Montag, 23. Oktober 2023

Tatort: Murot und das Paradies - Gaga, aber fantastisch!

Eigentlich ist Felix Murot gut beieinander. Er ist körperlich gesund, steht vor seiner Pensionierung und dürfte sich allein deswegen schon auf eine Zeit freuen, in der er nicht mehr in der Pathologie auf Tote schauen muss, deren vorzeitiges Ableben er klären soll.

Tut er aber nicht. Stattdessen quält ihn eine verspätete Mid-Life-Krise. Der Kommissar des Hessischen Landeskriminalamtes (HLKA) ist auf der Suche nach dem Sinn des Lebens. Oder genauer gesagt: nach dem Glück. Antworten möchte er auf der Couch eines Analytikers finden. Aber dann kommt in seinem zwölften „Tatort“-Fall alles anders.

Leere Worte?

Wenn man Worte wie „Wahrheit“, „Freiheit“, „Sinn“ oder „Glück“ erklären soll, weiß man intuitiv, was diese Begriffe bedeuten. Erklären kann man sie dann doch nicht. Erst recht nicht im Sinne einer präzisen Analyse. Früher hätte man bei Schopenhauer nachgeschlagen (keine gute Idee), heute erledigen diesen Job Lifestyle-Philosophen, deren Bücher sich verkaufen wie geschnitten Brot.
Über den Sinn hat ein Philosoph, dessen Name mir leider entfallen ist, etwas Kluges geschrieben. Alle suchen nach Sinn, aber dies sei so vergeblich wie das Verlangen nach Obst. Denn Obst gibt es nicht. Es gibt aber Äpfel, Birnen und Aprikosen. Mit dem Sinn sei es nicht anders.

Dies ist durchaus ein Plädoyer für das Kleinteilige und das Konkrete. Aber man lernt auch, dass wir von Sammelbegriffen wie Obst oder Sinn etwas mythologisch Relevantes erwarten. Das geht meistens in die Hose und man landet wie Murot auf der unbequemen Couch eines Analytikers, der in „Murot und das Paradies“ sparsam, aber nachdrücklich gut von Martin Wuttke gespielt wird. Während Murot über seine depressive Stimmung palavert – man schleppt sich zur Arbeit, hat keinen Sex, dafür aber Mundgeruch und Rentenansprüche, holt ihn sein Handy in eben diese Realität zurück. Man hat eine Leiche gefunden – und die sei anders als alle, die man es je gesehen hat.

Die tote Frau, mit der sich Murot nun beschäftigen muss, ist völlig dehydriert. Ihr Bauchnabel wurde entfernt und durch einen vagina-ähnlichen Schnitt ersetzt, einen Port, der es technisch ermöglicht, eine neue Nabelschnur einzuführen.
„Mini-Möse, das ist doch völlig gaga!“, stellt Murots Assistentin Magda Wächter fest (herrlich gespielt von Barbara Philipp). Ist das die Rückkehr zu einer pränatalen Ernährung? Und warum ist die Tote dehydriert, obwohl sie, wie die Pathologin Dr. Dr. Kispert (Eva Mattes) triumphierend feststellt, während des Verdurstens in absolut trinkbarem Wasser gelegen haben muss?

Der zweite Tote ist ein Banker, der kurz vor Börsenschluss beinahe hysterisch eine Transaktion tätigt und danach hysterisch mit dem Handy einen Unbekannten anruft und flehentlich um einen Termin bittet – er habe schließlich geliefert. Kurz danach liegt auch er auf dem Tisch von Dr. Dr. Kispert. Allerdings nicht dehydriert, sondern erfroren.
Der nun folgende kriminalistische Teil ist nicht sonderlich spannend. Muss er auch nicht, denn die Tatort-Folge soll ja von Murots Suche nach dem Glück erzählen. Und so landet der Kommissar in einem makabren Nachtklub, in dem überwiegend geile Männer schreiend und johlend drauf warten, von der erotisch aufreizenden Tänzerin Ruby Kortus (Ioana Bugarin) ins Paradies geführt zu werden. Das verbirgt sich hinter einer Stahltür und Murot ist fest entschlossen - quasi undercover – das Geheimnis hinter der Tür zu lüften.

Höllentrip oder Erfüllung?

Die Tatort-Geschichten über den spleenigen Murot sind mittlerweile ein Markenkern der vom Hessischen Rundfunk produzierten Tatorte. Die Plots sind mit schöner Regelmäßigkeit grotesk, aberwitzig und voll mit schwarzem Humor, aber nie ist das Komische und Bizarre in diesen Episoden plump oder flach. Das spaltet folgerichtig die Tatort-Gemeinde, die mit staunender Hingabe oder blankem Hass reagiert. In einem Genre, das im Wesentlichen auf Stereotypie und damit unbedingter Regelhaftigkeit basiert, sind Murot-Krimis seit 2010 eine Provokation, weil sie zwar regelmäßig Genre-Vorbilder zitieren, dabei aber komplett auf den Kopf stellen. Dekonstruktivistische Krimis sozusagen.
Dabei wird garantiert immer originell erzählt und gegen den Mainstream-Humor gerudert, der hierzulande zu häufig auf platte Witze oder mutlose Betulichkeit setzt. Aber wenn Felix Murot einen seiner Fälle löst, ist er die verkörperte Anti-These zu all den deutschen Krimis, die nachweislich nur in der zweiten Liga spielen. Dafür gab es reichlich Preise, etwa 2011 die Goldene Kamera für Ulrich Tukur, 2015 den Grimme-Preis für „In Schmerz geboren“, eine Rachegeschichte à la Shakespeare im Gewand eines Italowestern. Mit 50 Leichen.

