Montag, 22. Mai 2023

Marvel ist am Ende

...if this is what Phase 5 looks like, God save us from Phases 6, 7 and 8", schrieb Owen Gleiberman in Variety. Gemeint war Ant-Man and the Wasp: Quantumania, jenes sinnfreie bonbonfarbene Spektakel, mit dem Disney dem Marvel-Film mit brutaler Gnadenlosigkeit alles austrieb, was gutes Unterhaltungskino ausmacht: Es war ein Exorzismus.
Mit Entsetzen mussten dann Kevin Feige und die Disney-CEOs zur Kenntnis nehmen, dass Quantumania nach einer passablen Startwoche abstürzte und die Einspielergebnisse mehr als halbierte. In Zahlen: 106 Mio. US-Dollar, dann 32 Mio. und in Woche 3 schließlich 12 Mio. Natürlich machte man immer noch genug Reibach (weltweit fast eine halbe Milliarde), aber das dritte Ant-Man-Abenteuer war ein Schuss vor den Bug. Marvel ist noch nicht am Ende, aber das Ende ist eingeläutet.

Für eingefleischte Marvel-Fans dürfte dies eine deprimierende Perspektive sein. Aber wer sich in den Foren umschaut, wird immer häufiger lesen können, warum die Fans murren. Seit Avengers: Endgame geht es bergab. So lautet der Tenort. Und dafür gibt es mehrere Gründe.

Das Storytelling

Man muss nicht ausufernd darüber schreiben. Es reicht eine Reise in die Vergangenheit. Und zwar in die „Infinity Saga“, die in den Phasen Eins bis Drei des Marvel Cinematic Universe erzählt wurde. 2011 kam unter der Regie von Kenneth Branagh Thor in die Kinos. Wenn man sich das heute anschaut, kommt blankes Entsetzen auf. Thor pulverisiert in Sachen Storytelling auch heute noch alles, was uns Disney und Marvel in Phase Vier präsentierten. Thor war und ist ein Film mit einer überzeugenden Balance zwischen Tragödie und Komödie, und das mit Figuren, die erwachsen sind und erwachsene Konflikte bewältigen müssen. Die Handlung findet nicht nur im fernen Asgard statt, sondern auch auf der Erde. Mit richtigen Menschen und ihren Problemen und mit einem Halbgott, dessen Geschichte angesichts von Themen wie „Aufstieg und Fall“ oder „Verrat und Loyalität“ sogar eine Prise Shakespeare enthielt. Für einen Blockbuster war dies richtig gut erzählt.

Wer sich danach Quantumania , den Auftakt von Phase 5 anschaut, sieht einen lauen Aufguss, einen Film, in dem die Figuren kaum mehr sind als beinahe überflüssige Gimmicks zwischen atemlosen Actionszenen ohne Bedeutung. Man sieht einen Film, der mit eiskaltem Kalkül Kinder adressiert oder Erwachsene mit Low Level-Ambitionen. Der Humor ist pure Behauptung und die dezent angedeutete Depressivität des neuen Schurken Kang ist bereits das Maximum an Tragödie, das Drehbuchautor Jeff Loveness dem Regisseur Payton Reed in seinem nunmehr dritten Ant-Man-Film gestattet.

Die Figuren

Wer sich genüsslich anschaut, wie sich in Marvel’s The Avengers (2012) die Superhelden und ein Milliardär im Metallanzug giftig beharken und sich an die Wäsche gehen, bevor so etwas wie Team-Building gelingt, muss nicht lange nachdenken: Chris Evans als Captain America, Robert Downey Jr. als Ironman und auch Scarlett Johansson als Black Widow sind ebenso wenig zu ersetzen wie Mark Ruffalo als Bruce Banner aka Hulk. Alle Avengers erlebten mehr als ein tragisches Momentum, und in The Return of the First Avenger musste sich Captain America sogar mit einem politischen Zeitgeist auseinandersetzen, den die Realität einige Jahre später sogar überholte.

„Aber jenseits aller politisch-historischen Allegorien ist die Fortsetzung der Geschichte Captain Americas eine rundum unterhaltsame und für eine Comic-Adaption erstaunlich differenzierte Portion Mainstream-Unterhaltung geworden. Während der erste Teil den amerikanischen Patriotismus so kalauernd auf die Schippe nahm, dass man ihn beinahe wieder ernst nehmen konnte, wirkt das Sequel mit seiner CGI-Abstinenz und seinen Old-School-Elementen irgendwie altmodisch und modern zugleich“, schrieb ich 2014. Alles Schnee von gestern.

Bigger than big

Man könnte es auch das Hybris-Problem nennen. Die Marvel-Geschichten werden immer irrwitziger. Chris Hemsworth musste als Thor eine amerikanische Kleinstadt vor dem „Destroyer“ retten. In der „Infinity“-Saga ging es bereits ums ganze Universum, das von Thanos beinahe zerstört wurde. Und in der neuen „Multiverse“-Saga reicht selbst dies nicht mehr – nun müssen unendlich viele Paralleluniversen von den Marvel-Superhelden gerettet werden. Und die laufen sogar als Dubletten auf. Verschiedene Versionen von Spider-Man oder Dr. Strange begegnen sich, als wäre dies ein genialer Erzähltrick. Und auch der neue Oberschurke Kang muss seine Identität mit zahllosen Doppelgestalten teilen.

