Donnerstag, 29. Dezember 2022

Die Serien 2022 – ein Best of ohne Gewähr

Glaubt man den VOD-Ratings von Goldmedia, dem Spezialisten für digitale Innovationen, dann kann es nur einen Sieger gegen: „Wednesday“ ist die Serie des Jahres. Im Dezember verbuchte die Serie bei den TOP TEN einen Quotenanteil von 35,6% - also mehr als Vierfache der Konkurrenz auf den Plätzen 2-10. Das ist ein Quoten-Tsunami.
Allerdings ist die Suche nach der besten Serie 2022 bestenfalls mit einem Blick in ein Schaufenster zu vergleichen, in dem nur ein kleiner Ausschnitt des Warenangebots zu sehen ist. Trotzdem möchte ich meine Lieblingsserien des vergangenen Jahres vorstellen. Es macht einfach Spaß…

Transparenz? Natürlich nicht!

Eine objektive empirisch-basierte Auswertung des Serienmarktes ist nicht möglich. Die Streaming-Anbieter sind dafür nicht auskunftsfreudig genug und behalten ihre Quoten lieber für sich - es sei denn, sie sind gigantisch gut. Und so bastelt sich jede Film- und Medienseite ihre eigenen Favoriten zusammen. Zum Beispiel, indem man die Leser befragt. Kein schlechter Ansatz. Natürlich könnte man auch die Filmkritiker befragen. Das ist mitunter interessant, dürfte aber kaum den Mainstream widerspiegeln. Und empirisch fundiert sind Experten-Urteile auch nicht.

Ganz und gar unmöglich ist eine annähernd objektive Bilanz des letzten Serien-Jahres auch deshalb, weil die ökonomischen Verschiebungen und die zunehmende Diversifizierung des Streaming-Marktes nicht aufzuhalten sind. Kaum hat sich Disney+ etabliert, kommt mit Paramount+ ein neuer Global Player daher, der die Karten neu mischen will. Um überhaupt einen Hauch von Überblick zu erhalten, müsste man mehr als ein halbes Dutzend Abos abschließen, um danach den Rest des Tages mit Binge Watching beschäftigt zu sein. Geht das? Nein!

Verbindliche Kriterien? Auch nicht!

Schauen wir uns trotz dieser misslichen Bedingungen mal an, was die publikumsorientierten Websites für Favoriten ermittelt haben. 
„Moviepilot“ präsentiert auf Platz 1 die 6. Staffel von „Better Call Saul“. Die populäre Seite „Filmstarts“ orientiert sich an der User-Wertung. Das Ergebnis: Platz 1: „Wednesday“ (4.0), 2. Platz: „Star Wars: Andor“ (4.0) und auf dem 3. Platz der Serienmörder Dahmer mit 3.9. „1899“ hat sich nicht in den Top Ten platzieren können.

Die „Wirtschaftswoche“ sieht „Squid Game“ auf Platz 1. „Vogue“ orientiert sich ebenfalls an den sogenannten Views und mit 1,7 Milliarden landet „Squid Game“ nicht nur auf Platz 1, sondern ist auch die erfolgreichste Serie aller Zeiten. Übrigens vor der 4. Staffel von „Stranger Things“ (1,4 Mrd.) und „Dahmer“ (856 Mio.). Ach ja, „Wednesday“ landet dort auf Platz 4 (752,52 Mio.), hatte aber nur wenig Zeit, um die Konkurrenz zu überholen.

Am interessantesten ist die gute alte „Tagesschau“. Denn die ist es sich schuldig, einen methodisch ausgeklügelten und damit wissenschaftsbasierten Ansatz zu verwenden. Wie das aussieht, hat Thorsten Henning-Thurau, ein Dozent für Marketing und Medien, definiert: „Wie viele neue Abonnenten gewinne ich mit dem neuen Inhalt? Und wie wirkt sich der neue Inhalt auf die Bindung der bestehenden Abonnenten aus?“
Das Ergebnis: trotz massive Aktienverluste gelang es NETFLIX, die meisten Produktionen in den Top Ten zu platzieren. Bis Ende November 2022 dominierte die vierte Staffel von "Stranger Things", dann kam „Wednesday“… und räumte auf!
Also ist NETFLIX immer noch der Branchenprimus. „Mit "Reacher" und "Ringe der Macht" gab es lediglich zwei Prime-Video-Serien in den Top-20, mit "Rot" schaffte es auch ein Animationsfilm von Disney+ auf der Liste“, so die Tagesschau.

