Sonntag, 24. September 2023

„A Million Miles Away“ (Griff nach den Sternen)

Dass Science-Fiction und Familiendrama zusammenpassen, zeigt zuletzt Alice Winocours „Proxima“ (Proxima – Die Astronautin, 2019). Erzählt wurde die Geschichte einer Astronautin, die ihre Tochter zurücklassen muss, um an einer einjährigen Mission auf der Internationalen Raumstation ISS teilzunehmen. Einfühlsam wurde erzählt, warum dieses Dilemma für weibliche Astronauten eine andere Qualität besitzt als für männliche.

Der bei Amazon Prime Video Mitte September an den Start gegangene Film „A Million Miles Away“ (Griff nach den Sternen) behandelt die familiären Probleme dagegen by the way. Alejandra Marquez Abella erzählt die reale Geschichte des Mexikaners José M. Hernández, der es als Kind von Wanderarbeitern schaffte, in das Raumfahrtprogramm der NASA aufgenommen zu werden. Ein Biopic mit Stärken und Schwächen.

Man hat keine Träume, wenn man keine Zukunft hat

Geschichten über Aufsteiger, die erfolgreich eine Außenseiterexistenz sowie ethnische und soziale Ausgrenzungen überwinden, gehören zu den erfolgreichsten Erzählstoffen des Kinos. Nicht nur Sportfilme leben vom individuellen Heldentum ihrer Protagonisten, die meistens unüberwindbare Hindernisse bewältigen, am Ende on the top sind und als perfektes Role Model des Erfolges die Botschaft vermitteln, dass man alles erreichen kann, wenn man sich nur ausreichend anstrengt. Das ist der American Dream und im Deutschen heißt dies: Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg.

Der entschiedene Wille, unbedingt Astronaut werden zu wollen, ist für den kleinen Mexikaner José ein Traum, der völlig irreal erscheint. Mitte der 1970er-Jahre tingeln seine Eltern als Wanderarbeiter von März und November durch Kalifornien und arbeiten auf den Felder. 7/24 ist für die Billiglöhner kein PR-Slogan, sondern die nackte Realität. Auch Kinder müssen arbeiten, denn das Geld muss reichen, um die Wintermonate in Mexico zu stemmen, bevor die neue Erntesaison beginnt. Für José bedeutet dies, dass er ständig die Schule wechseln muss. Bildung bleibt ein Fremdwort, Chancenlosigkeit ist vorprogrammiert. „Das ist deine Zukunft“, wird José bedauernd mit einem Blick auf die riesigen Felder erklärt, auf denen die Wanderarbeiter schuften. Man hat keine Träume, wenn man keine Zukunft hat.

Wenn man diesem determinierten Schicksal doch entkommen will, kann dies nur durch einen Zufall und die gnädige Hilfe anderer geschehen. José hat das Glück, dass er mathematisches Talent besitzt und eine Lehrerin, die den Eltern ins Gewissen redet. Miss Young (Michelle Krusiec) überredet die Familie Hernández, sich in Stockton niederzulassen, um José einen Schulabschluss zu ermöglichen. José nimmt seine Chance wahr. Für die Eltern und seine Verwandten, die ebenfalls bleiben, ist dies der Verlust der Heimat.

Charakterisiert wird „A Million Miles Away“ durch Diskretion

Erzählt wird diese Geschichte in dem Biopic „A Million Miles Away“ (Griff nach den Sternen). Regie führte die 43-jährige und zweifach preisgekrönte mexikanische Regisseurin Alejandra Marquez Abella, die zusammen mit Bettina Gilois und Hernán Jiménez auch das Drehbuch verfasste. Es basiert auf der Autobiographie „Reaching for the Stars“ von José M. Hernández, dem es als erster Mexikaner gelang, in das Raumfahrtprogramm der NASA aufgenommen zu werden. Und das, obwohl er elfmal abgelehnt wurde. Im August 2009 nahm Hernández dann an seinem ersten und letzten Raumflug teil – einer Mission, bei der Lebensmittel und Material zur Internationalen Raumstation (ISS) gebracht sollten. Hernández blieb zwei Wochen im Raum.

