Sonntag, 25. Dezember 2022

Glass Onion: A Knives Out Mystery

Star Wars-Regisseur Rian Johnson hatte mit der Krimikomödie „Knives Out“ weltweit über 311 Mio. US-Dollar gespült. Grund genug für NETFLIX, sich die Betriebsrechte zu sichern und 465 Mio. für zwei weitere Filme zu investieren. Jedenfalls wird das gemunkelt.
Ob sich das unterm Strich lohnt, muss der Streaming-Anbieter selbst herausfinden. Den Zuschauer erwarten in der Fortsetzung „Glass Onion“ 140 Minuten Zerstreuung auf gehobenem Niveau und ein aufgeräumter Daniel Craig in seiner Post-Bond-Phase.

Wer hat die Serviette?

„Was ist die Realität?”, schreit die nicht mehr ganz junge Modeikone Birdie Jay (Kate Hudson), als sie urplötzlich eine Person gegenübersteht, die einige Minuten zuvor als blutüberströmte Leiche vor ihr lag. Eine keineswegs unberechtigte Frage, denn Rian Johnsons zweiter Film über den Superdetektiv Benoit Blanc (Daniel Graig) hat die Dekonstruktion der Realität zum Programm gemacht. Nichts ist das, was es zu sein scheint. Und das, was sich hinter der vermeintlichen Realität verbirgt, ist eine besonders abgefeimte Inszenierung, bei der Freunde zu Feinden werden, gelogen und erpresst wird und am Ende der Strippenzieher kein Genie ist, wie Blanc zunächst vermutet, sondern ein Idiot.

Wäre das Whodunit in „Glass Onion“ von Benoit Blanc leichter zu lösen gewesen als ursprünglich vermutet? Eher nicht. Denn da der „berühmteste Detektiv der Welt“ selbst ein Genie ist, war es für ihn naheliegend, von dem Schurken ähnliche Qualitäten zu erwarten. Aber ganz so dämlich hat sich der dann doch nicht angestellt und Blanc wird seine Einschätzung noch verfluchen, als am Ende eine Serviette in Flammen aufgeht.

Alles beginnt damit, dass eine Gruppe von Menschen von dem Super-Milliardär Miles Bron (Edward Norton) auf eine griechische Privatinsel eingeladen wird. Es sind alte Freunde, die er bereits kannte, als er als erfolgloser Hippie in die Gruppe eingeführt wurde. Doch dann hatte Cassandra „Andi“ Brand (Janelle Monáe) eine brillante Idee und Bron die unternehmerische Chuzpe – ein perfektes Team. So entstand „Alpha“, ein Technologie-Konzern, der Bron zu einem Superreichen machte und Andi zu seinem CEO.
Dumm nur, dass er einen großen Anteil des Firmenkapitals in eine innovative Methode zur Gewinnung von Energie aus Meerwasser stecken wollte. „Klear“ soll die Technologie heißen, die alle Energieprobleme der Welt lösen könnte – wenn sie denn funktioniert. Andi wehrte sich gegen die Investition, wurde aber von Miles Bron mit fingierten Beweisen aus dem Konzern rausgeworfen. Der Milliardär konnte vor Gericht beweisen, dass das auf einer Serviette skizzierte Konzept für „Alpha“ von ihm stammte und nicht von Andy. Die verlor alles. Dumm nur, dass sie plötzlich beim Stelldichein des „Packs“ ebenfalls auf der Insel auftaucht. Eingeladen ist nicht. Und keiner weiß, was sie vorhat.

Damit ist schon ein Teil des Plots gespoilert worden, aber das meiste wird dem Zuschauer schon in der ersten halben Stunde auf dem Silbertblett serviert. Die meisten der geladenen Gäste sind zwar zunächst bester Laune, aber je länger die Party dauert, desto mehr erkennt Blanc scharfsinnig, dass alle von Blancs Gunst abhängig sind. Die aufreizende Diva Birdie soll für Bron die Verantwortung für einen Sweatshop übernehmen, in dem Billiglöhner ausgebeutet werden. Der Macho Duke Cody (Dave Bautista), der als Influencer für Männerrechte sein Geld verdient und selbst im Pool seine Pistole im Hosenbund trägt, will mit seinem Twitch-Channel vom Gastgeber gepusht werden. Und die nicht sonderlich erfolgreiche Politikerin Claire Debella (Kathryn Hahn) soll eine „Klear“-Kraftwerk genehmigen, von dem der Wissenschaftler Lionel Toussaint (Leslie Odom Jr) weiß, dass die noch nicht ausgereifte Technologie zu einer Katastrophe führen wird. Alle haben vor Gericht für Bron ausgesagt – eine ziemlich verlogene Bande also, die sich auf Brons Privatinsel getroffen hat.

