Samstag, 3. Dezember 2022

Wednesday - Die Netflix-Serie ist ein Heidenspaß

Stolz vermeldete NETFLIX Anfang Dezember, dass die horrorkomödiantische Serie „Wednesday“ in nur einer Woche alle Rekorde gebrochen hat. In gerade mal fünf Tagen haben über 50 Mio. Haushalte die achteilige Serie beinahe verschlungen. „Wednesday“ ist ein Spin-Off der Fernsehserien und Kinofilme über die makabre Addams Family. Allerdings taucht die Familie nur am Rande auf.
Im Mittelpunkt steht Wednesday, die Tochter von Gomez und Morticia Addams. Sie landet nach einem derben Streich in der Nevermore Academy, einer Highschool für Ausgestoßene. Und das sind Gorgonen, Vampire, Werwölfe und Gestaltwandler. Als ein geheimnisvolles Monster in den Wäldern wütet und Menschen umbringt, versucht Wednesday dem Geheimnis auf die Spur zu kommen. Sie tut dies auf so bezaubernde Weise, dass einem eiskalt ums Herz wird.

„Sic gorgiamus allos subjectatos nunc!“

Übersetzt heißt das Credo der Addams: „Wir verspeisen all jene, die versuchen uns zu bezwingen!“ 
Natürlich geschieht sowas nicht in einer Komödie. Die morbiden Figuren, die der amerikanische Cartoon-Zeichner Charles Addams Anfang der 1930er-Jahre erfand, verwandelten ihr Credo eher in Lifestyle und Ästhetik. Nicht nur an ihrer schwarzen Kleidung ist dies zu erkennen, sondern auch daran, dass das Spielzimmer der Kinder eine Folterkammer ist. Eine Streckbank statt eines Teddybären, das sagt eine Menge über die Addams. Die Hauptfigur in „Wednesday“ spielt dagegen gerne mit Puppen - die sie mit einer Guillotine köpft!

Es soll tatsächlich noch Menschen geben, die sich an die Originalserie „The Addams Family“ (1964-1966, ab 1970 im deutschen TV) erinnern können. Fans sind sie garantiert geblieben, denn die zunächst nicht erfolgreiche TV-Serie hat sich im Laufe der Jahre einen Kultstatus erarbeitet. An das legendäre Fingerschnippen in der Titelsequenz erinnert man noch heute gern. Auch an den Butler Lurch, der wie Frankensteins Monster aussah und hingebungsvoll Cembalo spielte, während eine abgehackte Hand aus einem Kasten schlüpfte und die Noten für ihn umblätterte.
Das viktorianische Haus der Addams war eine kultige Horrorstätte, in der die Eltern Gomez und Morticia Addams ihre Kinder Wednesday und Pugsley in ein tiefschwarzes Leben einführten, unterstützt von Onkel Fester und Granny, der Großmutter. Gräber, Leichen, Folter und Verstümmelungen, Explosionen – das waren die Gesprächsthemen der morbiden Familie. Explizit bekam man schlimme Sachen in den 1960er-Jahre aber nicht zu sehen, die Gags zündeten trotzdem. „The Addams Family“ war eine groteske Satire, denn die Addams verbannten alles aus ihrem Leben, was dem „American Way of Life“ heilig war. Und wenn normale Menschen die Horrorfamilie mal aufsuchten, verließen sie entsetzt das Haus. Nicht selten dem Wahnsinn nahe. Die Stärke der Serie waren aber die absurd-komischen Dialoge, die alles negierten, was eine normale amerikanische Familie liebt. Und falls ein Gag mal flach ausfiel, ging das im Bandgelächter unter, das ständig eingespielt wurde.