Meine Best of

Platz 1: „Ozark“

Ein Meilenstein der Seriengeschichte. Die Serie (Netflix, 2017-2022) trat erfolgreich die Nachfolge von „Breaking Bad“ an und glänzte mit einem stringenten Plot, guten Darstellern und einem glaubwürdigen Ende. Der Rezensent, der die Serie bislang nicht gesehen hatte, kam mit der Veröffentlichung der letzten Staffel in den Genuss eines ausgedehnten Serien-Marathons und sah eine Geschichte, die von der ersten bis zur letzten Episode ihr Niveau hielt und immer wieder überraschte. Die Geschichte des Finanzgenies Marty Byrde (Jason Bateman) und seiner Familie brachte dem Zuschauer die Kniffe der Geldwäsche näher und zeigte, dass man moralisch trotz bester Vorsätze vor die Hunde geht, wenn man für ein Drogenkartell die Einnahmen wäscht. Es gibt kein Entkommen. Note = 1.

Platz 2: „The Sandman“

Die Verfilmung der Graphic Novel von Neil Gaiman war besonders visuell ein echter Hingucker. Erzählt wurde die Geschichte von Morpheus, dem Gott der Träume, der sich sein Traumreich zurückerobern muss – und die Netflix-Serie brillierte mit Settings, die in der realen Welt einen Zeitraum von 100 Jahren umfassten. Die Geschichte war zwar komplex, aber immer nachvollziehbar, auch wenn sich alles zweimal anschauen musste, um die Finessen der ineinander verwobenen Plot-Elemente wirklich genussreich verstehen zu können. „Herausgekommen ist eine Graphic Novel, die auch nach Neil Gaimans Verständnis allein schon ästhetisch nur wenig mit DC-Comics und deren Verfilmungen zu tun hat. Stattdessen wird der Zuschauer in ein Traumreich entführt, das visuell zum Besten gehört, was man in diesem Serienjahr bislang zu sehen bekam“ schrieb ich. Und Tom Sturridge war als Morpheus für mich einer der beiden Serienstars des Jahres. Der andere landete auf Platz 3. Note = 1.

Platz 3: „Wednesday“

Wenn mal alt genug ist, um sich an den TV-Klassiker „The Addams Family“ (1964-1966) erinnern zu können, würdigt man den qualitativen Sprung, den Netflix vollbrachte, um so mehr. Die alte Serie sprengte als groteske Horror-Satire bereits die Grenzen des guten Geschmacks und wurde wohl auch deswegen rasch eine Kultserie. Die Addams sieht man in der Netflix-Serie nur am Rand, aber wenn Jenna Ortega als eiskaltes Töchterlein mit ihrem eiskalten Händchen auf Monsterjagd geht und dabei lernt, ihre nihilistische Lebensphilosophie für freundliche Gefühlen zu öffnen, dann zeigt „Wednesday“, dass der Hauptspaß der Hauptdarstellerin zu verdanken ist. Der Plot ist eher guter Durchschnitt, aber gut genug für die Note 1.

Platz 4: „The Handmaid’s Tale“, Staffel 4

Die Hulu-Serie machte sich rar. Erst durch Corona, dann durch den cleveren Schachzug der Telekom, eine der besten Serien der letzten 20 Jahre bei Magenta TV zu platzieren. Irgendwann landete sie bei Amazon Prime Video. So ist der Markt. Am ärgerlichsten war jedoch, dass die vierte Staffel urplötzlich nur noch als DVD auf den Markt kam. Ansonsten konnte man nicht erkennen, dass die Serie von Showrunner Bruce Miller auserzählt ist. Allerdings wurde in der 4. Staffel ein neues Kapital aufgeschlagen und Elisabeth Moss als June Osborne gelingt die Flucht nach Kanada, obwohl sie ihre Tochter immer noch nicht retten konnte. Nun lautet ihr Credo „Die Rache ist mein, sprach der Herr.“ June lässt in der noch härteren und blutiger gewordenen Geschichte dieser Ankündigung rasch Taten folgen. „Für June sind Wut und Hass der einzige Ausweg aus einer Trauma- und Schulderfahrung, auch weil dadurch die disparaten Teile einer zersplitterten Persönlichkeit zusammengefügt werden. Was sie wirklich dadurch gewonnen hat, ist aber noch nicht erzählt worden.“ Man wird in zwei weiteren Staffeln sehen, ob dies der wie immer exzellent spielenden Elisabeth Moss als geschändete Frau irgendwann gelingen wird. Note = 1,5.

