Sonntag, 14. März 2010

Shutter Island

USA 2009 - Regie: Martin Scorsese - Darsteller: Leonardo DiCaprio, Mark Ruffalo, Ben Kingsley, Michelle Willi-ams, Emily Mortimer, Max von Sydow, Jackie Earle Haley, Patricia Clarkson, Jackie Earle Haley - FSK: ab 16 - Länge: 138 min.

Die ersten Bilder des Film: zwei Männer in einem schweren Unwetter, sie nähern sich mit einem Dampfer einer Insel, die monolithisch aus dem Meer ragt und nicht Gutes verspricht. Und damit man das, was man bereits mit dem ersten Blick sieht, auch emotional möglichst alternativfrei einordnen kann, hämmert ein staccato-ähnlicher schwerer Sound dem Zuschauer gleich in der ersten Minute die Bedeutungsschwere dieses Ortes in den Kopf.
Es ist Shutter Island, eine Irreninsel mitten im Ozean, ein Schuss Alcatraz und eine unübersehbare Hommage an die 50er Jahre, denn der Film spielt nicht nur 1954, sondern er sieht auch so aus, als wäre in diesem Jahrzehnt produziert worden. Wenn U.S.-Marshal Teddy Daniels (Leonardo DiCaprio) und sein neuer Partner Chuck Aule (Mark Ruffalo) die weitläufigen Korridore der Psychiatrischen Anstalt für kriminelle Geisteskranke betreten haben, wähnt man sich bild- und ausstattungsästhetisch in einer Mischung aus Noir-Filmen und klassischen Hammer-Filmen mit all ihren bombastischen und dick aufgetragenen Grusel- und Schockeffekten.
Daniels und Aule sollen auf Shutter Island klären, warum eine mehrfache Kindesmörderin aus einem abgeschlossenen Zimmer des eigentlich fluchtsicheren Ashecliffe Hospital entkommen konnte. Doch die beiden Marshalls scheinen nicht sonderlich willkommen zu sein. Ihre Ermittlungen werden immer wieder behindert, auch die Befragung von Patienten, die in einem unbewachten Moment bedeutungsschwangere Hinweise geben, deutet an, dass in der Anstalt mehr vorgeht als es den Anschein hat. Und je länger die Ermittlungen dauern, desto stärker scheint Teddy Daniels nicht nur von schrecklichen Flashbacks und rasenden Migräneanfällen gepeinigt zu werden, sondern auch von der morbiden Aura der schlossähnlichen Einrichtung mit ihren steinernen Fluren und gruftigen Kellergewölben, die teilweise sehr gekonnte Spannungsbögen entstehen lässt. Und die wiederum wirken so, als würde Scorsese Spaß daran haben, ungehemmt auf der Klaviatur der Gothic Novel mit all ihren belebten, labyrinthischen Schauerstätten zu spielen. Hier grüßen nicht nur Mary Shelly, sondern auch Edgar Allen Poe, Howard Phillps Lovecraft und Romantiker wie E.T.Hoffmann, die die Beschaffenheit der Außenwelt  immer nur als Widerspiegelung der Gemütsverfassung aufscheinen ließen.
Ein Horror-B-Movie mit lustvoll-verspielten Anleihen an die Gruselromantik? Nicht ganz, denn innerhalb der Anstalt vegetieren die gefährlichsten Geisteskranken der Vereinigten Staaten nicht in freuchten Verließen vor sich hin. Das Ashville Hospital ist, so erläutert Leitende Arzt Dr. Cawley (Ben Kingsley) den Besuchern, ein Ort des Aufbruchs - keine Elektroschocks, keine Neurochirurgie, sondern Neurolepktika und sanfte Gesprächstherapie. „Geistige Gesundheit ist kein Akt des Willens – man entscheidet sich nicht einfach dafür“, konstatiert Cawley (Ben Kingsley) verständnisvoll und dennoch lässt sich sein schwer auf Daniels lastender Blick unschwer interpretieren.