Frage: was kommt danach? Offen gestanden: die Antwort ist leicht. Es kommt – nichts! Man hat den Erzählrahmen ausgeschöpft. Allerdings sind Disney und Marvel nicht die einzigen Anbieter, die mit absurden Widrigkeiten zu kämpfen haben. Probleme, die man selbst geschaffen hat. Auch das Star Trek-Franchise hat sich der Formel „Bigger than big“ verschrieben: alternative Zeitlinien, Parallel- und Spiegel-Universen und Sprünge in die Zukunft erzählen von kreativ überforderten Showrunnern und Autoren, die wiederkäuend Geschichten erzählen, die man bereits gesehen hat. Alles in der Hoffnung, dass die jüngere Zielgruppe hoffentlich die alten Filme und Serien nicht kennt.

Wenn man aktuell in den Medien erfährt, dass immer mehr Kinder hierzulande keine Lese- und Schreibkompetenzen mehr besitzen, gruselt es einen. Wenn man sich dann auch noch ausmalt, dass diese Kinder sich Quantumania anschauen und danach ernsthaft glauben, sie hätten etwas über die Quantenwelt erfahren, wird einem übel. Aber das ist der Preis der Hybris, die am Ende dazu führt, dass sich ein programmatischer Eskapismus beim Worldbuilding durchsetzt. Und der tritt eine wichtige Regel des Erzählens mit Füßen: der Rahmen einer Geschichte kann klein sein, wenn die Figuren großartig sind.

Stattdessen wird Ironie durch Persiflage ersetzt, das Allegorische durch Schwarz-Weiß ohne Grautöne. Die Naivität der Geschichten dagegen ist aber nicht fehlender Erzählkunst geschuldet, sondern das Ergebnis marktstrategischer Überlegungen. Etwa, wenn man glaubt, dass infantile Geschichten für Kinder mehr Umsatz generieren als Geschichten, die auch ein Erwachsener mit Interesse verfolgen kann. Und so wundert es keinen mehr, dass Regisseure wie Joss Whedon, Anthony und Joe Russo aus dem Marvel-Universum verschwanden – alles gestandene Filmemacher, die zum Teil auch die Skripts geschrieben hatten.

Übersättigung

In den Jahren 2008-2019 (Phase 1-3 des MCU) entstanden 23 Filme. Phase 4 (2020-2022) hat trotz Corona 7 Filme rausgehauen, hinzukommen acht Serien und etliche TV-Specials. Das hat natürlich den Fundus des Disney+-Channels breit aufgestellt. Aber das Überangebot führte nicht dazu, dass man sich aussucht, was einen interessiert. Vielmehr wurde die Crossmedia-Strategie so exzessiv vorangetrieben, dass man bestimmte Entwicklungen einer Figur nur dann nachvollziehen konnte, wenn man die entsprechende Marvel-Serie konsumiert hatte. Sowas nennt man Bindungskraft. Andere nennen es Tortur.

Ähnlich übersättigte auch AMC den Markt. Als „The Walking Dead“ bereits auf dem absteigenden Ast war, wurde mit Spin-offs der Zombie-Saga ein Markt penetriert, der bereits gesättigt war. Ähnlich riskant war auch die Strategie von CBS und Paramount+, die zeitgleich mehrere Star Trek-Serien um die Zuschauergunst buhlen ließen. Aber „Mehr“ ist nicht „Besser“. Und wenn man im harten Verdrängungskampf nicht nur die Networks, sondern viel häufiger die Streaming-Anbieter breit beliefern will und muss, dann ist es keine Überraschung, wenn der Markt und letztlich auch der Konsument übersättigt werden.

Was dabei rauskommt, ist paradox. An sich müsste man erwarten, dass der Fight um Quoten und Marktanteile für mehr Qualität sorgt. Aber stattdessen glauben die Verantwortlichen, dass man mehr Reichweite durch eine hemmungslos Versimplifizierung erreicht. Mehr CGI und gleichzeitig weniger Erzählkunst. Mal abgesehen davon, dass dadurch erkennbar wird, was für ein zynisches Menschenbild die Anwender entwickelt haben, geht der Schuss immer öfter nach hinten los. Auch beim CGI. Erkennbar wurde dies im Falle von Quantumania durch den anonymen Protest einiger Mitarbeiter bei Spezialeffektfirmen, die sich darüber beklagten, dass das meiste Geld in Black Panther: Wakanda Forever geflossen sei, während Marvel Quantumania so nachlässig zusammenschusterte, dass die Effekte schlecht waren und Nachdrehs und Kürzungen notwendig wurden, um die Logiklöcher zu stopfen.

Fazit

Alles strebt dem Ende zu. Auch Serien und Kinouniversen unterliegen einem Verfallsdatum. Weder „Der Herr der Ringe“ noch „Game of Thrones“ lassen sich nach Belieben weitererzählen. „Westworld“ wurde mit Anlauf vor die Wand gefahren, weil die Macher der Hybris verfielen und nicht den Mut hatten, nach der ersten Staffel aufzuhören. Einige Geschichten sind einmalig – und je besser sie waren, desto wahrscheinlicher ist, dass die Macher kreativ an die Grenzen kommen, wenn sie einen Geniestreich ernsthaft toppen wollen.

Wenn sich in einigen Jahren herausstellen sollte, dass die „Multiverse Saga“ grandios gefloppt ist, wird es für Marvel schwierig, aus einem ähnlichen Kreativloch herauszukommen. Man hat sich in diesem Fall schlicht und einfach verzockt.

Reparieren lässt sich das kaum. Das Worldbuilding ist dann nämlich so komplex geworden, dass man beim Storytelling nicht einfach alles canceln kann, was die Figuren mittlerweile erlebt haben. Oder man fährt alles runter und beginnt bei null. Am besten mit der Geschichte eines jungen Burschen, der von einer Spinne gebissen wird.