Mittwoch, 6. Dezember 2017

Attraction

Das russische Kino hat sich von seinem Niedergang nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion erholt. Die Zahl der Kinos hat zugenommen, der Marktanteil russischer Produktionen liegt bei 25%. Nun sollen aufwändige Blockbuster den internationalen Markt erobern. Fjodor Bondartschuks Sci-Fi-Film „Attraction“ erfindet bei diesem Versuch zwar das Rad nicht neu, überzeugt aber durch kraftvolle Bilder und eine besonders am Ende doch sehr originelle Geschichte.

Dass Genrefilme bekannte Formeln variieren, sollte kein Anlass zum Meckern sein. Das plötzliche Auftauchen eines Raumschiffs über einer Großstadt, seine Landung und den berühmten ‚First Contact’ kennt man aus dem Klassiker „The Day The Earth Stood Still“ (Robert Wise, 1951), der 2008 überflüssigerweise von Scott Derrickson recycelt wurde. In beiden Filmen bekam die Erde von dem Vertreter einer technologisch und ethisch überlegenen Alien-Zivilisation ein schlechtes Führungszeugnis ausgestellt. 

In „Attraction“ spielt Rinal Muchametow den Botschafter einer 47 Lichtjahre entfernten Kultur, die wegen der miesen Zukunftsprognose eigentlich kein Interesse an uns hat. Hakon, so nennt sich der Fremde, nennt präzise Zahlen: viele Milliarden Menschen seien durch Kriege ums Leben gekommen, ökologisch richten wir unseren Heimatplaneten zugrunde und in 600 Jahren sei ohnehin alles vorbei. Dann nämlich hätten sich die Bewohner des blauen Planeten selbst ausgerottet. Und er ist auch nicht gekommen, um eine letzte Warnung auszusprechen. Denn die Erde ist ein hoffnungsloser Fall, die soziale Aggressivität der Menschen sei zu groß. Neu ist das seit dem Hollywood-Klassiker von Robert Wise nicht, falsch aber auch nicht.



Russische Kids on the Block 

„Attraction“ beginnt mit kräftigen Moneyshots à la Roland Emmerich, dem Wüterich des Zerstörungs- und Überwältigungskinos. Und diese CGI-Bilder müssen sich vor amerikanischen Blockbustern keineswegs verstecken: Ein wie ein kreiselndes Gyroskop aussehendes UFO taucht über Moskau auf. Es ist durch einen Meteoriteneinschlag aus der Flugbahn geworfen worden und nähert sich bedrohlich der Erdoberfläche. Da die russischen Militärs bezweifeln, dass es sich um einen NATO-Flugkörper (!) handelt, wird es endgültig abgeschossen. Ziemlich dämlich, denn damit wird die Katastrophe erst ausgelöst. Das trudelnde Raumschiff legt eine Bruchlandung im Stadtbezirk Tschertanowo hin, verwandelt alles in Schutt und Asche und fordert hunderte Todesopfer. Nun soll Oberst Walentin Lebedew (Oleg Menschikow) die Lage vor Ort abklären. Der wortkarge Offizier verzichtet aber auf weitere militärische Schläge und sperrt die Absturzstelle ab, um in Ruhe abzuwarten, was passiert. Die Wut der Einwohner wird damit nicht besänftigt.

„Attraction“ ist keineswegs die russische Antwort auf „Arrival“, sondern eine zunächst dramatisch-actionreiche, dann recht lustige, am Ende aber auch sehr depressive Variante von
„The Day The Earth Stood Still“ und „E.T.“, in der der gestrandete Außerirdische zwar nicht nach Hause telefonieren will, aber nach der Reparatur seines Raumschiffs möglichst rasch das Weite suchen möchte. 
Fjodor Bondartschuk erzählt dies mit einem verblüffenden Stilmix, der im Mittelteil mit einer auch für den westlichen Zuschauer originellen Coming-of-Age-Geschichte der Story eine neue Wendung gibt. Im Mittelpunkt stehen nun weder schießwütige Militärs noch Wissenschaftler, die sich mit Alien-Kommunikation abmühen, sondern russische Kids on the Block.
Die eigentliche Hauptfigur des Films ist ausgerechnet Lebedews Tochter Julia, die starrköpfig genug ist, um alles, was Erwachsene sagen, erst recht ihr uniformierter Vater, zunächst einmal grundsätzlich anzuzweifeln. Irina Starschenbaum verkörpert überzeugend dieses spätpubertierende und eigenwillige Mädchen ziemlich spannend. Julia hängt mit Artjom (Alexander Petrow) ab, dem Anführer einer lokalen Jugendgang, und wird ausgerechnet beim heimlichen Liebesspiel mit ihrem Lover beinahe in den Trümmern ihres Hauses begraben, als das Raumschiff in ihrem Stadtteil aufschlägt. 
Julia verliert bei der Katastrophe ihre beste Freundin und ist fortan nicht gut auf die Fremden im Raumschiff zu sprechen. Doch als ein Außerirdischer in einem merkwürdigen Exoskelett auftaucht und ihr das Leben rettet, ändert sich alles. Julian revanchiert sich wenig später bei dem Fremden, der sich Hakon nennt, rettet nun ihm das Leben und beginnt langsam zu begreifen, dass der Außerirdische offenbar eher ein Opfer als ein Aggressor ist. Währenddessen gelingt es Artjom und seiner Gang, das Exoskelett zu entwenden, das offenbar Rüstung und Kraftverstärker zugleich ist.

