Samstag, 21. Juli 2012

Halbjahres-Rückblick 2012


Das Ranking nach dem ersten Halbjahr ist natürlich deswegen spannend, weil in der zweiten Jahreshälfte noch einige Highlights auf den Kinofreund warten - sowohl im Kino als auch auf DVD / Bluray. Und am Ende des Jahres wird man dann sehen, welcher Hit der ersten Jahreshälfte auch in der Woche nach Weihnachten noch in den Top Twenty zu finden ist.

Hier also unsere Top Ten der Monate Januar – Juli (den halben Juli haben wir großzügig dazu genommen...).


Durchschlagenden Erfolg auf den letzten Metern hatte im Filmclub vor 14 Tagen das OSCAR-ausgezeichnete tragikomische Drama „The Help“ von Tate Taylor, das alle nachfolgenden Filme alt aussehen ließ. Die Note 1,5 dürfte schwer zu knacken sein.
Historische Filme über den Rassismus in den USA sind erfahrungsgemäß irgendwo zwischen  Zivilcourage à la Guter weißer Mann hilft unschuldigem schwarzen Mann (
WER DIE NACHTIGALL STÖRT (TO KILL A MOCKINGBIRD, Regie: Robert Mulligan, USA 1962) und hartem Realismus (MISSISSIPPI BURNING, Regie: Alan Parker, USA 1988) angesiedelt. Wenn man die Sicht der Schwarzen sehen wollte, hat man früher als Cinephiler die Filme von Spike Lee geschaut.
 
Tate Taylor, der in „The Help“ Regie führte, ist wiederum Weißer, aber wenigstens stammt er aus der Gegend, in der sein Film Anfang der 1960er spielt. Die Geschichte, die Taylor erzählt, basiert auf dem gleichnamigen Roman von Kathryn Stockett: zwei afroamerikanische Hausmädchen werden von einer jungen Journalistin dazu überredet, die komplexen Beziehungen zu ihren weißen Arbeitgeberinnen zu schildern. Als Eugenia „Skeeter“ Phelan (Emma Stone) dank ihrer schwarzen Freundinnen Abileen (Viola Davis) und Minny (Octavia Spencer, Golden Globe Award und OSCAR, jeweils als beste Nebendarstellerin) noch weitere Dienstmädchen interviewen kann, ist ein Buchprojekt reif und findet auch eine linksliberale Verlegerin. Natürlich ist das Buch, auch wegen einiger mehr als pikanter Details, ein Skandal.
Stilistisch ist Taylors Film mit seinen bunten Farben und der präzisen Darstellung des Lokalkolorits ein knalliges Portrait der 1960er Jahre. Der Südstaaten-Look mit seinen Heckflügel-Limousinen, den gewagten Frisuren der weißen Ladys und der allgegenwärtigen ‚netten’ Apartheid-Stimmung ist irgendwo zwischen „Grüne Tomaten“ und „Mad Men“ angesiedelt.
Den subtilen Zynismus und die ausgefeilt zeitkritische Reflexionskraft der TV-Serie erreicht „The Help“ aber nicht. Dazu ist der Film zu brav angelegt. Die weißen Frauen sind zu dämlich und zu dezent rassistisch, wenn sie während ihrer Kaffeekränzchen die nächste Hilfsaktion für arme hungernde Kinder in Afrika planen und ganz nebenbei von den armen schwarzen Hausmädchen Kaffee und Kekse serviert bekommen.
Hier wird keinem so richtig weh getan, auch nicht dem Zuschauer.

Aber „The Help“ hat einen unwiderstehlichen Humor, der sich zwar auch der ruhigen, fast melancholischen Off-Erzählerin Abileen verdankt, aber die alles überragende Octavia Spencer, die mit scharfzüngiger Intelligenz die Köchin Minny spielt, beherrscht den Film und hat sich mit dieser sehenswerten Performance wirklich einen OSCAR verdient.
„The Help“ ist ein gelungenes Rassismus-Drama zwischen Feel-Good-Movie und Melancholie. Die Bürgerrechtsbewegung dieser Jahre bleibt dezent im Hintergrund, nur einmal versammeln sich alle schwarzen Hausbediensteten vor dem Röhrenfernseher, als Martin Luther King spricht. Es ist vorsichtiges Herantasten an das, was sein könnte.
Gewalt gegen Schwarze streift der Film beiläufig, aber auch sie ist existent. Und zu den stillen Vorzügen des Films gehört auch die sozio-kuturelle Funktion der schwarzen Nannys, die ihre weißen Kinder mit viel Liebe aufziehen, wohl wissend, dass sie als Erwachsene möglicherweise ihre nächsten Peiniger werden können. So gewinnt „The Help“ am Ende doch ein erzählerisches Format, das aufgrund seiner undramatischen Menschlichkeit sehr viel Glaubwürdigkeit besitzt.