Und mittendrin ist Benoit Blanc, der auch nicht eingeladen wurde, aber zur Verblüffung des Gastgebers eine fälschungssichere Einladungskarte vorweisen kann. Aber Bron wirft den Fremden nicht raus. Blanc, der zweite ungebetene Gast, ist völlig überwältigt, nun ein Wochenende in der Welt der Reichen und Möchtegern-Stars verbringen zu dürfen. Jedenfalls tut er so und versichert devot dem Gastgeber, dass es eine Ehre sei, dabei sein zu dürfen. Aber wobei eigentlich? Ein Essen unter Freunden ist es nicht. Miles Bron hat stattdessen für das gemeinsame Wochenende ein Spiel geplant, bei dem er umgebracht werden soll – und seine Freunde sollen den Mörder finden.

Charmante Witze und boshafte Andeutungen

„Glass Onion“ ist nach „Knives out – Mord ist Familiensache“ (2019) der zweite Film von Rian Johnson („Star Wars: Die letzten Jedi“, 2017) mit Daniel Craig als Superdetektiv Benoit Blanc. Der erste Film, der überdeutlich die Faszination Johnsons für die Krimis von Agatha Christie demonstrierte, erhielt immerhin eine Oscar-Nominierung für das Beste Drehbuch. Auch Johnsons neuer Film erinnert an das Thema vieler Krimis der britischen Autorin – ein Gruppe von Personen, mehr oder weniger abgeschnitten von der Außenwelt, wird durch Morde dezimiert und meistens muss der belgische Detektiv Hercule Poirot mit seinem übermenschlichen Scharfsinn die komplexen Schurkereien aufdecken.

In „Glass Onion“ spielt der Regisseur geschickt mit den tradierten Erzählmustern. Was den Film aber zu einem Vergnügen macht, ist die Raffinesse, mit der Rian Johnson die klassischen Elemente eines Whodunit-Krimis mit den moralischen Abgründen einer elitären Schickeria und den Absurditäten des digitalen Zeitalters abschmeckt.
So besitzt Miles Bron weder ein Telefon noch ein Smartphone. Er kommuniziert mit sichtlicher Freude am Analogen ausschließlich mit einem vorsintflutlichen Faxgerät. Edward Norton, von dem man in den letzten Jahren nicht viel gesehen hat, spielt den Milliardär nicht als Kauz, sondern als coolen Typen, der sich bei näherem Hinsehen als Mischung aus Elon Musk und Mark Zuckerberg entpuppt. Brons Philosophie ist einfach – und genau das macht sie verdächtig: er will Menschen um sich haben, die nicht etwa im kleinen Stil die Grenzen der Gesellschaft überschreiten, sondern das Potential besitzen, gleich das ganze „System“ zu sprengen. Disruptoren nennt er seine Gang. Menschen, die Unvergleichliches erreichen und für alle Ewigkeiten in den Geschichtsbüchen gefeiert werden. Und Norton spielt diese Figur mit so viel Charme, dass man am liebsten nicht wissen will, dass ein Größenwahnsinniger unterwegs ist.

