Montag, 16. Januar 2023

Condor - gelungenes Serien-Remake eines Filmklassikers

Mit der u.a. von MGM und Paramount produzierten Serie „Condor“ schickte Amazon Video Anfang dieses Jahres einen Oldtimer ins Rennen. Produziert wurde das Remake des gleichnamigen Kinoklassikers „Three Days of the Condor“ von Sidney Pollack bereits 2017.
2018 ging „Condor“ dann an den Start, allerdings bei kleineren Networks. In Deutschland hatte zunächst MagentaTV die Lizenz zum Streamen. Wenn große Plattformen viel später zugreifen, gehen ambitionierte Serien gelegentlich unter. Im Falle von „Condor“ wäre das schade, denn die Serie ist aus vielen Gründen ein Juwel.

Eine mörderische „Firma“

Am Anfang sitzen sie in einer Bar und hängen ab: Joe Turner (Max Irons), der ewige Single, und sein Freund Sam Barber (Sam McCarthy), der zusammen mit seiner Frau Mae (Kristin Hager) die Vorzüge der Ehe preist: zuhause gibt es immer guten Sex. Nur bei Joe scheint privat nichts zu laufen. Prompt wird sein Handy von Mae gekapert, er kann nicht verhindern, dass sie für ihn bei Tinder ein Date bucht. Kathy Hale (Katherine Cunningham) heißt die Kandidatin, eine junge Anwältin. Nur wenig später wird sie zunächst gegen ihren Willen mit Joe nicht nur vor einem Killer-Duo fliehen, sondern auch vor dem FBI und der CIA. Joes Kollegen wurden massakriert, nachdem Terroristen in den USA einen Pest-Erreger freisetzen wollten. Joe wird als Massenmörder gejagt. Sam Barber ist wenig später tot. Und im Hintergrund zieht die Apokalypse auf.
Von ihrem entspannten Auftakt ist die Thriller-Serie „Condor“ bereits am Ende der ersten Folge meilenweit entfernt. Denn Sam Barber ist CIA-Agent und Joe Turner ist Analyst für das IEP, einer Abteilung der CIA, die kein Mensch kennt. Flashbacks zeigen in den weiteren Folgen immer wieder, dass Joe mit seinem Job hadert.
Joe geht es um Moral. Die erzkonservative CIA betreibt Machtpolitik. Und Sam, der sich als loyaler Patriot bezeichnet, zofft sich mit seinem Freund, der noch nie der CIA über den Weg traute, obwohl es sein Patenonkel Bob Partridge (William Hurt) war, der ihn für die „Firma“ rekrutierte. „Onkel Bob“ überzeugte Joe davon, dass in der Agency nur Mittelmäßige und Psychopathen das Sagen haben und die Intelligenten und Integreren den Laden von innen reformieren müssten.

„Condor“ war in Sidney Pollacks „Three Days of the Condor“ der Deckname von Joe Turner. Der entdeckte in seinen Analysen etwas, was er nicht endecken durfte. Ähnliches geschieht in der Serie. Die Vorgeschichte ist in der zehnteiligen Serie schnelle erzählt. Joe erfährt, dass ein Algorithmus, den er für die Anti-Terror-Abteilung programmierte, nicht wie vorgesehen im Nahen Osten eingesetzt wurde, sondern in den USA. Aber dort darf die nach dem Zweiten Weltkrieg gegründete CIA gar nicht operieren. Das Zielobjekt der Agency ist Ammar Nazari, ein arabisch-stämmiger Amerikaner, der mit 12%-iger Wahrscheinlichkeit ein Terrorist ist. Sagt jedenfalls Joes Algorithmus. Joe weiß, dass man Nazari liquidieren wird, um erst danach nachzuschauen, was er im Rucksack transportiert. Ein handfester Grund für eine Kündigung. Eigentlich.
Doch es kommt anders, Nazari wird erschossen und tatsächlich hatte er Yersinia pestis dabei, jenes Bakterium, dass die Pest verbreitet. Joe und seine IEP-Kollegen werden als Helden gefeiert. 
Kurz danach sind alle tot, liquidiert von zwei Killern. Nur Joe kann fliehen und er vermutet, dass seine Recherchen der Grund sind. Und ähnlich wie der von Robert Redford gespielte Analyst befürchtet er, dass es eine CIA innerhalb der CIA gibt. Dann findet er heraus, dass Investoren einige Milliarden US-Dollar in ein Unternehmen gepumpt haben, dass Ciprofloxacin herstellt – ein Medikament gegen die Pest. An einer Pandemie würde man global Unsummen verdienen. Und im ersten Drittel der Staffel sieht es tatsächlich so aus, als hätten die CIA, Big Pharma und der Strippenzieher und Multimillionär Gareth Lloyd (Jamie McShane) eine unheilige Allianz gebildet, um mit dem Tod von Millionen fette Kohle an Land zu ziehen. Doch ziemlich schnell wird klar, dass alles noch viel schlimmer ist.