Die Nr. 2 wurde „War Horse“ (Gefährten) von Steven Spielberg. Der Film wurde in Blog rezensiert: http://bigdocsfilmclub.blogspot.de/2012/03/war-horse-gefahrten.html.
Dies gilt auch für die Nr. 3, nämlich „Hotel Lux“: http://bigdocsfilmclub.blogspot.de/2012/05/deutsche-komodien-hotel-lux.html. Und das waren schon die Filme mit einer Eins Komma am Anfang.

Nr. 4: „Contagion“ von Steven Soderbergh.
„Ich werde nie so viel über Filme wissen wie Martin Scorsese. Ich bin (...) frustriert, wenn ich Filme von Leuten sehe, die überhaupt nichts wissen und gesehen haben. Sie glauben, sie haben etwas ganz Neues erfunden, dabei ist es nur die schlechtere Variante von etwas, das es schon gibt.“

Wer glaubt, dass Pandemie-Thriller mit „Outbreak“ durchdekliniert worden sind, muss Soderberghs Version sehen. Der Film ist nüchtern und realistisch, außergewöhnlich gut recherchiert und informativ und sentimentale Klischees sind ihm fremd – damit sind aber auch alle Kriterien erfüllt, um ein Megaflop zu werden. Jedenfalls war dies in den USA der Fall. Dass der Film (meiner Meinung nach) sauspannend ist, hat ihm auch nicht geholfen.

Soderbergh fährt ein Riesenaufgebot an Stars auf: Matt Damon, Kate Winslet, Gwyneth Paltrow, Laurence Fishburne, Jude Law und auch einige Neben-Nebenrollen sind exzellent besetzt. Auch das hat nicht geholfen.
 Was zum Teufel noch einmal ist da schief gelaufen?
Zum einen erzählt Soderbergh seine Geschichte unsentimental. Minuziös wird gezeigt, welche Sicherheitsprotokolle aktiviert werden und mit welchen Konsequenzen wir zu rechnen haben, nachdem ein Virus auftaucht, der das Potential für eine weltweite Katastrophe besitzt. SARS lässt grüßen.
Und: Pathos gibt es bei Soderbergh nicht. Ein Star überlebt die ersten Filmminuten nicht, aber der Film zeigt dies völlig unsentimental. Ein anderer ist ein ratloser Vater (selten hat man Matt Damon so hilf- und sprachlos gesehen), dem nichts einfällt, außer sich und seine Tochter im eignen Haus wegzuschließen, was nicht einmal das Schlechteste ist, aber nicht unbedingt den Publikumserwartungen entspricht.
Die Spannung des Films erwächst also nicht aus melodramatischen Strickmustern und den in Katastrophenfilmen üblichen ‚Ein Mann rettet die Welt’-Trivialitäten, sondern daraus, dass trotz aller Professionalität der Seuchenbekämpfer der Kampf gegen das Virus eigentlich aussichtslos ist und nur gewonnen wird, weil ein arroganter Wissenschaftler die Vorschriften ignoriert.
Und ganz am Ende sieht man, welche Verrenkungen die Natur vornehmen muss, um eine Mutation aus Schweine- und Fledermausviren zu produzieren. Allein diese Pointe rechtfertigt bereits den ganzen Film, den ich wärmsten empfehlen kann und der im Filmclub ein großer Erfolg war.

"Ich habe mal mit einem Freund darüber gestritten, wann die große Zeit des amerikanischen Films zu Ende ging. Er meinte, dass „Rocky“ der Wendepunkt war. Und das stimmt. Es gibt einfach kein Universum, in dem dieser Typ gegen den schwarzen Champion im Schwergewicht in den Ring steigt und nicht die Haut von den Knochen gezogen bekommt. Als die Studios merkten, dass sie den Zuschauern diesen Humbug verkaufen konnten, brachen alle Dämme" (Steven Soderbergh über die aktuelle Kinosituation).

