleiche, als würde ein Bäcker seine Kunden darüber informieren, dass man sein Brot essen kann.

Das eigentliche Problem ist ein semantisches. Denn das Wort „fiktiv“ besitzt viele Synonyme. Das harmloseste ist „ausgedacht“. Dann kommen aber schon härtere Variante wie „erfunden“ und „trügerisch“ und am Ende darf sich niemand wundern, wenn die Fiktion mit dem Wort „Lüge“ kurzgeschlossen wird. Andere sprechen von „Einbildung“ oder gar von „Illusion“.

Wenn man sich also an der notwendigen Debatte über „The Crown“ beteiligen will, muss man also zwingend wissen, was eine Fiktion ist. Sie kann alles Mögliche sein, auch eine Fälschung und sogar eine Lüge, zum Beispiel in Propagandafilme. Aber Propaganda werfen nun wenige Kritikern den Machern von „The Crown“ vor.

Tatsächlich ist das fiktive Erzählen eine der wenigen kulturellen Erfindungen, auf die unsere Spezies stolz sein kann. Die Erfindung einer „Welt“, die mit Figuren und deren Geschichten besiedelt wird, kann, muss aber unmittelbar nichts mit den Tatsachen zu tun haben, die wir aus der realen Welt kennen. In
„Game of Thrones“ sind Bezüge zur realen Welt daher nur indirekt erkennbar, etwa, wenn man sich mit alten Mythologien, mittelalterlicher Geschichte oder mit Machiavelli beschäfigt. Die Bezüge zur Realität sind in diesem Fall kodiert. Und diese Art von Worldbulding macht erfahrungsgemäß sehr viele Interpretationsangebote.

Auch wenn sich die fiktive Erzählung mit historischen Fakten beschäftigt, ist die Wahrnehmung des Zuschauers eines Films oder einer Serie zum Glück nicht immer die gleiche. Wer nichts mit britischer Geschichte am Hut hat, wird in „The Crown“ das Gefühl haben, etwas gelernt zu haben. Hat er auch.
Sein Antipode, ein bestens informierter Brite mit exzellenten historischen Kenntnissen, wird eher die Lücken und Ungenauigkeiten der Erzählung erkennen. Das ist das „Distanz-Nähe-Problem“ aller Fiktionen. Und schon verschwimmt die Beziehung zwischen Fakten und ihrer fiktiven Darstellung.

Eine Regel gilt auf jeden Fall: Fiktionen in der Literatur, in Gemälden, auf der Theaterbühne und im Kino und TV sind so oder so ohne Realität nicht denkbar. Auch Fantasyfilme mit ihrem eigenen Worldbuilding sind es nicht. Ein warnender Disclaimer, der den Begriff
„fiktiv“ kann also nichts daran ändern, dass einige Tatsachen richtig dargestellt werden und andere nicht. Und er kann auch nicht verhindern, dass man sich über richtig und falsch endlos streiten kann.

Wie entsteht der Realitätsbezug?
Die „Welt“ der Fiktionen besteht aus Modellen mit einem abbildenden (mimetischen) Charakter (wie bei einer Modell-Eisenbahn) und unterschiedlichen Zeitpfeilen: besitzt eine Fiktion eine realistische Attitüde, erzählt sie von realen Ereignissen, die bereits geschehen sind. Ohne Faktisches gibt es keine Erzählung.
Mythen und religiöse Erzählungen haben den gleichen Zeitpfeil, aber eine andere Ausrichtung und können aber von ihren Anhängern als „wahr“ rezipiert werden. Für Anhänger des „Intelligent Design“ repräsentiert die mythische Welterklärung nichts anderes als Tatsachen.

Richtet sich der Zeitpfeil in die Zukunft, dann sehen wir am Beispiel von Utopien und Dystopien, zum Beispiel in Science-Fiction-Erzählungen, scheinbar frei erfundene Welten (Entwürfe), die aber ohne die uns bekannte Realität gar nicht hätten entstehen können. Diese Erzählungen können realistisch erzählt werden, aber auch allegorische und symbolische Eigenschaften besitzen. Auf jeden Fall ist ihr Duktus eindeutig: „Seht her, das geschieht, wenn wir so weitermachen wie bisher.“ Orwell hat es vorgemacht. In
„Star Trek“ ist man optimistischer: „Seht her, das geschieht nur, weil wir unsere Probleme gelöst haben.“

Die Verzahnung der fiktiven „Welten“ mit der Realität kann also Abbildung oder Entwurf sein. Aber die Realität fordert immer ein, dass diese Beziehung zu ihr nie gekappt werden darf. Das ist aus meiner Sicht das beste Argument, um bei der Darstellung von historischen Gegebenheiten zu fordern, dass Faktisches nicht verfälscht werden darf, aber der Erzähler einen interpretatorischen Spielraum besitzt. Denn Realismus ist keine plumpe naturalistische Abbildung, die keiner Erklärung bedarf, sondern der Versuch, Deutungsangebote zu machen, die einer kohärenten Logik folgen. Und diese Logik folgt einer zusammenhängenden Erklärung von von dramatischen (also ausgedachten) Elementen und Tatsachen.

Es ist wie beim Hausarzt. Der kann sich bei der Diagnostik mal irren, aber wenn er richtig liegt, folgt er gesicherten (also falsifizierten) Erklärungsmodellen, die Ursache und Wirkung einer Krankheit beschreiben. Ohne diesen erkannten Zusammenhang ist keine kausale Therapie möglich. Und wie in der Medizin kann es auch in der Kunst zu Fehldiagnosen kommen.

Summa summarum kann man festhalten, dass Fiktionen nicht von der Realität getrennt werden können, sie aber anders beschreiben als zum Beispiel die empirischen Wissenschaften. Aber wie diese sollten sie den Bogen der künstlerischen Freiheit nicht überspannen, denn wie im Fall der Mythen gibt es genug Leser und Zuschauer, die eine „freie“ Erzählung als „wahr“ einschätzen. Wie sagte Spidermans Onkel Ben Parker seinem Neffen: „Aus großer Kraft folgt große Verantwortung.“

Dies bedeutet in letzter Konsequenz, dass die Deutungsangebote einer Fiktion nie willkürlich sind und sein dürfen. Letzteres kann trotzdem in die Hose gehen. Ein schönes Beispiel sieht man in Sam Mendes' Film
„Jarhead“ (2005). Dort sehen die Marines während des Zweiten Golfkriegs während eine Kino-Vorführung Francis Ford Coppolas Apocalypse Now und bejubeln begeister die berühmte Szene, in der die US-Helikopter ein vietnamesisches Dorf zu den Klängen von Wagners Walkürenritt angreifen. Coppolas Film ist ein Anti-Kriegsfilm, rezipiert wird er von den Marines aber als Pro-Kriegsfilm.

Fiktionen
sind immer auf den Prüfstand des Realen zu stellen. Und das bedeutet, dass Fiktionen wie „The Crown“ eine Verpflichtung eingehen – nämlich Tatsachen so genau wie möglich darzustellen.