Dienstag, 3. September 2013

Searching for Sugar Man

Nachdem im Filmclub mit „More than Honey“ bereits ein Dokumentarfilm durch die Decke geschossen ist, erreichte Malik Bendjelloul außergewöhnliches Musik-Doku „Searching for Sugar Man“ ebenfalls Bestnoten. Die Geschichte des amerikanischen Musikers Sixto Rodriguez ist so ungewöhnlich, dass man fast neunzig Minuten lang glaubt, man habe es mit Mockumentary zu tun. Doch „Serching for Sugar Man“ ist keine Fake. Es ist die Geschichte eines außergewöhnlichen Musikers.

Stellen Sie sich einfach mal Folgendes vor: Sie haben vor 40 Jahren eine Schallplatte eingespielt, die so grausam floppte, dass Ihre Plattenfirma sie sofort rausgeschmissen hat. Und dass, obwohl Sie mindestens so gut wie Bob Dylan gewesen sind.  Weit entfernt, auf einem anderen Kontinent, bringt jemand eine von insgesamt zehn verkauften Platten als Geschenk mit. Ihre Musik wird gehört, tausendfach auf Tapes kopiert und plötzlich werden Sie zur Legende, zum Mythos. Eine ganze Generation liegt Ihnen zu Füßen – aber Sie wissen nichts davon! Natürlich sacken andere ihre Tantiemen ein, während Sie als Hilfsarbeiter auf dem Bau Ihre Familie ernähren müssen und man sich erzählt, dass Sie sich irgendwann vor Jahrzehnten während eines Konzerts auf offener Bühne erschossen haben. Unglaublich? Das ist die Geschichte von Sixto Rodriguez!

Der Mann, der ein unbekannter Star war

Dass Malik Bendjelloul für „Searching for Sugar Man“ in diesem Jahr den Oscar in der Kategorie „Bester Dokumentarfilm“ erhalten hat, ist das Mindeste, was dieser Film verdient hat. Mit einer Collage aus atemberaubenden Bildern, vielen eingespielten Stücken von Sixto Rodriguez und einigen verblüffenden Interviews hat der schwedische Dokumentarfilmer einen Film hingelegt, der von der ersten bis zur letzten Minute voller Überraschungen steckt. Recherchen und Vorarbeiten haben Jahre gedauert. Das hat einen Grund: „Searching for Sugar Man“ ist kein Musikvideo, kein Mix aus Konzertmitschnitten und Interviews, also kein konventioneller Film. Im Gegenteil: Wir haben es mit einem Musikkrimi zu tun, der minuziös die Suche der Südafrikaner Stephen „Sugar“ Segerman und Craig Bartholomew Strydom nach ihrem verschollenen Helden rekonstruiert.


Südafrika: Dies ist das Land, dessen Apartheid-Politik in den 1970er Jahren zu einer weltweiten Ächtung führte. Isoliert und zensiert wurde nicht nur die Kultur des Landes, sondern auch eine ganze Generation junger Menschen, die in der Musik des großen Unbekannten ein Ventil gefunden hatte, um das Bedürfnis nach Veränderung, Freiheit und einem Ende der rassistischen Diktatur auszudrücken. 

Aber eine Musikikone braucht mehr als eine Gitarre. Die Texte von Rodriguez, der eigentlich immer ein Straßenmusiker gewesen ist, waren von Anfang an politisch, und zwar im Sinne einer poetischen und gleichzeitig realistischen Zustandsbeschreibung des Lebens der einfachen Menschen – der Working Poor. In den USA wollte sie keiner hören, in Südafrika waren sie offenbar so gefährlich, dass das Regime den Titelsong seines ersten Albums auf jeder einzelnen Platte zerkratzte, damit ihn niemand hören durfte.

„Cold Fact“ und „Coming from Reality“ heißen die Alben, die Sixto Rodriguez eingespielt hat, und da singt er in „The Establishment Blues“ zum Beispiel so etwas:


The mayor hides the crime rate

council woman hesitates

Public gets irate but forget the vote date

Weatherman complaining, predicted sun, it's raining

Everyone's protesting, boyfriend keeps suggesting

you're not like all of the rest.



Garbage ain't collected, women ain't protected

Politicians using people, they've been abusing

The mafia's getting bigger, like pollution in the river

And you tell me that this is where it's at.



Woke up this morning with an ache in my head

Splashed on my clothes as I spilled out of bed

Opened the window to listen to the news

But all I heard was the Establishment's Blues.


Das richtige Leben im Falschen?

„The Establishment Blues“ ist so eine Zustandsbeschreibung der 1970er Jahre, die nicht nur zu Rodriguez’ Heimatstadt Detroit passte. Es ist die Kehrseite des American Way of Life und es ist Poesie.

1998 war dann die Suche der beiden südafrikanischen Fans zu Ende und für den Zuschauer, der die Backstory nicht vorher gegoogelt hat, kommt es zu einer würdigen kriminalistischen Auflösung: Sixto Rodriguez ist nicht tot, er lebt nach wie vor Detroit. Ein bescheidener, in sich gekehrter Mann, dem es nichts zu bedeuten schien, dass man ihn um Millionen betrogen hat. Mit 56 Jahren arbeitete er immer noch hart auf dem Bau. Aber im Jahre 2000 reiste Rodriguez nach Kapstadt und wurde während eines ausverkauften Konzerts frenetisch gefeiert. Weitere Konzerte folgten und das Geld, das der stille Musiker erhielt, hat er danach zum größten Teil verschenkt.

„Searching for Sugar Man“ ist ein faszinierendes Zeitdokument, ein formal aufwändiger Dokumentarfilm, der gelegentlich nicht frei von Pathos ist, aber am stärksten beeindruckt der Mann selbst. Er passt irgendwie nicht in die Konzepte vom richtigen Leben, von dem Adorno bekanntlich sagte, dass es ohne keine richtiges im falschen gäbe. Immerhin hat Rodriguez neue Songs geschrieben, eine CD soll erscheinen und im Mai dieses Jahres erhielt der Bauarbeiter mit einem Bachelor-Abschluss in Philosophie von der Wayne State University in Detroit einen Ehrendoktortitel.
Man hofft im Stillen, dass das Leben des mittlerweile 71-Jährigen nun weniger hart ist, aber sicher kann man sich nicht sein. Am Ende bleibt Sixto Rodriguez, der vielleicht besser war als Bob Dylan, doch ein Rätsel.

Searching for Sugar Man, Schweden, Großbritanien 2012, Länge: 86 Minuten, Regie und Drehbuch: Malik Bendjelloul, Musik: Sixto Rodriguez

Noten: Melonie, Klawer = 1, BigDoc, Mr. Mendez = 1,5