Charakterisiert wird Abellas Film durch Diskretion. Die politischen und sozialen Hintergründe der Geschichte werden lediglich kurz skizziert. So erfährt man nichts von den ungleich schlechteren und ausbeuterischen Bedingungen, die mexikanische Wanderarbeiter bis heute in Mexico erfahren müssen. Auch in den USA ist Arbeitsmigration weiterhin problematisch.   2023 wurde bekannt, dass sich Mexico und das US-Arbeitsministerium darum bemühen, über 13.000 mexikanischen Wanderarbeitern 6,5 Mio. US-Dollar unbezahlter Löhne zukommen zu lassen. Dass die Familie Hernández Jahrzehnte zuvor ebenfalls mit Lohndrückerei konfrontiert wurde, wird in Abellas Film nur diskret angedeutet.

Es ist aber bigott, einem Autor oder einem Regisseur vorzuwerfen, dass er die falsche Geschichte erzählt hat. Die erkennbare Zurückhaltung bei der Behandlung sozialökonomischer Details ist der Regisseurin Alejandra Marquez Abella daher nur bedingt anzulasten. Inhaltlich hätte man einen anderen Film machen müssen, um eine realistische und ungeschönte Widerspiegelung der unbequemen Wahrheit wie in John Fords „The Grapes of Wrath“ (Früchte des Zorns, 1940) auf die Leinwand zu bringen. Abella bleibt dagegen diskret und beseitigt das Problem, indem sie José Bildungsweg überspringt und die Geschichte von José M. Hernández nach seinem Master-Abschluss an der University of California weitererzählt. Hernández bekommt einen Job als Labor-Ingenieur im Lawrence Livermore National Laboratory (LLNL), einer US-amerikanischer Forschungseinrichtung, die sich im Klaten Krieg mit der Planung und Entwicklung von Kernwaffen beschäftigte.

Der Hauptteil des Films ist der Versuch, Josés Familienleben und seiner beruflichen Karriere ein dramatisches Potential abzuringen. Gespielt wird José M. Hernández von dem US-amerikanischen Schauspieler Michael Peña. Bekannt wurde Peña durch seine Rollen in „Crash“ (2004) und „World Trade Center“ (2006). Parallelen zu seiner Rolle in „A Million Miles Away“ ließ Michael Peña 2014 in seiner Rolle als César Chavez in „Cesar Chavez“ von Diego Luna ansatzweise erkennen. Der Film erzählte von dem Aktivisten César Chavez, der in den 1960er-Jahren zusammen mit der Gewerkschaft United Farm Workers (UFW) für bessere Arbeitsbedingungen der mexikanischen und philippinischen Landarbeiter kämpfte. Der Film wurde von den Kritikern kontrovers diskutiert. Später war der in der Branche vielbeschäftigte Peña u.a. in „The Martian“, „Ant-Man and the Wasp” und “Moonfall” zu sehen.

Michael Peña schultert den Film im Alleingang

Der Versuch, Josés Familienleben und seiner beruflichen Karriere ein dramatisches Potential abzuringen, gelingt nicht durchgehend. Der Film wirkt streckenweise sprunghaft und unentschlossen, wenn gleichzeitig erzählt wird, wie José M. Hernández eine Frau (Rosa Salazar als „Adela“) fürs Leben findet, dann eine Familie mit fünf Kindern ernähren muss, während die Verwirklichung seines großen Traum eher an den vergeblichen Kampf Don Quichotes gegen die Windmühlen erinnert.
Seine Stärken besitzt Alejandra Marquez Abellas Film, wenn von der solidarischen und liebenswerten mexikanischen Familienkultur erzählt wird. In diesen Sequenzen besitzt der Filme glaubwürdige emotionale Qualitäten, die zum Glück nicht klischee- und formelhaft sind.
„A Million Miles Away“ schwächelt dagegen, wenn (wieder mit erkennbarer Diskretion) angedeutet wird, dass das Personal der LLNL im Mexikaner Hernández zunächst nur einen neuen Hausmeister erkennt und seine Vorgesetzten ihn mit trivialen Aufgaben abspeisen. Erst als Hernández mit einem genialen Einfall viel Aufmerksamkeit bei seinen Vorgesetzten erregt, ist sein beruflicher Aufstieg gesichert. Auch hier legt der Film den Finger nicht zu tief in die Wunde.

