Donnerstag, 29. Juni 2017

The Girl With All The Gifts

Sie sind schnell und verwandeln sich wie in „28 Weeks Later“ innerhalb weniger Sekunden. Aber es ist nicht die Wut, die sie antreibt, sondern die Gier nach Fleisch. Die „Hungries“ überrennen die Welt und haben nur die nächste Mahlzeit im Sinn. Alles nicht neu? Das stimmt, aber „The Girl With All The Gifts“ fügt den Topics des Zombiefilm-Genres einige neue, intelligente Ideen hinzu.
 

Puristen werden einwenden, dass Colm McCarthys Verfilmung des gleichnamigen Romans von Mike Carey kein Film über Zombies ist, sondern über Menschen, die an einer Pilzinfektion erkranken und die Gesunden auffressen. Untote gibt es nicht in der britisch-amerikanischen Produktion, dafür greift „The Girl With All The Gifts“ alle bekannten Elemente einer post-apokalyptischen Erzählung auf, die wir aus bekannten Vorbildern wie „The Walking Dead“ kennen: den zivilisatorischen Kollaps, den verzweifelten und hoffnungslosen Kampf einer Gruppe von Überlebenden in einer Welt, die ihnen nicht mehr gehört und die Frage, ob es in so einer Welt überhaupt noch etwas Moralisches zu verhandeln gibt.


„The Girl With All The Gifts“ beginnt wie ein dystopischer Sci-Fi-Thriller. In einer Armeebasis leben schwerbewaffnete Soldaten, Wissenschaftler und eine Gruppe von Kindern zusammen. Die Stimmung ist gereizt, trotzdem gibt es Unterricht für die Kids. Nur sitzen diese fixiert und gefesselt in Rollstühlen, während eine angewiderte Lehrerin nach Details des Periodensystems fragt.
Schnell wird klar: Hier soll nichts gelernt werden, man will herausfinden, über welche kognitiven Fähigkeiten die Kinder verfügen.
 Zu ihnen gehört auch die intelligente und einfühlsame Melanie (Sennia Nanua mit einem starken Debüt), die wie alle anderen nur in ihrer Gefängniszelle die Fesseln ablegen darf. Schwer bewaffnete Soldaten bewachen die Kinder auf Schritt und Tritt. Melanie begegnet den täglichen Grobheiten mit ausgesuchter Höflichkeit, bis sie erfährt, dass sie auf dem Seziertisch der leitenden Wissenschaftlerin Caroline Caldwell (Glenn Close) landen soll. Die will aus den Gehirnen und dem Rückenmark der Kinder ein Serum gegen die Seuche entwickeln.

Tödliche Berührungen

Die grandiosen Klangteppiche des chilenischen Musiker Cristobal Tapia de Veer legen über den Prolog eine düstere und unheimliche Stimmung. Was in der hermetisch abgeriegelten Armeebasis geschieht, bleibt aber zunächst ein Geheimnis, das aber durch eine zarte Geste schließlich aufgelöst wird: die freundliche und einfühlsame Helen Justineau (Gemma Arterton) streichelt den Kopf der 10-jährigen Melanie, was beinahe einen Militäreinsatz auslöst.
Eine lebensgefährliche Handlung, denn die Kinder gehören der 2. Generation der Infizierte an. Sie beherbergen als Symbionten
einen mysteriösen Pilz, der durch Körperflüssigkeiten übertragen wird. Während die 1. Generation der Infizierten sich in hirnlose, reißende und primitive Bestien verwandelt hat, die „Hungries“, ist die 2. Generation offenbar außergewöhnlich intelligent. Allerdings haben sich die netten Kinder als Embryos aus den Körpern ihrer Mütter herausgefressen – keine akzeptable Geburtsgeschichte. Und einen gewaltigen Hunger haben die Kinder auch, wenn sie lebendiges Fleisch riechen. Berührungen können nicht nur tödlich sind, sondern auch den Appetit wecken. Dies spielt aber bald keine Rolle mehr, denn die Basis wird von der Hungries überrollt.
 