Paranoia und Wahrheit

"There is no such thing as paranoia. Your worst fears can come true at any moment."
Die 6. Episode von „Condor“ zitiert den amerikanischen Journalisten Hunter S. Thompson im Main Title. Nicht ohne Grund. „Condor“ ist eine düstere Serie.

Entwickelt wurde sie von Todd Katzberg, Jason Smilovic (Showrunner) und Ken Robertson.
„Condor“ ist ein auf Serienformat umgeschriebenes Remake von „Three Days of the Condor“ von Sidney Pollack, ein Paranoia-Thriller nach dem Roman „Six Days of the Condor“ (1974) von James Grady. 
Robert Redford spielte 1975 den Analysten Joe Turner, Faye Dunaway war als Kathy Hale zu sehen. Der amerikanische Papst der Filmkritik, Roger Ebert, schrieb damals: "Three Days of the Condor is a well-made thriller, tense and involving, and the scary thing, in these months after Watergate, is that it's all too believable."
Dass Killer im Auftrag der CIA einen Massenmord begehen, schien Ebert also nach dem Einbruch einer vom US-Präsidenten Richard Nixon zusammengestellten Gang (ein Ex-CIA-Mann war tatsächlich mit von der Partie) plausibel zu sein. Das Ziel: Die Büros der Demokraten sollten verwanzt werden.
In Pollacks Film überlebt der Literaturspezialist Joe Turner als Einziger die Liquidierung von elf Kollegen. Er war zufällig einem Komplott der CIA auf die Spur gekommen war: dem Plan, mit einer Spezialoperation die Ölfelder im Nahen Osten unter amerikanische Kontrolle zu bringen. Danach wird er von dem Profikiller Joubert (Max von Sydow) gejagt.

Pollacks „Three Days of the Condor“ (Die drei Tage des Condor) war 1975 ein ikonischer Film, der für mich ein wichtiger Baustein der cinephilen Sozialisation wurde. Ein Jahr zuvor deckte die New York Times dank der Arbeit des Investigativ-Journalisten Seymour Hersh zahlreiche kriminelle Aktionen der Agency auf – die sogenannte „Family Jewels“-Affäre. Zu den „Kronjuwelen“ der CIA gehörte einiges. Unter anderem „Spezialoperationen“ (der aktuell von Putin verwendete Begriff ist tatsächlich eine Erfindung der CIA), die in den 1950er-Jahren nicht nur die iranische Regierung unter Mossadegh stürzten. Auch mit der Beseitigung unliebsamer Regierungen in einigen südamerikanischer Staaten wahrte CIA-Chef Allen Dulles wirtschaftliche Interessen der USA, etwa der United Fruit Company, in dessen Aufsichtsrat Dulles saß. Und mit dem Programm MKULTRA testete die CIA halluzinogene Drogen an Unschuldigen, um Methoden der Bewusstseinskontrolle zu entwickeln. Zusammen mit seinem Bruder John Foster, der ab 1953 US-Außenminister war, kontrollierte Allen Dulles die amerikanische Außenpolitik und war vermutlich auch der Vorbereitung des Vietnamkriegs beteiligt.
Das war bereits in den 1970er-Jahren gesichertes Wissen. Am Ende des Jahrhunderts bezeichneten ehemalige CIA-Chefs es als den größten Fehler der jungen CIA, hunderte von Nazis in die USA geholt zu haben, um im Kalten Krieg deren Geheimdienst-Expertise zu nutzen.