Michael Peña spielt den zähen Träumer als etwas kauzig-unsicheren Mann, der weniger durch sein Auftreten und seine Rhetorik glänzt als vielmehr durch die unerbittliche Zähigkeit, mit der er lächelnd Diskriminierung, Arroganz und Vorurteile umschifft. Dabei arbeitet Hernández gewissenhaft den Codex seines Vaters Salvador (Julio Cesar Cedillo) ab, der alle Schritte zum Erfolg beschreibt und als Zwischentitel eingeblendet wird.

Leider gleitet der Film aufgrund der größeren Zeitsprünge dabei zu oft ins Episodische ab, um den Zeitraum zwischen 1987 und 2004 zu überbrücken, das Jahr in dem José M. Hernández endlich ins Astronautentraining des NASA aufgenommen wird. Dies gelingt ihm dank seiner Willensstärke, aber auch, weil er privat eine Ausbildung zum Piloten finanziert, Fremdsprachen lernt und an einem Tauchtraining teilnimmt. Das Astronautentraining kommt in dem Film etwas zu kurz, man hätte gerne gesehen, wie sich der nicht gerade sportlich und athletisch aussehenden Michael Peña in der harten Praxis schlägt. Aber auch hier ist „A Million Miles Away“ zu bruchstückhaft. Dies wird auch sichtbar, wenn die Rolle von Hernández‘ Ausbilder Frederick W. Sturkow (Garret Dillahunt, „Fear The Walking Dead“) keine emotionale Grundierung erfährt.

Unterm Strich ist „A Million Miles Away“ keineswegs ein Flop geworden. Dafür ist die Geschichte eines Aufsteigers, die auf realen Ereignissen basiert, zu interessant. Aber über weite Strecken umschifft Alejandra Marquez Abella dabei alles, was unangenehm und störend sein könnte. Es bleibt bei Andeutungen. Einige Figuren werden nicht weiterentwickelt und bleiben pure Staffage. Und auch die bekannten Probleme von Biopics, nämlich einen überzeugenden Erzählrhythmus bei der Zusammenfassung größerer Zeitabschnitte zu entwickeln, können nicht immer befriedigend gelöst werden. Dafür ist der Film zu holperig.

So muss Hauptdarsteller Michael Peña den Film im Alleingang schultern. Und als er endlich aus dem Shuttle auf den blauen Planeten schaut, will sich die mythische Kraft des Griffs nach den Sternen eomtional nicht so recht entfalten. Hernández imaginiert stattdessen den gleichen Schmetterling, der vor vielen Jahren auf dem Arm seines Vaters landete, als dieser den Entschluss fasste, sich endgültig in Kalifornien niederzulassen. Nun gut, vielleicht war es nicht die schlechteste Entscheidung auf Pathos zu verzichten. Immerhin ist die ISS nicht A Million Miles Away, sondern umkreist in 400 km Höhe die Erde.


Note: BigDoc = 3


A Million Miles Away (Griff nach den Sternen) – Amazon Studuios 2023 – Laufzeit: 121 Minuten - Regie: Alejandra Marquez Abella – Buch: Buch Bettine Gilois, Hernán Jimémez, Alejandra Marquez Abella – nach der Autobiographie „Reaching for the Stars“ von José M. Hernández – D.: Michael Peña, Garret Dillahunt, Rosa Salazar, Salvador Hernández, Michelle Krusiec