Dies überleben nur wenige, und die Geschichte der kleinen Gruppe, die in der zweiten Hälfte des Films in der verwüsteten Welt mit dem Kampf um ihr Leben beginnt, bewegt sich dabei in genre-typischen Mustern. Nicht typisch ist allerdings, dass auch Melanie zu dieser Gruppe gehört: meistens gefesselt und mit einer Gesichtsmaske. Hannibal Lecter lässt grüßen.
Der nicht übertrieben blutrünstige, aber doch sehr explizite Film ist dabei gelegentlich recht witzig. Etwa wenn Melanie auf einer Erkundungstour eine Katze verzehrt. Als sie später mit ihrer Lehrerin Helen vor einer riesigen Plakatwand steht, auf der eine süße Katze abgebildet ist, schaut sich das Mädchen unbewegt das Bild an. Als Helen fragt, ob Melanie sich eine Katze wünscht, antwortet diese: „Ich hatte schon eine.“


„The Girl With All The Gifts“ erinnert in der zweiten Hälfte mit einigen grandios gefilmten Szenarien an die panischen und weitgehend humorlosen Bilder von „28 Weeks Later“ und am Ende auch an den Science-Fiction-Roman des US-amerikanischen Schriftstellers Richard Matheson „I am Legend“ (1954), der 1964 als „Last Man on Earth“ mit Vincent Price in der Hauptrolle verfilmt wurde und als Vorlage für George A. Romeros „The Night of the Living Dead“ gesehen werden kann.

 

Mathesons „Last Man on Earth“ unterscheidet sich von den Zombiefilmen Romeros und auch mit Einschränkungen auch von dem später folgenden Remake „I am Legend“ mit Will Smith (2006). Vincent Price hat es als 'letzter Mann' mit Vampiren zu tun, die die Menschen als neue Spezies ablösen. Allerdings erinnert einiges in dem Film, besonders in ästhetischer Hinsicht, an Romeros Untote. Und für die 1960er-Jahre war Mathesons Film bereits ein Vorläufer der modernen post-apokalyptischen Filme, die mit Romeros Klassiker dann ihre Erfolgsgeschichte begannen.„Last Man on Earth“ besitzt aber auch eine erstaunliche Übereinstimmung mit „The Girl With All The Gifts“. Auch dort beginnt ein evolutionärer Prozess, den die Menschen als Seuche wahrnehmen, während die sich weiterentwickelnde Spezies der jungen Hungries eine andere Perspektive hat: sie nehmen die Menschen als Bedrohung und auch als nützliches Lebensmittel wahr. Diese Hungries sind auch noch sehr primitiv. Colm McCarthy zeigt sie in einer Schlüsselszene als sprachlose, aber organisierte enfants sauvages, also als „Wolfskinder“. Dagegenentwickelnd die in der Armeebasis aufgewachsenen Hungries ihre potentiell hohe Intelligenz sehr aufmerksam durch adaptives Lernen. Fragt sich nur, ob sie noch Menschen sind.

"Why should we die, so that you may live?"

Auch die 10-jährige Melanie ist intelligent und liebt besonders Helen Justineaus Erzählungen über die die griechische Mythologie, aber Colm McCarthys Film lässt keine Sentimentalitäten zu und zeigt sehr blutig, dass auch das Mädchen trotz ausgeprägter Gewissensbisse ihrer Natur gehorchen muss. Sie würde zweifellos auch ihre Lieblingslehrerin aufessen, wenn der Hunger sie überfällt. 
Der Trieb, der sie überwältigt, ist stärker als ihre Willenskraft. Vor einigen Jahrzehnten wäre dies ein gefundenes Fressen für die psycho-analytische Filmtheorie gewesen, aber mittlerweile beginnen Freudianische Filminterpretationen, die unterdrückte Sexualität in jedem Bild entdecken, doch etwas langweilig zu werden.