Jenna Ortega ist der Star der Serie

In der von Alfred Gough und Miles Millar („Smallville“) entwickelten NETFLIX-Serie steht eine Figur im Mittelpunkt, die in der alten Kultserie eher am Rande vorkam: Wednesday, die Tochter der Addams. Barry Sonnenfeld legte in seinen Kinofilmen das Potential dieser von der zehnjährigen Christina Ricci gespielten Figur bereits frei („The Addams Family“, 1991, und „Adams Familiy Values“, 1993). Ricci taucht in der Serie übrigens in einer Nebenrolle auf.
Mit der Idee, dem finsteren Mädchen die Hauptrolle zu überlassen lagen die Showrunner auch aus einem anderen Grund nicht falsch: Die 20-jährige Jenna Ortega (
The Life after“, 2021) ist in der Rolle der widerspenstigen Tochter ein Volltreffer. In Schwarz gekleidet, mit eisiger Miene und sardonischen Onelinern übernimmt sie sofort die Kontrolle über alles und jeden, der sich ihr in den Weg stellt. Sie beherrscht die Martial Arts und der Gebrauch von Waffen ist ihr auch nicht fremd.
Auf ihre Weise ist Wednesday also charismatisch. Der negative, aber harmlose Charme der Origin-Serie, die eher kindgerechten Humor servierte, wurde von Gough und Millar, die vier Drehbücher schrieben, in der Serie nun gnadenlos scharf gemacht. Es gibt mehr Drama. Die eisige Kälte, die Jenna Ortega brillant ausstrahlt, ist die einer Jugendlichen, die in ihrer Kindheit traumatisiert wurde, als ihr engster Freund von anderen Kindern getötet wurde. Es war ein tödlicher Skorpion.

Das kann einen umhauen. Und schon glaubt man zu wissen, dass man dieser Welt nur durch den Tod entkommt. Fehlende Empathie, die Unfähigkeit zur Freundschaft und all die anderen Soft Skills sind für Wednesday daher Ausdruck einer perfekten Persönlichkeitsentwicklung in dieser grausamen Welt. Im Gegensatz zu echten Soziopathen verstellt sich Wednesday aber nicht, sie ist zwar gerissen, aber nicht manipulativ, sie hat auf gewisse Weise auch ein Gerechtigkeitsgefühl und da sie Romane schreibt, kann sie nicht völlig böse sein – also eine ambivalente Figur, und dies sowie die coolen Kommentare und die zynischen Witze, die man ihr ins Script geschrieben hat, haben auf Anhieb aus der nicht sonderlich bekannten Jenna Ortega einen echten Star gemacht. Ihre Figur ist ein Unikat und darf guten Gewissens auf eine Stufe mit Hannibal Lecter gestellt werden. „Wednesday“ ist daher auch eine Blaupause für zukünftige Horrorkomödien.

Wohin mit all den Gefühlen?

In Nevermore landet sie, weil sie den Bullys, die ihren Bruder Pugsley (Isaac Ordonez) mobbten, Piranhas in das Schwimmbecken schüttete. Danach beklagte sie sich darüber, dass der Hauptübeltäter leider nur einen Hoden verlor. Nun kommen ihre Eltern Morticia (Catherine Zeta-Jones) und Gomez (Luis Guzmán) zu dem Schluss, dass die Sache mit dem Hoden zwar alternativlos war, die weitere Schulbildung aber dort stattfinden solle, wo sie selbst glücklich waren – in Nevermore. 
Nun ist also auch Wednesday wenig begeistert in dem Provinznest Jericho gestrandet, das eine dunkle Geschichte zu verbergen hat. Denn zwei Jahrhunderte zuvor hatte der fanatische Pilgervater Joseph Crackstone (William Houston) versucht, alle Außenseiter wie bei einer Hexenjagd umbringen. Immer mehr Hinweise lassen es vermuten, dass immer noch Jünger Crackstones unterwegs sind, die die gleichen Ziele verfolgen und auch für das grauenhafte Monster verantwortlich sind, das Jericho in Angst und Schrecken versetzt.

Aber Netflix wäre nicht Netflix, wenn nicht zumindest ansatzweise die Verwandlung einer hochintelligenten Soziopathin in einen sozial kompatiblen Menschen erzählt werden würde. Ein moralisches Muss, natürlich nur dosiert. Denn um das geheimnisvolle Monster zur Strecke bringen zu können, muss Wednesday mit anderen kooperieren und dabei die seltsame Erfahrung verdauen, dass die Jugendlichen in Nevermore Gefühle besitzen und positive Erwartungen haben, aber auch zunächst feindselig reagieren können wie die Sirene Bianca (Joy Sunday), die sofort in Wednesday eine hochpotente Konkurrentin erkennt. Wednesday ist das egal. Freundschaft oder Feindschaft machen keinen Unterschied. Beides ist einfach nur lästig.

Egal, was alle denken und fühlen – Wednesday bleibt ein Eisklotz, der auch rhetorisch fast immer Sieger bleibt. Wären da nicht diese komischen Gefühle! Da ist die lebenslustige und überdrehte Enid (Emma Myers), die sich mit Wednesday ein Zimmer teilt und unbedingt ihre Freundin werden will. Dass Enid gelegentlich ihre Krallen ausfährt wie Wolverine, zeigt, dass sie ein Werwolf ist. Enid will aber keiner sein. 