Für „Murot und das Paradies“ hat sich Regisseur und Drehbuchautor Florian Gallenberger („John Rabe“) etwas Besonderes einfallen lassen: Warum soll der depressiv genervten Hauptfigur nicht ihr Wunsch nach Sinn und Glück erfüllt werden? Und zwar total und ohne Abstriche! Und so landet Murot im Nachtklub nicht nur auf Rubys Bühne, wo er John Travolta nachäfft, sondern kurz danach in den unterirdischen und labyrinthischen Gewölben eines Unternehmens, das seine Klienten mit einer Hi-Tec-Kopfhaube in einen permanenten Glücksrausch versetzt. Dies sei keine Drogentechnik, erklärt Eva Lisinska (Brigitte Hobmeier), die charmante, aber leider auch tödliche Chefin des Paradieses. Vielmehr würden authentische Glückserfahrungen im Hirn der Kunden freigelegt, die so real sind wie ihre traurige Lebenswirklichkeit. Und Murot? Der lässt sich auf das Ganze ein!

Der Kommissar landet zunächst auf einer Bahre und wird verkabelt. Er verschwindet tagelang, taucht verkatert im Präsidium auf und kann den nächsten „Termin“ nicht abwarten. Wer glaubt, dass der Unglückliche auf clevere, aber hochriskante Weise seinen Fall auflösen will, wird enttäuscht. Der Kommissar ist in Nullkommanix völlig abhängig geworden ist. Im „Paradies“ findet danach eine Reise ins Ich statt, bei der man nie weiß, ob die Erfüllung seiner Wünsche nicht doch ein Höllentrip werden wird. Denn Murot hat nun auch eine Mini-Möse und liegt wie alle anderen tagelang in einer Badewanne, künstlich ernährt dank seines Ports.

Für den Höhepunkt dieses spektakulären Tatorts hat Florian Gallenberger alle Register gezogen. Murot meets Freud meets Stanley Kubrick meets Quentin Tarantino und am Ende spricht er mit Gott. Er hängt als Neugeborener an der Zitze seiner Mutter, schwebt wie in „2001“ im Weltall – natürlich musikalisch untermalt mit „An der schönen blauen Donau“ - und erschießt wie in „Inglourious Basterds“ ziemlich cool Adolf Hitler. Have Fun und rette die Welt! Auch Eva Lisinska, der weibliche Mephisto, weiß, dass Murot etwas Besonderes ist. Anders als ihre übrigen Kunden. „Sie leiden nicht an Ihrer Leere, sondern tatsächlich an der Welt.“
Der kriminalistische Plot ist zu diesem Zeitpunkt längst aus den Fugen geraten. Dass im „Paradies“ einflussreiche Kunden manipuliert werden und mit Transaktionen an der Börse etliche Millionen in die Geldschatulle von Eva und ihrer Partnerin spülen, die anschließend in bester Robin Hood-Manier unter den Bedürftigen der Welt verteilt werden, ist beinahe zu trivial für einen ungewöhnlichen Tatort, der seine Hauptfigur unendlich glücklich machen will. Eva hat einen anderen Plan. Tatsächlich soll Murot die Ermittlungen sabotieren. Am Ende muss auch er nach getaner Arbeit beseitigt werden und es ist wieder einmal Magda Wächter, die dem tödlich Glücklichen das Leben rettet. Und das ist tatsächlich Glück. Manchmal kann man vom Leben nicht mehr erwarten.

Was denn nun Sinn und Glück tatsächlich sind, konnte auch Gallenberger nicht hinreichend beantworten. Nach einem existentiellen Höllentrip, in dem Murot mehr von sich erfuhr, als ihm lieb sein konnte, hatte man ein blitzgescheites Finale erwartet. Das ging aber schief. In dem ausgesprochen sehenswerten Krimi waren Oscar-Preisträger Gallenberger und damit auch Murot am Ende überfordert: Pausenlos Glück, das sei die Hölle. „Wir brauchen das Unglück, um glücklich zu sein!“ Das ist Philosophie aus der Waschküche und taugt nicht mal als Kalenderspruch. Immerhin hielt Murots Analytiker seinen Patienten aufgrund dieser Erkenntnisse für geheilt: „Unsere Zeit ist um.“

Postskriptum: Natürlich hat dieser „Tatort“ wieder extreme Reaktionen ausgelöst. Hingabe und Hass. Einige Zuschauer kritisierten humorlos die fehlende ermittlungstechnische Logik, andere waren völlig überfordert und schrieben brüllend in Großbuchstaben „SCHWACHSINN“. Es sind wohl die gleichen, die ‚normale‘ Tatorte schon längst als Erziehungsfernsehen und politisch korrekte Belehrung abgehakt haben. Der schönste Beitrag traf den Nagel nicht auf den Kopf oder irgendwie dann doch: „Dieser Film ist einfach zu fantastisch (…) Da kann man nur abschalten.“

Note: BigDoc = 1,5

Tatort: Murot und das Paradies – Deutschland 2023 – ARD – Buch und Regie: Florian Gallenberger – Laufzeit: 89 Minuten – D.: Ulrich Tukor, Barbara Philipp, Brigitte Hobmeier, Ioana Bugarin, Martin Wuttke, Eva Mattes u.a.