Ob auch „Watergate“, jene sehr real Politaffäre, die zum Sturz des US-Präsidenten Richard Nixon führte und zur Mutter aller Paranoia-Thriller wurde, dazugehörte, ist nicht endgültig geklärt worden. Aber wer damals links tickte, sah in den USA die Verkörperung des Imperialismus und in der CIA den Hort des absolut Bösen. Watergate wurde zum Synonym eines Machtmissbrauchs, zu dem die CIA dank ihrer Vergangenheit einfach perfekt passte. Und Pollacks Film lebte von der kalten Wahnhaftigkeit dieses Verdachts. Nicht nur der von Robert Redford gespielte Bücherwurm konnte keiner Person mehr trauen, auch beim Zuschauer machte sich ein Gefühl permanenter Paranoia breit. „Three Days of the Condor“ traf damit den Nerv der Zeit. Und das auf der Grundlage solider historischer Fakten.

Doch schon vor 1975 gab es paranoide politische Thriller. John Frankenheimers Gehirnwäsche-Thriller The Manchurian Candidate (USA 1962), Blow-up von Michelangelo Antonioni (GB 1966), aber auch Francis Ford Coppolas The Conversation (1974) gehörten dazu. Sie alle wurden zu Meilensteinen des Genres.
Das galt auch für Alan J. Pakulas Paranoia-Trilogie (Klute, 1971; The Parallax View, 1974). Pakulas All the President‘s Men entstand 1976 nach der Enthüllung der Watergate-Affäre und setzte dem investigativen Journalismus der „Washington Post“ ein Denkmal. Und Sydney Pollacks Spionage-Thriller Three Days of the Condor (1975) war das i-Tüpfelchen eines Genres, dessen Paranoia in späteren Filmen zu einem beliebigen und klischeehaften Tropus wurde. Achselzuckend sah man später Filme, in denen natürlich immer die US-Regierung hinter allem steckte, was böse und amoralisch ist. The X-Files machten daraus eine Erfolgsserie. Und QAnon und die Theorie vom Deep State wären ohne diese Filme und Serien nicht vorstellbar. Der Unterschied: die Verschwörungstheorien basierten nicht mehr auf Fakten.
Wer ausreichend erfolgreich durch Fake News manipuliert worden war und nun „Condor“ sieht und sich zudem ein wenig mit Kinogeschichte auskennt, darf also vermuten, dass in realiter nicht nur die CIA, sondern nun auch die Pharmaindustrie die Schurkenrollen zu Recht übernehmen. Auch während der Corona-Pandemie konnte man selbstverständlich nur Übles von diesen Akteuren erwarten. Das war dann echte Paranoia. Sie führte dazu, dass Fake News die Suche nach den Fakten ablösten und am Ende Tausende auf das Capitol zumarschierten, um die blutsaugenden und Kinder tötenden Eliten zu stürzen.

Die Dialektik innerhalb dieses Wahns ist komplizierter, als einem lieb sein kann. Die USA spaltete sich spätestens in den 1960er-Jahren in zwei Lager auf. Den Linken und Aufgeklärten ging es um die Durchsetzung von Menschenrechten, den Kampf gegen den Rassismus, alles begleitet von Anti-Establishment-Gefühlen. Man war für für die Beendigung des Vietnamkriegs, kämpfte später für Feminismus und dann für mehr Umweltschutz.
Den anderen ging es um eine Gegenreaktion. 
In „Condor“ erfährt ganz beiläufig, dass führende CIA-Mitarbeiter den Liberalismus verachten. Fiktion und Realität sind tatsächlich kaum noch zu trennen, denn draußen im Land setzten sich Evangelikale und religiöse Sekten durch, die den Klimawandel verleugneten und hartnäckig Wissenschaftsfeindlichkeit und die Rückkehr zu einem prä-modernen Fundamentalismus predigten. Beide Lager teilten eine gemeinsame Überzeugung: Der Glaube ist frei, und wahr ist, was man glaubt.

