Mittwoch, 19. Januar 2011

My Son, My Son, What Have Ye Done

USA, Deutschland 2009, Laufzeit: 91 Minuten, Regie: Werner Herzog. Drehbuch: Herbert Golder, Werner Herzog. Darsteller: Willem Dafoe, Chloë Sevigny, Brad Dourif, Michael Shannon, Loretta Devine, Udo Kier, Michael Peña, Grace Zabriskie, Irma P. Hall, James C. Burns, Verne Troyer

Ein junger Mann ersticht seine dominante Mutter mit einem Säbel: basierend auf einer wahren Geschichte lässt sich Werner Herzog in „My Son, My Son, What Have Ye Done“ auf die ungewöhnliche Darstellung einer Psychose ein und verletzt wieder einmal die am Mainstream orientierten Sehgewohnheiten durch eine besondere Sensibilität, die selbst etwas ver-rückt zu sein scheint.

Detective Hank Havenhurst (Willem Dafoe) wird mit seinem Partner Vargas in einen Vorort von San Diego gerufen, um einen Mord aufzuklären. Der vermeintliche Täter hat sich in einem Nachbarhaus mit zwei Geiseln verschanzt und natürlich droht der Einsatz eines SWAT-Teams, das wenig zimperlich sein wird. Havenhurst nutzt die Zeit, um durch Gespräche mit Nachbarn, Freunden und Bekannten herauszufinden, was Brad McCullum bewogen haben mag, seine Mutter mit einem Säbel aus dem amerikanischen Unabhängigkeitskrieg umzubringen. Schon bald wird klar, dass sich Brad nach der Rückkehr von einer Rafting-Expedition in Peru, bei der seine Freunde ertrunken sind, auf seltsame Weise verändert hat. Und immer deutlicher wird, dass Brads fast obsessive Identifikation mit seiner Rolle in der Theatergruppe seines Freundes Lee Myers (Udo Kier) ein besonderer Katalysator ist: Brad spielt den Orestes in der Orestie des Aischylos, jenen tragischen Helden, der seine Mutter tötet, um einen Königsmord zu rächen.

Die Figuren starren uns an
Im Filmclub stieß Herzogs Erzählstil bei einigen Teilnehmern auf vehementen Widerstand. Weder wurde die Figur des immer fremdartiger werdenden Muttermörders im Sinne eines empathischen Einfühlens verstanden, noch konnte Herzogs sperriger Stil die ziemlich erbosten Kritiker überzeugen.
Offen gesagt ging es mir zunächst nicht anders: ich empfand bei den sehr abrupten Flashbacks, mit denen Herzog den psychischen Kollaps seiner Hauptfigur aufdröselt, und den nicht immer nachvollziehbaren Übergängen ein leichtes Unbehagen. Auch der typische Herzog-Touch der eckigen und etwas gestelzten Dialoge ist gewöhnungsbedürftig. Sicher ist auch nachzuvollziehen, dass einige Herzogsche Manierismen blankes Unverständnis bei dem einen oder anderen auslösen, etwa wenn die Darsteller zu einem Tableau erstarren und minutenlang aus der Kadrierung heraus den Zuschauer anstarren. Erst recht dann, wenn ein Zwerg in diesem Ensemble auftaucht. Warum ist der dort? Nur sollte man sich fragen, warum der Bruch der Perspektive so beunruhigt, ein Bruch, der vom auktorialen Erzähler zu einer extrem subjektiven Gegenperspektive führt. Beunruhigt der ‚Gegenschuss’ auf uns, den Zuschauer, der uns aus der Distanz in das Bild hineinholen will?

Portrait des seelischen Zerfalls
Nach einer Stunde wurde dann bei mir der Hebel umgelegt und auf sehr ungewöhnliche Weise erlebte ich ein Gefühl des nicht-begrifflichen Verstehens. So etwas kann sehr beunruhigend sein, wenn man gewöhnt ist, mit einer raschen sprachlichen Taxierung allem Fremdartigen einen Begriff und damit eine Erklärung zuzuordnen. Und plötzlich erkannte ich, dass die Bildmetaphern Herzogs und die verzweifelten Versuche seiner Hauptfigur, ein kollabierendes Netzwerk alter Bedeutungen durch neue zu ersetzen, vermutlich zunächst emotional greifbar gemacht werden müssen. Egal, ob der ver-rückte Brad in einem Gospel-Oldie die Stimme Gottes heraushört oder dessen Anlitz auf einer Haferflockendose erkennt, immer sieht man auch, wie sich sein zerfallender Verstand unter großen Anstrengungen um neue Bedeutungen und Ordnungsmuster bemüht, ja darum kämpft, während alles Vertraute im Chaos versinkt.
Psychologisches Kino ist das nicht und vermutlich muss man sich auch hüten, die Rolle der griechischen Tragödie in Herzogs Film überzubewerten. Griffige Erklärungen sind nicht Herzogs Sache.