Schwer verdaulicher Genre-Mix
„Shutter Island“ ist besonders in der ersten halben Stunde ein schwer verdauliches Stück Kino, denn Martin Scorsese lässt kein Stilmittel aus, um ein entnervendes Horrorszenario zu entfalten, bei dem, um es deutlich beim Namen zu nennen, einfach alles zu dick aufgetragen wird. Als ob die düstere Atmosphäre der Anstalt nicht schon allein für ein schleichendes Grauen sorgen würde, müssen auch noch Blitz und Donner und ein permanent hämmernder Soundtrack die Gespräche der Handelnden metaphorisch aufladen. Das könnte man noch als Grand Guignol durchgehen lassen, aber der Plot wird zudem noch durch Flashbacks und Gesichte Daniels unterbrochen, in denen er den Schrecken seiner eigenen Vergangenheit begegnet. Der ohnehin schon schwer überladene Genre-Mix wird durch diese deutlich zu langen, mal surreal, mal realistisch inszenierten Erinnerungen und Fantasien der Hauptfigur nicht klarer, sondern immer undurchsichtiger. So gehörte Daniels nicht nur zu den Soldaten, die Dachau befreiten und in ihrer Wut als Erstes die SS-Wachmannschaft massakrierten, gleichzeitig peinigen ihn auch Erinnerungen an der Verlust seiner Familie, die einem Brand zum Opfer fiel. Langsam verfällt der Us-Marshall einem Gemisch aus selbstquälerischem Grübeln, paranoid anmutendem Enthüllungszwang und traumatischen Halluzinationen, in den schmalen Spalt zwischen real Erlebtem und Imaginiertem tröpfelt intrusiv das Verdrängte.Auch formal wird die Erzählung so stark untergraben, bis man nicht mehr weiß, ob man verzerrten Wahrnehmungen oder der Handlung beiwohnt.

Trotzdem traut man mit großen Zweifeln der Story doch noch eine Richtung, ein Thema zu. Und das hat es durchaus in sich. Unter den behandelnden Ärzten entdeckt Daniels den düsteren Dr. Naehring (Max von Sydow), in dem er einen ehemaligen KZ-Arzt wiederzuerkennen glaubt. Daniels überrascht seinen ungläubigen Partner mit der Feststellung, dass er die Anstalt auf Shutter Island schon lange im Visier habe, da das Ashecliffe Hospital nicht nur Gelder vom Ausschuss gegen unamerikanische Umtriebe erhält, sondern weil es handfeste Indizien zu geben scheint, die darauf hinweisen, dass die verbrecherischen Ärzte der Klinik im Auftrag der Geheimdienste verbotene Experimente mit Menschen anstellen. Werden im hermetisch abgeriegelten Block C im Autrag der Regierung ferngesteuerte Kampfroboter programmiert und was geschieht im weit abgelegenen geheimnisvollen Leuchtturm? Und schlimmer noch: deuten nicht alle Anzeichen daraufhin, dass Daniels methodisch mit psychotropen Drogen vergiftet wird, ein Komplott, der verhindern soll, dass die dunklen Geheimnisse der Klinik von ihm aufgedeckt werden?