Glaubt man Kurt Andersen, dem Autor von „„Fantasyland – 500 Jahre Realitätsverlust: Die Geschichte Amerikas neu erzählt“, dann existiert neben dem militärisch-industriellen Komplex in den USA längst ein illusorisch-industrieller Komplex („fantasy-industrial complex“), der diese gesellschaftliche Spaltung im Show-Business, in Filme und TV-Serien, in Video-Spielen und Social Media abbildet, mal verstärkt, mal kritisiert und mäandernd die USA in ein Fantasyland verwandelt. „…sie gehören alle zu diesem zutiefst amerikanischen Willen, einfach das zu glauben, was das Gefühl für richtig hält. Dieses Verschwimmen von Realität und Fiktion gibt es auch anderswo, aber wir gehen darin völlig auf“, beschrieb Andersen den Zeitgeist.

Ich würde noch einen Schritt weiter gehen. Tatsächlich bedienen sich nicht nur Paranoia-Thriller, sondern auch andere Filme und TV-Serien, die sich mit der Zerrüttung des amerikanischen Traums beschäftigen, bei den irrationalen Techniken der modernen Verschwörungstheoretiker und erzählen ihre Geschichten extrem überspitzt und gelegentlich auch wahnhaft. Das ist eine ziemlich morbide Dialektik, denn diese Geschichten sind nicht nur erschreckend real, sondern auch denkbar, wenn man ihre historischen Bausteine betrachtet. Dann ist die Paranoia kein pathologisches Problem mehr, sondern self-fulfilling prophecy. Die populär-kulturellen Erzählungen spielen geschickt mit dieser Erkenntnis. „Condor“ gehört dazu.

Der Tod ist die Lösung aller Probleme

Paradoxerweise profitiert die Serie davon, dass man sie nun mit fast vierjähriger Verspätung zu sehen bekommt. Warum? Sie passt perfekt zu den Verwerfungen, die sich seit 2018 in den USA ereignet haben. Geschrieben haben die Drehbücher Executive Producer Todd Katzberg und Showrunner Jason Smilovic. Jede Episode wird ähnlich wie in „The Wire“ im Main Title sarkastisch kommentiert. In „The Wire“ geben die Protagonisten einen Kommentar ab, in „Condor“ werden Zitate und Aphorismen eingeblendet, die den Titel einer Episode definieren.

Die erste Folge heißt „What Loneliness“ und geht zurück auf den Aphorismus der als George Eliot bekannten Dichterin Mary Ann Adams: „What loneliness is more lonely than distrust?“ Eine rhetorische Frage, die man mit „Nichts macht einsamer als Misstrauen“ frei übersetzen kann. 
Und Episode 2 zitiert Joseph Stalins „Death is the solution to all problems. No man, no problem“ und macht daraus den Titel „The Solution to All Problems.” Eine Verkürzung von Sätzen, das lernen wir dabei, reduzierte die Komplexität. Sie verfälscht die Tatsachen. Und zwar auf eine Weise, die den Kern einer Aussage in ihr verharmlosendes Gegenteil verwandelt.

Das ist raffiniert, wäre aber nur ein Gimmick, wenn die Story nicht stimmen würde. Das tut sie, denn „Condor“ punktet nicht nur mit genretypischer Action (die gibt es auch, und nicht zu knapp), sondern auch mit exzellenten Darstellern, die sehr ambivalente Figuren verkörpern. Dass der von Max Irons gespielte Joe Turner ein Moralist ist, überrascht nicht. Flashbacks zeigen, dass er bereits als Zehnjähriger intelligent genug war, um moralische Paradoxien zu erkennen. Aber dass auch alle anderen wichtigen Figuren mit ausführlichen Flashbacks viviseziert werden, ist eine
psychologischer Perspektive, die spannende Figurenentwicklung ermöglicht. Die Qualität der Drehbücher ist extrem gut.