Wir finden keine Bedeutungen, die Bedeutungen finden uns
Herzog hat in dem von David Lynch produzierten Film wieder eine Reihe skurriler Figuren versammelt. So spielt Brad Dourif als Uncle Ted einen durchgeknallten Straußenfarmer, während Grace Zabriskie („Wild at heart“) als beklemmend-einschnürende Mutter durchaus ihrem Rollentyp entspricht.
Nicht nur das verbindet ihn mit Lynch, sondern auch das Desinteresse an rationalen Erklärungen und vertrauten narrativen Mustern. Während Lynch („Blue Velvet“, „Wild at Heart“) in seinen Provokationen immer auch einer Ästhetik des Hässlichen frönt, geht es bei Werner Herzog bescheidener zu: ihm genügt schon der etwas andere Blick, der seine Figuren ver-rückt macht und uns aus der normalen Wahrnehmung herausrückt
Es gibt eine schöne Szene in „My Son, My Son“: Lee (Udo Kier passt wunderbar in dieses Ensemble) holt Brad am Flughafen von Calgary ab. Brad will sie Uraufführung der Orestie nicht verpassen, obwohl er schon vor einiger Zeit wegen seiner bizarren Auftritte und ständigen Störungen von Myers aus der Theatergruppe geworfen wurde. Im Flughafen entdeckt Brad ein Gebilde aus Röhren, dem man nicht ansieht, ob es nun eine architektonische Spielerei ist oder etwas Funktionales. Nur Brad erkennt in diesen ‚Zeittunneln’ den idealen Ort für die Aufführung, eine Idee, die von seinen Freunden als peinlich und lächerlich beiseite geschoben wird. Brads Verrücktheit erkennt die schöne Symbolik der Konstruktion, wonach die Röhren ein Verbindungsglied zwischen der über zwei Jahrtausende alten Tragödie des Aischylos und der Gegenwart sein können – wenn man sie so sehen kann. Psychiater nennen dies übrigens die ‚Klarheit des Psychotikers’.

Das alles hat bei Herzog wenig mit „A Beautiful Mind“ oder den Psychopathen des Genres-Kinos zu tun, sondern findet seinen Ausdruck in einer eigenen Sprache, die uns ein wenig die Sicherheit beim Hinschauen nimmt, zumindest aber den ‚normalen’ Blick auf die Dinge.  Immer dann, wenn man bei Herzog einen Schnitt erwartet, kann man sich darauf verlassen, dass eben dieser nicht erfolgt. Die Kamera schaut und schaut und hört nicht auf damit, auch wenn in einer dokumentarisch anmutenden Wochenmarktszene in einem asiatischen Land kein Bezug zur Handlung mehr erkennbar ist und die Gefilmten zurückstarren und uns anblicken.
Eins wird damit klar: Herzog sprengt unsere Sehgewohnheiten weg.
Vielleicht wäre es in diesem Zusammenhang ganz nützlich, sich daran zu erinnern, dass ‚filmisches Verstehen’ weißgott nicht immer ein Akt freier Ausdeutung ist, sondern durch die erlernte Grammatik des Kinos bestimmt wird. Und die haben wir im Laufe der Kino-Zeiten erworben und damit auch die Bevorzugung einer psychologisch motivierten objektiv-realistischen Perspektive, die uns vielleicht zu oft griffige Bedeutungen liefert.
Wir suchen immer nach ihnen, diesen Bedeutungen. Herzog untergräbt diese Perspektive und seine Figuren starren uns an.

Postscriptum: Auf Critic.de schreibt Robert Zimmermann sehr einfühlsam: „My Son My Son, What Have Ye Done liefert keine Erklärungen, das eigentümlich poetische Gesamtbild bleibt nur emotional begreiflich…“.

Noten: BigDoc = 2, Klawer = 2,5, Mr. Mendez = 4,5, Melonie = 4