„Attraction“ erzählt vom First Contact also nicht ganz so intellektuell wie „Arrival“. Bondartschuk macht aus dem Film im Mittelteil vielmehr eine flott erzählte Geschichte über das Milieu russischer Jugendgangs, etwas Coming-of-Age und auch etwas „Attack the Block“, der ja auch von Aliens im Kiez erzählte, und schließlich eine romantische Love-Story zwischen Julia und dem Fremden Hakon. Alles mit witzigen Untertönen. Dass Artjom nicht sonderlich davon begeistert ist, von einem Alien ausgebootet zu werden, ist klar. 


Das Ganze funktioniert leider nicht ganz ohne Zumutungen. Nicht alles wirkt in dem Script schlüssig. Dass Hakon humanoid ist, erklärt er damit, dass seine Spezies „ein Ast vom selben Baum ist“. So weit, so gut. Nicht ganz überzeugend ist allerdings, dass eine technologisch überlegene Rasse, die sich als (fast) unsterblich erweist und natürlich perfekt Russisch spricht, so gut wie nichts über die Menschen und ihre alltäglichen Lebensumstände in Erfahrung gebracht hat.

In dem von Andrei Solotarjow und Oleg Malowitschko geschriebenen Drehbuch ist die Absicht aber schnell erkennbar: Das etwas trottelige Auftreten von Hakon soll den Film mit dem erforderlichen Comic Relief unterfüttern und ist auch prompt der Auslöser für einige Szenen, in denen der Außerirdische in seltsamen Klamotten unerkannt durch Moskau marschiert, skurrile Erfahrungen mit irdischen Lebensmitteln macht, dank seiner neuen Freundin vor dem Zugriff der Behörden gerettet werden kann und sogar mit Julias Vater aneinandergerät, ohne dass dieser merkt, mit wem er es zu tun hat. Und schließlich muss Hakon zusammen mit seiner jungen Beschützerin auch wichtige Alien-Technologie für die Reparatur seines Raumschiffs aus einem streng bewachten militärischen Labor klauen. Der Plot pendelt sich zwischen Naivität und Witz ein, nicht alles läuft rund, aber dass sich das Narrativ von „Attraction“ an ein jugendliches Publikum richten soll, ist dabei unschwer zu übersehen.

Regisseur Fjodor Bondartschuk, der Sohn des berhmten Filmemacher Sergej Bondartschuk, ist im russischen Kino kein Unbekannter. 2005 erzielte er mit dem Afghanistan-Kriegsfilm „Die neunte Kompanie“ einen beachtlichen Kassenerfolg, wurde aber von den russischen Veteranenverbänden heftig angegriffen, weil einige historische Details angeblich nicht stimmten. 
Bondartschuks Verfilmung des Romans „Die bewohnte Insel“ der Sci-Fi-Ikonen Arkadi und Boris Strugazki war dann 2009 mit 30 Mio. US-Dollar der bis dato teuerste russische Film. „Dark Planet“ erschien in zwei Fassungen. Für den internationalen Markt wurde der Film um 100 Minuten gekürzt. 

Der 2013 in die Kinos gebrachte Kriegsfilm „Stalingrad“ erzählte von der Liebesgeschichte zwischen einem deutschen Wehrmachtsoffizier und einer jungen Russin und wurde als erster russischer 3D-Film ebenfalls ein nationaler Kassenerfolg, fiel aber bei der europäischen Filmkritik als Schmonzette gnadenlos durch. „Stalingrad“ setzte als erster russischer Film das IMAX-Format ein. 
„Attraction“ ist nun bereits der vierte in Russland produzierte Film, der das IMAX-3D-Format nutzt. Offenbar erfolgreich, denn Fjodor Bondartschuk spielte mit einer Billion Rubel das Dreifache seiner auf 6 Mio. US-Dollar geschätzen Produktionskosten ein.


