Samstag, 20. Mai 2023

„Air“ - Kein Biopic über Basketballstar Michael Jordan

„Air“ (dts. „Air: Der große Wurf“) ist Ben Afflecks sechste Regiearbeit. Das Drehbuch schrieb er zusammen mit Matt Damon, es ist das das dritte Skript, dass Affleck und Damon gemeinsam verfasst haben.
Die Geschichte ist auf den ersten Blick recht simpel: sie erzählt vom wohl bedeutendsten Coup des Sportkonzerns NIKE. „Nike“ – so heißt auch die Siegesgöttin in der griechischen Mythologie. Doch gelegentlich steht man sich beim Siegen selbst im Weg. „Air“ erzählt die Geschichte eines Unternehmens, das um ein Haar seine inneren Blockaden nicht überwunden hätte. Im Mittelpunkt steht Sonny Vaccaro, der Markenchef von NIKE, der mit aller Kraft für eine neue Idee kämpft und in einem trägen Unternehmen zunächst vor die Wand läuft. Siegen ist halt nicht einfach.

Die Regeln des Kapitalismus

Mitte der 1980er-Jahre war NIKE ein Unternehmen unter vielen. Sein Erfolgshit: der Verkauf von Laufschuhen. Andere Marktsegmente wurden nur am Rande beachtet. Zum Beispiel Basketball. 1984 folgte der Sinneswandel: NIKE nahm Michael Jordan unter Vertrag. Jordan war zu diesem Zeitpunkt noch kein Superstar, sondern ein Rookie. Was dann folgte, schlug wie eine Bombe ein: Im ersten Jahr der Zusammenarbeit generierte NIKE 130 Millionen US-Dollar mit der Marke Air Jordan. Also das 500-fache der Summe, die Jordan im ersten Vertragsjahr kassierte. Wäre da nicht eine Kleinigkeit gewesen…

Insgesamt soll der Superstar des Basketballs dem Unternehmen etwa 2,6 Milliarden US-Dollar Umsatz eingebracht haben. „Air“ ist daher auch eine Geschichte über Investitionen, den Profit und die Verteilung der Gewinne. Also ein Film über die Regeln des Kapitalismus.

Weitermachen wie bislang oder All-In?

Sonny Vaccaro (Matt Damon) ist nicht glücklich. Als Executive für das Segment „Basketball“ soll er beim alljährigen Draft drei Talente aussuchen, die NIKE promoten will. Ein Draft ist eine besonders Form des Spielermarktes, der es Teams ermöglicht, Lizenzen für Nachwuchsspieler zu erwerben. Da NIKE in die ungeliebte Sparte nur eine Viertelmillion US-Dollar investieren will, ist Vaccaros Handlungsspielraum begrenzt: wie üblich werden es drei weitgehend unbekannte Spieler sein, mit denen man Promotion-Verträge abschließen wird. Doch dann sieht Vaccaro auf einer VHS-Cassette Michael Jordan – und er erkennt etwas, was andere offenbar nicht sehen können: Jordan ist die Zukunft des Basketballs. Vaccaro ist danach fest entschlossen, das komplette Budget seiner Abteilung in einen einzigen Spieler zu investieren. Doch damit stößt es bei NIKE-CEO Phil Knight (Ben Affleck) auf taube Ohren.

Ein spannungsarmer Film

„Air“ ist genau genommen ein langweiliger Film. Den kommenden Superstar Michael Jordan sieht man fast nie und wenn, dann zunächst nur in alten Originalaufnahmen. Auch später macht die Kamera einen großen Bogen um Jordan (Damian Young) und zeigt ihn meistens von hinten. Ein klassischer Sportfilm, in dem die Geschichte eines scheinbar chancenlosen Aufsteigers erzählt wird, ist „Air“ nicht. Der Sportler ist, so suggeriert es der Film, weniger wichtig als das Geld, das er mit seinem Können generiert. Eine riskante Entscheidung, denn was Jordan später über viele Dekaden in der NBA leistete, muss der Zuschauer selbst herausfinden. Es sei dend, er ist ein Basketball-Nerd.
Ein Period Drama ist „Air“ nur eingeschränkt. Man sieht zwar im Main Title reichlich ikonische Bilder aus den 1980er-Jahren und sowohl der von Paul Haslinger komponierte Score als auch der Soundtrack des Films (u.a. Tangerine Dream, Bruce Springsteen) lassen den Zeitgeist dieser Dekade etwas aufleben. Aber damit werden nur ältere Zuschauer etwas anfangen können.

Als Drama funktioniert der Film aber ordentlich. Matt Damon (der offenbar für den Film etliche Kilo Gewicht zugelegt hat) spielt den Brand Boss als besessenen Workaholic, der zu Not auch mal im Büro schläft, um buchstäblich am Ball zu bleiben. Mit Sport hat er nichts Hut und in der letzten Szene des Films will er dies endlich ändern, bricht aber einen Trainingslauf bereits nach 20 m erschöpft ab. Das hat ironische Qualität, aber ansonsten ist Sonny Vaccaro ein Pitbull, der seinen Job aufs Spiel setzt, damit NIKE endlich mal Basketball ernst nimmt. Vaccaros Strategie ist einfach: Nur wer risikobereit investiert, kann den großen Reibach machen. Und er weiß: Wenn es nicht klappt, wird er gefeuert.

Männer im Büro: Gebremster Humor und wenig Spannung

Seinen Boss Phil Knight spielt Ben Affleck ebenfalls mit gebremstem Humor als CEO, der seine Innovationsphase offenbar hinter sich gelassen hat. NIKE ist deshalb ein Milliarden-Konzern geworden, weil die Leute laufen und sogar beim Gehen NIKE-Laufschuhe tragen, erklärt Knight selbstbewusst seinem Markenchef. Ansonsten konzentriert sich der Mitbegründer des Unternehmens auf Atemübungen und seinen lila Porsche.