Getragen wird die Geschichte weniger von Max Irons, sondern vom im März 2022 im Alter von 72 Jahren verstorbenen William Hurt der den Leiter der Joint Terrorism Task Force spielt und Joes Patenonkel ist. Obwohl Partridge durch seine rachsüchtige Ex-Geliebte Marty Frost (Mira Sorvino) ersetzt wird, versucht er im Hintergrund weiter die Strippen zu ziehen. Hurt spielt mit Grandezza und Coolness einen Mann, dessen Pragmatismus sich jedoch nicht mit seinen moralischen Werten verbinden lassen. Auch nicht, als er erfährt, dass die Bio-Attacke mit einem Pesterreger eine „False Flag“-Aktion gewesen ist, an der die CIA beteiligt war. Zerrieben von der Loyalität zur Agency und der Verpflichtung zur Wahrheit, scheitert er am Ende bei dem Versuch, die für den Komplott verantwortlichen Strippenzieher zur Strecke zu bringen. William Hurt ist der heimliche Held der Serie.

Ohne Gott keine Entscheidungen

Zu den Schurken gehört Reuel Abbott, der Deputy Director der CIA. Showrunner Jason Smilovic legt früh die Karten auf den Tisch: Eine von Abbott geführte geheime Gruppe innerhalb der CIA plant die millionenfache Vernichtung der muslimischen Bevölkerung im Nahen Osten und der arabischen Welt. Die „Christen in Aktion“ (CIA!) wollen mit der Freisetzung des Pest-Bakteriums nicht nur den islamistischen Terror in die Knie zwingen. Ihr Holocaust soll unter der Führung der USA auch den Islam ausmerzen. Und während der globalen Pandemie soll über allen Städten in den USA ein Impfstoff versprüht werden, die gottgefällig sind: Make America great again.

Eine Whodunit-Geschichte ist „Condor“ also nicht. Bob Balaban spielt Reuel Abbott als tiefreligiösen Mann, der weinend für die Opfer der nicht enden wollenden Mordserie betet und davon überzeugt ist, dass Ethik nicht das Ergebnis einer vernunftbasierenden Rationalität ist, sondern der Wille Gottes. Und der offenbart sich nur im unbedingten Glauben. Dies rechtfertigt einen Heiligen Krieg gegen den Islam und die Planung eines globalen Holocaust. Balaban performt gruselig einen wahnhaften Mann, der gleichzeitig unbarmherzig und empathisch sein kann. Ein alter Mann, der nicht wie ein Monster aussieht, sondern wie der nette Opa von nebenan.

Die Rolle des Killers Joubert aus Pollacks Film übernimmt in „Condor“ eine Frau. Leem Lubany spielt sie als Gabrielle Joubert anders als Max von Sydow, der bei Pollack ein emotionsloser, aber intelligenter Handwerker des Todes ist. In „Condor“ ist aus dieser Figur eine Borderline-Persönlichkeit geworden, die mit ihrer Tätigkeit nicht nur Geld verdienen will, sondern auch ihre Lust befriedigt. Während ihr Killer-Kollege Deacon Mailer (Angel Bonanni) eine traumatische Backstory erhält, dringt „Condor“ in das Innenleben der psychopathischen Killerin nicht vor. Dafür darf
Leem Lubany wortwörtlich einige Textzeilen aus Pollacks Film aufsagen. Mit der Neu-Konfiguation der Rolle haben die Serienmacher ein Monster geschaffen, das ein wenig klischeehaft geraten ist und besser in einen 08-15-Horrorfilm passen würden.
Die anderen Schurken in „Condor“ sind dagegen biedermännische Brandstifter. Zu ihnen gehört Nathan Fowler, der für die Logistik des Komplotts zuständig ist. Ähnlich wie in Darren Aronofsky gefeiertem Film „The Whale“ (2022) kämpft die von Brendan Fraser als schwächlicher Loser gespielte Figur um Fremd- und Selbstakzeptanz. Ihre Stärke gewinnt sie allein aus der Zugehörigkeit zu einer Verschwörergruppe. Privat ist Fowler, wenn er nicht gerade den Tod anderer anordnet, ein rührend liebender Vater. Das waren auch einige KZ-Kommandanten nach Feierabend. Fraser spielt diesen Typus schauerlich gut.