„Die Erde ist unser Planet“

Blockbuster zu produzieren, ist also eine Sache des Budgets und hat mit gutem Storytelling erst mal nichts zu tun. Erzählt man in einem Blockbuster aus Versehen auch noch eine interessante Geschichte, dann passiert gelegentlich das Unwahrscheinliche. Man spürt die Kraft des Kinos. Die eigentliche Überraschung in Fjodor Bondartschuks Film ist daher die unkonventionelle Art, mit der Bondartschuk und seine Autoren das Genre nach dem spaßigen Mittelteil abrupt gegen den Strich bürsten. Kaum dass man sich das Komödienhafte von „Attraction“ gewöhnt hat, nimmt der der Film einen heftigen Stil-und Rhythmuswechsel vor, der auch dank der kraftvollen und authentischen Kameraarbeit von Mikhail Khasya eine Überzeugungskraft gewinnt, die man so nicht erwartet hatte.
Im letzten Filmdrittel verwandelt sich Bondartschuks Sci-Fi-Film nämlich in eine gewalttätige Milieustudie russischer Jugendkultur, die in Russland auch prompt nicht unwidersprochen hingenommen wurde. 
Dem vor Eifersucht rasenden Artjom gelingt es nämlich, in kurzer Zeit in ‚seinem’ Stadtteil eine nationalistische Atmosphäre des Fremdenhasses zu erzeugen („Die Erde ist unser Planet“), die zu einer gewalttätigen Auseinandersetzung mit den Fremden führt. Diese Spielart des „Russia First“ als Echo des Trumpschen Isolationismus und seiner Fremdenfeindlichkeit wischt sowohl den Humor als auch die zielgruppengerechte Coming-of-Age-Geschichte ruppig beiseite und lässt auch die russische Obrigkeit und die in Bondartschuks Films keineswegs zimperlich auftretenden Ordnungskräfte plötzlich ziemlich alt aussehen, als die aufgebrachte Bevölkerung und die militanten Jugendgangs das Raumschiff massiv angreifen, angeführt von Artjom, der nun das
Exoskelett Hakons trägt.

Dass dieser Stilwechsel nicht als inkonsistent empfunden wird, ist das eigentliche Kunststück des Films, in dem am Ende die Opfer schmerzvoll sind und die Perspektive auf eine friedvolle Verständigung mit den Havarierten auf dem Spiel steht. Auch Oleg Menschikow, einer der bekanntesten russischen Schauspieler, kann seiner Rolle des zwischen allen Stühlen sitzendem Oberst Lebedew in diesen Sequenzen mehr Profil geben. Der zunächst etwas holzschnittartige und bärbeißig skizzierte Vater Julias hat begriffen, dass jede Form der Eskalation ein verheerender Irrtum wäre, wird aber von der eruptiven Eskalation der Ereignisse beinahe überrumpelt. 
Dass Bondartschuk dieser zunehmend nachdenklicher werdenden Figur ausgerechnet den Nachnamen eines der härtesten nationalistisch-populistischen Politiker Russland gegeben hat, nämlich den des LDPR-Politikers Igor Lebedew, ist vielleicht Zufall, möglicherweise aber ein ironischer Kommentar. Mit dem Ultraradikalen hat Bondartschuks Figur jedenfalls so gut wie nichts zu tun. Vermutlich kommen sich Vater und Tochter nach diesem First Contact etwas näher. Etwas verbindet den strengen Herrn Papa aber mit den Besuchern: sie alle müssen
Julia noch verstehen lernen. Das Mädchen ist ihnen ein Rätsel.

Fjodor Bondartschuks „Attraction“ kann man trotz einiger Unstimmigkeiten eine gewisse Faszination nicht absprechen. Sein Film ist ein marktgerechter Blockbuster, der aber unübersehbar eine Botschaft übermitteln will. Dass dies sehr stark an die schlichten Allegorien und Metaphern des klassischen US-Science-Fiction-Films der 1950er Jahre erinnert, ändert nichts daran, dass „Attraction“ dies auf seine Weise ziemlich gut und auch kraftvoll hinbekommt. Glaubwürdiger als das hübsch anzusehende hyperstilisierte, aber inhaltlich blutleere Sci-Fi-Kino eines Luc Besson ist der Film allemal.

Noten: BigDoc = 2,5


Attraction – Russland 2017 – Regie: Fjodor Bondartschuk – Buch: Andrei Solotarjow und Oleg Malowitschko – Laufzeit: 137 Minuten – FSK: ab 12 Jahren – D.: Oleg Menschikow, Irina Starschenbaum, Alexander Petrow, Rinal Muchametow u.a.


Der Film lief in Deutschland in 30 Kinos der Kinokette CineStar. Das war mutig, da russische Blockbuster in Deutschland so gut wie keinen Markt haben. Der Film ist seit September 2017 auf DVD und Bluray erhältlich.