Eine Klamotte mit schrägen Entscheidern ist „Air“ aber nicht, denn Affleck und Damon spielen sehr clever und streckenweise auch brillant. Zum Beispiel, als Matt Damon beim Meeting mit der Jordan-Familie eine hochemotionale Rede hält, die auch NIKE-CEO Phil Knight mitreißt. Hier ist „Air“ noch am ehesten ein klassischer Sportfilm, aber auch ein Lehrstück darüber, dass Marken durch Emotionen erfolgreich werden.

Auch die Nebenrollen sind großartig besetzt, u.a. mit Jason Bateman als introvertiertem Marketing-Leiter. Die Darsteller sind bereits das Beste an dem Film. Denn ansonsten sehen wir die Figuren in ihren Büros agieren, was nicht gerade aufregend ist. So verzichten die NIKE-Vertreter völlig darauf, irgendwann und endlich mal ein Basketball-Spiel live zu sehen, um etwas von der Aura Michael Jordans zu spüren.

Wenn überhaupt Spannung im Film aufkommt, dann liegt dies an zwei Faktoren. Zum einen mag Michael Jordan keine NIKE-Schuhe, hat erst recht kein Interesse an Gesprächen mit dem Unternehmen und will lieber mit ADIDAS oder dem Marktprädator CONVERSE abschließen. Zum anderen ist ein unerwarteter Spannungs-Input Viola Davis zu verdanken, die Jordans Mutter Deloris spielt. Und die hat erkennt, wie das Business funktionieren sollte: Sie will für ihren Sohn nicht nur ein jährliches Salär, sondern auch Prozente am Umsatz. Dies allerdings wäre eine Revolution, die das gesamte Sportbusiness erschüttern würde. Viola Davis (Oscar für „Fences“, 2016) spielt die listige und kenntnisreiche Frau mit einer fabelhaften Mischung aus Wärme, Distanz und beinharter Überzeugung. Dies alles unter einen Hut zu bekommen, ist eine außergewöhnliche Leistung. Und ist Viola Davis die heimliche Hauptfigur des Films.

Das Sonny Vaccaro am Ende triumphieren kann, liegt an einem Regelverstoß. Er sucht Michael Jordans Eltern auf und umgeht dessen Agenten David Falk (Chris Messina darf einen herrlichen obszönen Wutausbruch spielen). Vaccaros Gespräch mit Deloris wird für die Managerin des eigenen Sohns aber erst dann interessant, als der NIKE-Repräsentant ihr Insider-Tipps für die Vertragsverhandlungen mit CONVERSE und ADIDAS gibt. Sollte er Recht behalten, gibt es ein Meeting der Jordan-Familie mit NIKE. Wenn nicht, ist er nicht im Rennen. Und Vaccaro behält Recht. Der eigentliche Coup des NIKE-Teams ist aber die Entwicklung eines perfekten und exakt auf Jordans Bedürfnisse zugeschnittenen Basketball-Schuhs durch Creative Director Peter Moore (Matthew Maher). Der „Air Jordan“-Schuh wird zugleich Mythos und Welterfolg.

Kapitalismus-Kritik und gute Vorsätze

Wer genau hinschaut, erkennt in „Air“ eine beinahe unauffällige Kritik am kapitalistischen US-amerikanischen Sportbusiness, das in den 1980er-Jahren aufgrund einer Gewinnbeteiligung von einigen Prozente bereits kräftig durchgeschüttelt, aber keineswegs bedroht wurde. Dies war für Ben Affleck und Matt Damon eine Herzensangelegenheit, denn beide haben eine Independent-Filmproduktion gegründet (Artist Equity), die Schauspieler an den Umsätzen beteiligen will. „Air“ ist das erste Projekt von „Artist Equity“. Der Film spielte knapp 90 Mio. US-Dollar und wird nun vom Amazon Prime vermarktet. Zahlen über die Gewinnbeteiligung der Darsteller liegen (noch) nicht vor. 

„Air“ ist so gesehen vordergründig ein Imagefilm über NIKE, weil der Konzern mit dem Jordan-Deal das Business bahnbrechend veränderte. Allerdings wurde da eher die Not zur Tugend. Moralische oder ethische Ambitionen hatte NIKE eher nicht. Leider sind die verstreckten Intentionen von Ben Affleck und Matt Damon nicht leicht zu erkennen. US-Kritiker erkennen in „Air“ vor dem Hintergrund der Gründung von „Artist Equity“ daher einen Meta-Text: „But as a thinly-veiled reflection on the industry he’s looking to change, Affleck’s movie is meant to reach far beyond the boundaries of sports“, schrieb Matthew Monagle in “The Playlist”. Man wird sehen, wozu das führt. Wer sieht, wie sich der Sport und besonders der Fußball in eine globale Gelddruck-Maschine verwandeln, ist keineswegs zuversichtlich. Und ganz ehrlich: Bei einigen Fußballvereinen wäre ein Gewinnbeteiligung lächerlich. Wo nichts ist, kann auch nichts verteilt werden.

Note: BigDoc = 3


Air (Air – Der große Wurf) – USA 2023 – Distribution: Warner Bros., Amazon Studios – Regie: Ben Affleck – Drehbuch: Alex Convery – Kamera: Robert Richardson – D.: Matt Damon, Ben Affleck, Jason Bateman, Viola Davis, Matthew Maher, Chris Messina, Barbara Sokowa (als Käthe Dassler)