Manchurian Candidate meets Shock Corridor
Martin Scorseses neuer Film ist eine Verfilmung des gleichnamigen Romans von Denis Lehane (Mystic River, Gone Baby Gone). Der Kern des Plots ist abgekupfert: bereits in Samuel Fullers Noir-Klassiker „Shock Corridor“ (1963) gerät ein Journalist, der sich in eine Irrenanstalt einweisen lässt, um heimlich die Hintergründe eines Mordes zu recherchieren, in den Strudel des Wahnsinns. Am Ende überwältigt ihn eine Psychose. Gehirnwäsche, McCarthyianismus und hysterische Kommunistenangst spielten in „The Manchurian Candidate“ (1963) von John Frankenheimer eine zentrale Rolle, wobei eigentlich nie ganz klar wurde, ob der Film die Paranoia der 50er kritisch konterkarierte oder die gezeigte wahnhafte Angst unterfütterte. Erst das Remake von Jonathan Demme gab dem Thema 2004 eine zeitnahe, politisch durchaus relevante Bedeutung und wirkte dabei kaum weniger verstörend als das Original.
Manipulation, Missbrauch und Neurochirurgie in der barbarischen Psychiatrie der 30er Jahre wurde zuletzt historisch sehr exakt in Clint Eastwoods „The Changeling“ (2008) in einen Thriller-Plot eingebaut, der weniger auf ein atmosphärisches Gruselgewitter, sondern mehr auf handfesten Realismus setzte.  
Den sucht man in "Shutter Island" vergeblich. Ähnlich wie in „Shock Korridor“ packen auch Lehane und Scorsese viel Allegorisches und Metaphorisches in die Handlung, wechseln dabei aber ständig Richtung und Thema. Und während Daniels immer mehr Grund zu der Annahme hat, dass man ihn auf die Insel gelockt hat, um ihn auszuschalten, springt der Film zwischen surrealem Selbsterkundungstrip und Paranoia-Thriller hin und her, wobei Letzterer genug authentischen Stoff böte, um einen scharfen Blick auf die Zustände der US-Psychiatrie in den Nachkriegsjahrzehnten zu werfen (dazu mehr in meiner Besprechung von „The Changeling“).
Doch dies wollen Lehane/Scorsese überhaupt nicht erzählen, das Thema wird nicht einfach nur aus den Augen verloren, obwohl weitere Enthüllungen diese Deutung immer plausibler erscheinen lassen, nein, es wird vielmehr benutzt, aufgebaut und zerstört, um die Kinoerfahrungen des Zuschauers (wie man am Ende erfährt)zu dekonstruieren. Mit zunehmender Enttäuschung muss man erkennen, dass alles sogar handwerklich verhunzt wirkt. Seltsame Schnitte und formale Erzählfehler (in einer Szene sieht man, wie eine Patientin Daniels heimlich eine schriftliche Notiz zukommen lässt, während einige Einstellungen früher deutlich gezeigt wurde, dass das Gespräch von einer mit einer Spritze ‚bewaffneten’ Krankenschwester beaufsichtigt wird) trüben das Vergnügen erheblich. 
Aber erst mit dem völlig misslungenen Finale kommt dem schreibenden Scorsese-Fan endgültig die Galle hoch, denn mit einem Schlag wird alles Gesehene vom Tisch gewischt. Der finale Plot-Twist zeigt dem Zuschauer, dass er buchstäblich im falschen Film war, dass alles, was er gesehen hat, so nicht geschehen ist. Alles war nur Fake, und so viel sei hier verraten, nicht nur Daniels konnte niemandem trauen, sondern auch der Zuschauer den Bildern nicht. Und wie ein Donnergott zeigt uns Martin Scorsese, dass er in hybrider Omnipotenz eine dröhnende Kinomaschine bedient hat: Sehr her, ich habe die Macht, euch zu betrügen.

Sorry, aber das ist nicht Scorseses Welt. Mit blutigem Ernst und völlig ironiefrei befördert "Shutter Island" den Zuschauer auf einen Rummelplatz der Eitelkeiten, in dem Sujets souverän manipuliert werden, um am Ende einen Trompe-l’œil zu servieren. Unterstellt man besonders den Sujets der Noir-Filme ein gewisses kritisches Potential, was gesellschaftliche Zustände und Zeitgeist betrifft, so bedient sich Scorsese dieser eigentlich noch nicht ganz auserzählten Kinotraditionen, um sie am Ende zu verraten und das Publikum mit einem billigen Trick zu erschrecken. Noch einmal Sorry, aber das konnten die Altmeister des Thrillers doch deutlich besser. „Shutter Island“ deutet zwar gelegentlich sein Spannungspotential an, ist am Ende aber nur eine Augentäuschung und (mal abgesehen von den tadelsfreien schauspielerischen Leistungen) der erste Film Scorceses, der völlig in die Hose gegangen ist.

Noten: BigDoc = 4