 

Viel interessanter sind in „The Girl With All The Gifts“ Helen Justineaus Erzählungen über die Büchse der Pandora, denen Melanie aufmerksam lauscht. In dieser Geschichte wollen sich die Götter an den Menschen rächen und Pandora erhält eine Büchse, die sie nicht öffnen darf. Natürlich tut sie es und alle Plagen befallen die menschliche  Welt. Ganz unten enthält die Büchse aber auch die Hoffnung.
Hier ist der Film recht tricky, denn der Zuschauer sollte in einem dystopischen Film weder der Hoffnungen noch den allegorischen Anspielungen zu sehr trauen, sondern sich das Gesicht Melanies anschauen, als sie hört, dass die olympischen Götter ihre Unheilsbotin Pandora mit Eigenschaften wie Schönheit, Geschicklichkeit und Neugier ausgestattet haben. Aber Melanie wird lernen, dass die Büchse nicht verschlossen bleiben darf, sondern um jeden Preis geöffnet werden muss.
 

Während sich die Gruppe um den pragmatischen Sgt. Eddie Parks (Paddy Considine), Helen Justineau und einigen Soldaten damit arrangieren müssen, dass Melanie sich im Überlebenskampf unentbehrlich macht und damit zu der kleiner Gruppe gehört, verändern sich auch langsam die Hierarchien bei den Survivors. Melanie bekommt immer mehr Freiheiten, während die an einer Sepsis tödlich erkrankte Dr. Caldwell immer noch hofft, aus ihr die Zutaten für ein Serum zu extrahieren.
Als die rasch dezimierte Gruppe ein mobiles und immer noch funktionierendes Labor findet, gelingt es Caldwell mit letzter Kraft Melanie davon zu überzeugen, dass sie ein Opfer zu Rettung der Menschheit bringen muss. Doch dann fragt das Mädchen Caldwell im letzten Moment, ob sie immer noch glaube, dass die jungen Hungries, die auf der Basis aufgewachsen sind, nur Wirtskörper sind, die menschliche Emotionen lediglich nachgeahmt haben. Caldwell denkt lange nach undverneint dies.
Das Schicksal der Menschheit ist damit besiegelt: "Why should we die, so that you may live?"
 

„The Girl With All The Gifts“ erzählt also, dass es doch noch etwas Moralisches zu verhandeln gibt. Dass dies nicht nur klischeefrei, sondern glaubwürdig erzählt wird, liegt auch an dem tollen Ensemble. Die mittlerweile 70-jährige Glenn Close spielt in unförmigen Militärklamotten mit viel Mut zur Hässlichkeit und ist alles andere als ein mad scientist. Bond-Girl Gemma Arterton balanciert die Beziehung zu ihrem kleinen Monster zwischen Angst und Zuneigung überzeugend aus, während die farbige Sennia Nanua (im Buch ist die Hauptfigur blond und weiß) als kleines, nettes und extrem gefährliches Monster eine echte Entdeckung ist. 

Was den Film dann in die Oberliga des Genres befördert, ist aber der suggestive Soundtrack von Cristobal Tapia de Veer, der bereits in der britischen Kultserie „Utopia“ für eine von der Kritik gefeierte emotionale Textur sorgte. Ohne de Veers sich langsam anschleichenden Score würde „The Girl With All The Gifts“ anders funktionieren.
In diesem sorgfältig abgestimmten Film zieht Mike Carey, der das Drehbuch für die Verfilmung seines Buches selbst geschrieben hat, am Ende zudem noch einen überraschenden Doppel-Twist aus dem Zylinder, der komplett überrascht und doch irgendwie konsequent ist. Ein cleverer Film, der kein Zombiefilm ist. 


Note: BigDoc = 2 


Musikalische Beispiele für die Arbeit von Cristobal Tapia de Veer gibt es auf CREATIVE REVIEW

The Girl With All The Gifts – GB, USA – Laufzeit: 112 Minuten – Regie: Colm McCarthy – Buch: Mike Carey – Nach dem gleichnamigen Buch von Mike Carey – Musik: Cristobal Tapia de Veer – FSK: ab 16 Jahren – D.: Sennia Nanua, Helen Justineau, Glenn Close, Paddy Considine