Für die psychologische Screenings nimmt sich „Condor“ also sehr viel Zeit. Immer wieder werden Backstorys durch lange Flashbacks transparent gemacht. Nicht nur die Supporting Actors, sondern fast alle Nebenfiguren bekommen dadurch nicht nur mehr Screentime. Sie erhalten auch eine moralische Bedeutung. Die Witwen der Ermordeten, ihre traumatisierten Kinder – alles Kollateralschäden des systemischen Wahnsinns.

So gesehen ist „Condor“ nicht nur ein Agententhriller, sondern auch ein psychologisches Familiendrama. Es geht um klassische Themen wie Freundschaft, Liebe und Loyalität. Und um schweigsame Männer, die ihren Frauen nicht erklären, womit sie ihr Geld verdienen. Nur dass sich in der Serie nicht nur die Guten, sondern auch die Bösen an diesen Werten orientieren. Eine Kultur des Schweigens, eine Inszenierung von Doppelleben.
"People are trapped in history and history is trapped in them" liest man im Main Title der vierten Folge. Der Ausspruch stammt von James Baldwin und bringt alles präzise auf den Punkt.
Dies alles kann in einem Netzwerk nicht funktionieren, in dem professionell geschwiegen und gelogen wird. Es ist eine Form von sozialer Schizophrenie.
Die psychologische Differerenzierung des Erzählraums unterscheidet „Condor“ formal und inhaltlich von „Three Days of the Condor“, der durchgehend eine zynische Kälte verbreitete. In Pollacks Film konnte die Hauptfigur am Ende dem Auftragsmörder mehr trauen als allen anderen. In „Condor“ wird dies auch so sein.

Am Ende sind fast alle tot. Nur die Schurken kommen davon. Das klingt beinahe logisch, obwohl sich die Geschichte in den letzten Episoden gelegentlich verstrickt. So ist es nicht besonders plausibel, dass Turner die Auftragsmörderin Joubert nach einer handfesten Auseinandersetzung lebend zurücklässt. Hier ahnt der Zuschauer die dramaturgische Absicht:  einige Figuren werden in der zweiten Staffel auftauchen.
Gänzlich misslungen sind die letzten drei Minuten der finalen Episode, die alles zuvor Geschehene mit einem verkorksten Twist banalisieren.
Das ändert aber nicht das Urteil über eine äußerst sehenswerte Serie. Ob alles Irrsinn ist, was „Condor“ erzählt, muss nicht mehr geklärt werden, denn der
Irrsinn ist in den vier Jahren nach dem Serienstart noch evidenter geworden. Der Plot der Serie ist nämlich genauso durchgeknallt wie die historischen Fakten.
Wenn die Realität die fiktiven Dystopien überholt, darf  auch extrem überspitzt erzählt werden. 
„Condor“ tut dies mit einem feinfühligen Interesse für jene Figuren, die als Kollateralschaden auf der Strecke bleiben. Es sind nicht nur die Toten, sondern auch die Überlebenden, die Opfer des Horrors werden. Welcher Art dieser Horror ist, erfährt man, als der Strippenzieher des geplanten Genozids einem Mitstreiter mit trauriger Stimme erklärt, dass während des Mordens nicht seine Menschlichkeit vergessen dürfe. Denn alle die, die für eine gute Sache sterben müssen, seien schließlich Menschen und ihre Seelen würden viel zu früh abberufen. Eigentlich möchte man da kotzen. Aber das kommt dabei heraus, wenn Irre glauben, dass sie kerngesund sind.

Note: BigDoc = 1,5

Condor - Amazon Video - 10 Episoden - Nach dem Roman „Six Days of the Condor“ (1974) von James Grady - Showrunner: Jason Smilovic  - D.: Max Irons, Kristen Hager, Bob Balaban, Leem Lubany, William Hurt, Brendan Fraser, Katherine Cunningham, Mira Sorvino, Deacon Mailer, Angel Bonanni u.a.