Etwas kauziger ist Daniel Craig als Benoit Blanc. Mit einer Mütze nebst Troddel sitzt er in der Badewanne, die er  während der SARS-CoV-2-Pandemie nur selten verlassen hat. Corona hat ihn depressiv gemacht. Immerhin hat er seinen Laptop in die Badewanne mitgenommen und sehnt sich nach einem großen Fall. Craig spielt den Anti-Bond mit sichtlichem Vergnügen. Zunächst als tumben Tor, dann aber mit zunehmendem Furor, als ihm immer klarer wird, warum die Gäste von Miles Bron alle mindestens einen guten Grund haben, den Gastgeber umzubringen.
Die Balance zwischen Humor und Spannung stimmt in Johnsons Films. Alles wird subtil serviert und hat in der Regel mehr als nur eine Bedeutung. Mit leichter Hand werden einige absurde Pointen eingestreut, etwa wenn Ethan Hawke regelmäßig durchs Bild läuft und immer wieder „Ich bin gar nicht da!“ ruft. Überhaupt gibt es eine Reihe von Cameos im Film. Hugh Grant hat einen skurrilen Kurzauftritt, ohne dass man erfährt was zum Teufel er in Benoit Blancs Wohnung zu suchen hat. Covid-19 wird in die Schranken gewiesen, als die Gäste nach ihrem Eintreffen mit einer Schnellimpfung vollständig gegen das Virus immunisiert werden. Ein Flatscreen hängt an der Wand und zeigt, wie sich die von Bron gebuchte Serena Williams in einem Livestream darüber aufregt, dass keiner mit ihr trainieren will.
Eine heimliche Hauptrolle spielt Leonardo da Vincis „Mona Lisa“. Bron hat das echte Gemälde der französischen Regierung abgeluchst, die schließlich wegen Corona Geld braucht. Wann immer man der „Mona Lisa“ in die Augen schaut, so Miles Bron, sieht man etwas anderes. Er wird Recht behalten.
Der Höhepunkt der ersten Filmhälfte ist aber Benoit Blancs One-Man-Show als genialer Detektiv. Blanc analysiert vor allen Anwesenden wie um Rausch, aber lückenlos den von Miles Bron raffiniert geplanten Mord-Plot, und das, bevor das Spiel begonnen hat. Motiv, technische Durchführung, Verschleierungstaktik - Blanc lässt kein Detail aus. Er spoilert sich durch bis zur Auflösung, der Abend ist gelaufen und der Gastgeber ist sauer.

Die Verschwörung hinter der Verschwörung

Das hört sich nach gepflegtem Irrsinn an. Ist es auch. Rian Johnson hat nach „Knives out – Mord ist Familiensache“ noch eine Schippe draufgelegt. Pointierte Gags, bissige Dialoge – die komödiantischen Highlights spielen in einer anderen Liga als das, was man im TATORT sieht, wenn es mal lustig zugehen soll (Ausnahmen bestätigen die Regel!). Es stimmt alles und der Spaßfaktor ist hoch. „Glass Onion“ ist aber trotz des hohen Tempos und seiner schrägen Zutaten keine Screwball-Comedy geworden, sondern bleibt ein Krimi mit modern aufpepptem Agatha-Christie-Charme und einem nicht geringen Spannungspotential. Denn nach dem ersten Toten haben Brons Gäste ohnehin nur noch wenig zu lachen.

Für eine Wendung sorgt ein Flashback, und der zeigt, dass Benoit Blanc keineswegs so naiv und trottelig ist wie er in der ersten Hälfte des fast zweihalbstündigen Films zu sein scheint. Tatsächlich ist der Detektiv von einem Gast angeheuert worden, um den Schurken zu entlarven, der vor dem gemeinsamen Treffen eine Person aus dem Freundeskreis ermordet hat. Dass der oder die Tote trotzdem auf der Insel auftaucht, ist ein schräger Plot Twist, aber der Flashback zeigt, dass die Ereignisse zwar kompliziert, aber nicht unlogisch sind. Noch einmal werden Szenen wiederholt, aber der Zuschauer sieht nun alles aus einer völlig anderen Perspektive. Mehr Wissen, weniger Suspense: Harmlose Begebenheiten erhalten plötzliche eine tödliche Bedrohung. Dialoge, die sich nach Small Talk angehört haben, werden für den unbekannten Schurken zu einer existenzbedrohenden Gefahr. Es ist wie mit der „Mona Lisa“ – sieht man etwas aus einer anderen Perspektive, entdeckt man plötzlich etwas völlig Neues.

„Glass Onion“ hält bis zum Schluss sein hohes Tempo durch, auch wenn in der überdurchschnittlich unterhaltsamen Krimikomödie die Auflösung nicht überrascht. Ganz einfach, weil sie logisch ist. Aber nicht das „Wer“ in dem Whodunit-Spektakel ist entscheidend, sondern das „Wie“, mit dem das Rätsel gelöst wird. Und in der finalen Zerstörungsorgie spielt die „Mona Lisa“ keine Nebenrolle.

Noten: BigDoc = 2

Glass Onion: A Knives Out Mystery – Netflix, USA 2022 – Regie und Buch: Rian Johnson – Laufzeit: 240 Minuten – D.: Daniel Graig, Edward Norton, Janelle Monáe, Kathryn Hahn, Leslie Odom jr. – Jessica Henwick – Kate Hudson, Hugh Grant als Domestic Partner, Ethan Hawke als Efficent Man, Serena Williams als Serena Williams.