Platz 5: „Star Trek: Discovery“, Staffel 4

Man kann sich endlos darüber zanken, ob die neuen Star Trek-Serien nun Kanon sind oder nicht. Ich habe großen Respekt vor den Trekkies, weil der kulturelle Einfluss der Serie seit TOS gar nicht hoch genug einzuschätzen ist. Viele Zuschauer verdanken ihren moralischen Kompass den unterschiedlichen Captains des Raumschiffs Enterprise. Und viele Episoden enthüllen erst nach Jahrzehnten, wie prophetisch ihre Themen waren. Man schaue sich nur vor dem Hintergrund des Ukraine-Kriegs die Folge „Nemesis“ aus der 4. Staffel von „Voyager“ an. Andererseits bleibt die Zeit nicht stehen und neue Serien sind besser als keine. Der Rezensent konnte allerdings mit der „Discovery“ (Amazon Prime) erst etwas anfangen, als die 4. Staffel zu den alten Tugenden zurückkehrte und vertikale mit horizontalen Episoden kombinierte. Das alte Star Trek-Feeling war wieder da und trotz einiger Abstriche reichte es für eine gute Note. Schade nur, dass das Franchise nun überwiegend bei Paramount+ zu sehen ist. Wie gesagt: zu viele Abos. Note: 1,5.

Platz 6: „Better Call Saul“, Staffel 6

Die AMC-Serie (2015-2022), die davon erzählte, wie aus Jimmy McGill (Bob Odenkirk) am Ende Saul Goodman wurde, glänzte besonders in den ersten drei Staffeln mit einem bahnbrechenden Charakterdrama. Das verzweifelte Ringen der Hauptfigur um Anerkennung und Respekt kollidierte immer wieder mit seinem Talent, als juristischer Quereinsteiger die Grenzen der Legalität zu überschreiten. „Denn grandios ist die Serie beim Character Profiling. Komödie und Tragödie sind fein ausbalanciert. Das Tragische erkennt man allerdings nicht auf Anhieb, es schleicht sich langsam ein, unterfüttert durch einen bitterbösen Witz“, schrieb ich über die dritte Staffel. Am meisten imponierte mir jedoch, wie die Showrunner Vince Gilligan und Peter Gould die Erzähltechniken aus „Breaking Bad“ mitsamt ihrer raffinierten Cold Open noch einmal verfeinerten. Note = 2.

Auf den weiteren Plätzen folgen: „The Expanse“ (
Note = 2), wobei die Fans hoffen, dass es ein Wunder gibt und damit eine 7. Staffel, und „Bosch: Legacy” (Note = 2), eine Krimiserie, die beständige Erzählqualität zum Markenzeichen machte. Auch The Crown" büßte in der 5. Staffel (Note = 2) kaum Qualität ein. Eine Erwähnung verdienen auch „Night Sky“ (Note = 2,5) und die Politserie „Borgen“ (Note = 2,5).

Definitiv durchs Raster gefallen sind „Die Ringe der Macht“
(Note = 3), das „Herr der Ringe“-Sequel im Seriengewand. Zu überfrachtet war trotz visueller Üppigkeit die erste Staffel, die zu viele Figuren in eine unübersichtliche Handlung stopfte. Allerdings besteht noch Hoffnung. Noch schlimmer war „House of the Dragons“ (Note = 4), das weder die phantastischen Settings von „Game of Thrones“ noch deren ausgeklügelte Erzählweise vorweisen konnte. Alles sah nach Daily Soap aus: viele triviale Dialoge, wenig Action. Das konnten auch die toll aussehenden Drachen nicht ändern.

Verabschieden mussten sich die Fans von „The Walking Dead“ und von „Westworld“. Die Zombie-Serie gehörte mit den Staffel 1-6 mit zum Besten, was man im TV sehen konnte. Der schleichende Niedergang war vermeidbar und der Abgang der Hauptdarsteller hatte vielleicht auch etwas mit diesem Qualitätsverlust zu tun. Und „Westworld“ schaffte es geradezu auf dramatische Weise, wie man ein serielles Meisterwerk systematisch ruinieren kann. Ein Trauerspiel.

Ich wünsche allen Lesern einen guten Rutsch und ein ereignisreiches Kino- und Serienjahr 2023!