Auch andere Figuren müssen strange Erfahrungen mit Wednesday wegstecken. Zum Beispiel Xavier (Percy Hynes White), der in Nevermore das Mitglied einer elitären Geheimgesellschaft ist und sich zu Wednesday hingezogen fühlt, obwohl diese ihn nur beschränkt an sich heranlässt. 

Zu den „Normies“, also den Normalen, gehört dagegen der sanftmütige und einfühlsame Tyler (Hunter Doohan), der sich dem eiskalten Mädchen als Freund andient und eigentlich etwas mehr als Freundschaft erhofft. Tyler ist der Sohn des lokalen Sheriffs (Jamie McShane), und der ist fest davon überzeugt, dass alles Übel nur aus Nevermore kommen kann. Und damit auch das Monster.
Und last but not least ist da auch der Hobby-Imker Eugene (Moosa Mostafa), ein junger Schüler, der Wednesday bei ihren Nachforschungen bedingungslos loyal hilft. Eine Einstellung, die Wednesday von der Schulleiterin Larissa Weems (Gwendoline Christie, Brienne of Tarth in „Game of Thrones“, „Sandman“) nicht zu erwarten hat. Weems hält ihre neue Schülerin für einen Problemfall und damit für eine Bedrohung der Schule.

Die Story ist ein Mix aus Crime Plot, „X-Men“, einem Schuss Hogwarts, Fantasy und Gothic Horror – solider Durchschnitt ohne verblüffende Wendungen. Am Ende überrascht nicht einmal die Auflösung des Rätsels. Ausgerechnet die nettesten Figuren entpuppen sich als teuflische Schurken. Und dass man nur gemeinsam etwas erreichen kann und echte Freundschaft der Kitt ist, der alles zusammenhält, ist eine nette Botschaft, aber nicht sehr originell. Dafür konsensfähig. Für die Hauptfigur dagegen ist das eine fast perverse Erfahrung – aber natürlich gibt sie nach. Etwas… Also nicht der Plot, sondern das emotional komplizierte Charakterdrama, die messerscharfen Dialoge und einige Gimmicks machen den Reiz der Serie aus. Etwa das „eiskalte Händchen“ (in der Origin-Serie „The Thing“ genannt), das sehr mobil ist, mit Zeichensprache kommuniziert und regelmäßig für außergewöhnlich witzige Momente sorgt.

Visuell ist die Netflix-Serie ein echter Hingucker. Man spürt die Handschrift von Tim Burton, der als Spezialist für schräge Außenseiter und atmosphärische Genrefilme („Batman“, „Edward mit den Scherenhänden“, „Sleepy Hollow“, „Planet der Affen) ein Gespür für starke Bilder und Interieurs hat. Burton (auch Executive Producer) führte in den ersten vier Episoden Regie und brachte aus seiner Stammcrew auch die vierfache Oscar-Gewinnerin Colleen Atwood, die für die eindrucksvollen Outfits der Figuren sorgte. Nicht einfach, wenn die dominierende Farbe Schwarz ist…

Ein Remake der 1960er-Serie sollte „Wednesday“ auf keinen Fall werden, stellte Miles Millar fest. Das scheint geklappt zu haben. Kenner der Cartoons, die Charles Addams für The New Yorker produzierte, bescheinigen der Serie eine große Nähe zum ästhetischen Konzept des Zeichners. Das ist für Nerds wichtig. Für den weniger vorbelasteten Zuschauer ist dagegen der Heidenspaß entscheidend, den die Serie macht. Und da ein Cliffhanger andeutet, dass die Geschichte noch längst nicht zu Ende erzählt ist, darf man sich (hoffentlich) auf eine Fortsetzung freuen. Der Rezensent tut dies auch.


Note: BigDoc = 1,5, Melonie = 1


Wednesday – Netflix 2022 (8 Episoden) – Showrunner: Alfred Gough, Miles Millar – Regie: Tim Burton, Gandja Monteiro, James Marshall – D.: Jenna Ortega, Jamie McShane, Hunter Doohan, Percy Hynes White, Emma Mayers, Joy Sunday, Christina Ricci, Gwendoline Christie, Moosa Mostafa, Luis Guzmán, Catherin Zeta-Jones, Isaac Ordonez, Christina Ricci u.a.