Nr. 5: „Warrior“ (2011) ist einer der besten Kampfsportfilme, die ich gesehen habe. Genau genommen geht es um Mixed-Martial-Arts, und dies ist nicht nur eine Art zu kämpfen, sondern auch ein kultureller Kosmos mit eigenen Gesetzen – und Outfits!
Gavin O’Connors Film war alles andere als ein Kassenerfolg und in Deutschland kam er erst gar nicht in die Kinos, obwohl er Nick Nolte eine OSCAR-Nominierung als bester Nebendarsteller einbrachte. Mittlerweile hat sich der Film auf dem DVD- und Bluray-Markt einen stabilen Ruf als Kultfilm erarbeitet. Und den verdient er auch, denn die Geschichte zweier ungleicher Brüder und ihres kaputten Vaters (Nolte) wird so straight erzählt, dass auch die heftigsten Emotionen von den noch heftigeren Eruptionen der Fights mühelos in den Schatten gestellt werden. Der Film ist schnell und genau, erreicht aber auch das Gemüt und bietet dann einen Showdown, wie man ihn lange nicht gesehen hat.
Joel Edgerton als Brendan Conlan hat nach „Warrior“ keinen Film mehr gemacht, während Tom Hardy als sein Bruder Tommy den innerlich Zerrissenen als so charismatisches Kraftpaket spielte, dass er danach u.a. für „Dame, König, As, Spion“ und „The Dark Knight Rises“ gecastet wurde. Grund genug, sich vor der Deutschland-Premiere von Nolans neuem Film noch einmal (oder zum ersten Mal) „Warrior“ anzuschauen.

Von den Filmen ab Platz 6 möchte ich nur noch einen erwähnen: „Confessions“ (2010) von Tetsuya Nakashima. Der Film ist hierzulande offenbar so unbekannt, dass er der deutschsprachigen Wikipedia nicht einmal eine kurze Erwähnung wert gewesen ist – schade! Dass der Film fast eine Nominierung für den Academy Award for Best Foreign Language Film geschafft hätte – geschenkt!
Interessieren sollte jenen Filmfreund, der im Übrigen vielleicht nicht so gerne asiatische Filme sieht, allerdings der Umstand, dass ihm möglicherweise ein kleines Meisterwerk entgeht, wenn er nicht bereit ist, eine Ausnahme zu machen. Das Risiko ist gering.

Nakashima, dessen Ausführungen im Bonusmaterial der DVD sehr hörenswert sind, erzählt die Geschichte einer Lehrerin, die ihrer Klasse nach einer von ihr langatmig und sorgfältig vorbereiteten Exposition das Geständnis vorträgt, dass sie die Milch von zwei Mitschülern mit HIV-Viren vergiftet hat. Und dass diese Schüler ihre kleine Tochter umgebracht haben.
Was sich nach einem der üblichen Schuldrama-Filmen anhört, ist sowohl formal wie auch inhaltlich nichts anderes als ein Clash of Civilizations. Und dieser findet zwischen der emotional völlig abgeklärten Lehrerin und ihrer tobenden Klasse genauso statt wie zwischen dem Film und seinen Zuschauern, denn ungeachtet der Tatsache, ob denn nun einer Japaner oder ein Deutscher "Confessions" Film  – es findet ein fürchterlicher und universeller Kampf um Moral, Rache und Schuld statt. Erzählt wird dies aus wechselnden Perspektiven, die  zentrale Figuren werden immer greifbarer und doch gleichzeitig fremd bis zum blanken Entsetzen, während Nakashima den Mord und die nicht weniger grauenhaften Folgetaten aus immer neuen Blickwinkeln betrachtet, ohne so etwas wie moralische Konsistenz zu gewinnen. Zu fremd sind sich Schüler und Lehrer, Adoleszenz und Erwachsensein geworden: Clash of Civilizations.
Stilistisch ist Tetsuya Nakashimas Film ein Meisterwerk: die raffinierte Montage aus schnellen Cuts, Flashbacks und Flash Forwards, Zeitlupen und kühlen Farben wirkt völlig unangestrengt und vermittelt nie das Gefühl des Artifiziellen. Das ist schon allein sehenswert.
Was noch hängen bleibt: Lehrer verstehen ihre Schüler nicht und haben zudem nicht den geringsten Schimmer von der Sub-Kultur, die vor ihren Augen existiert, aber nicht mehr dechiffriert werden kann und, das ist die Quintessenz: ehrlich gemeinter Idealismus ist unter gewissen Umständen nichts anderes als naiver Opportunismus.
Lehrer werden diesen Film entweder als Offenbarung oder als blanken Zynismus rezipieren und ihn beim zweiten oder dritten Mal vielleicht besser verstehen, denn die Kälte des Herzens hat eine Ursache, die so alt ist wie die Menschheit.
Mehr wird nicht verraten. Nur eins noch: „Confessions“ hätte durchaus Platz 1 in der Halbjahres-Bilanz verdient.

Quellen: „Wie erklärt sich eine Kinoflop, Mr Soderbergh?“ (FAZ 02.03.2012)