Samstag, 9. Dezember 2017

Silence

„Der Islam hasst uns“, stellte Donald Trump unlängst fest. Nun hat er seinen Muslim-Bann vor dem Verfassungsgericht in Washington durchsetzen können. Endgültig, wie es scheint. In Martin Scorseses „Silence“ sind es die Japaner, die Anfang des 17. Jahrhunderts ihre Türen verrammeln. Sie unterdrücken und töten die christlichen Minderheiten unter ihren Landsleuten. Und: europäische Priester sollen keinen Fuß mehr in ihr Land setzen. Überhaupt möchte man den Kontakt mit Ausländern auf ein Minimum beschränken. Liefert die sogenannte Abschließungspolitik der Japaner etwa eine Blaupause für aktuelle Probleme?

Ob derartige Analogien angemessen und sinnvoll sind, ist eigentlich egal. Verwendet werden sie ohnehin, also kann man sie auch diskutieren. So tauchte in den Foren, die Martin Scorseses Film diskutierten, bald die Idee auf, ob man die Japaner nicht verstehen müsse. Immerhin würden auch die Deutschen kein Vergnügen darin finden, sich von einer Flut von Muslimen überrennen zu lassen und dabei nicht nur ihre kulturelle Identität einzubüßen, sondern auch ihre politische Souveränität.



Nun sind eindimensionale Projektionen aktueller Probleme auf Bücher und Film mit historischen Sujets ohne differenzierte Kenntnisse selten geeignet, um in lange zurückliegenden historischen Ereignissen einen Wahrheitskern zu finden. Die starke Vereinfachung, die ein Gleichnis vornimmt, schert sich so gut wie nie um eine subtile historische Betrachtung. Ihr Ziel ist die Instrumentalisierung eines Sachverhalts, der selbst nicht mehr sonderlich unter die Lupe genommen werden muss. Zu klar scheint die Botschaft der Geschichte zu sein, die an uns gerichtet wird.


Verblendung und Ignoranz

In Martin Scorseses „Silence“ machen 1638 zwei portugiesische Jesuiten die Probe aufs Exempel. Sebastião Rodrigues (Andrew Garfield) und Francisco Garupe (Adam Driver) brechen trotz Vorbehalte ihrer kirchlichen Vorgesetzten nach Japan auf, um dort nach dem verschollenen Missionar Cristóvão Ferreira (Liam Neeson) zu suchen, der angeblich vom Glauben abgefallen sein soll. Über Macao reisen sie heimlich ein und finden, auf japanischem Boden angelangt, im Dorf Tomogi auch prompt eine christliche Gemeinde, die sozusagen undercover lebt und schärfster Verfolgung ausgesetzt ist. Rodrigues und Garupe finden sich in kalten feuchten Höhlen wieder, wo sich die Gemeinde heimlich trifft, sie dürfen, um nicht entdeckt zu werden, tagsüber ihre Hütte nicht verlassen, und die schroffe, abweisende Küstenlandschaft lässt sie wie Aliens erscheinen, die auf einem fremden Planeten gestrandet sind.
Die beiden Padres bleiben vorläufig bei der der Gemeinde und betreuen sie seelsorgerisch, finden aber bald heraus, was christlichen Japanern droht: Wer sich weigert, seinen Glauben abzulegen, wird aufs Grausamste misshandelt, verbrannt, am Strand an Pfählen gekreuzigt und von der Flut ertränkt, dies oft erst nach vielen Tagen. Auch Folter gehört zum Repertoire der japanischen Behörden, die systematisch nach Christen suchen.

Es geht also um Gewalt und scheinbar ungezügelten Sadismus, der den portugiesischen Padres wie eine Reise ins Reich der Barbarei vorkommt. Es ist, diese Analogie sei erlaubt, aber eher eine Reise ins Herz der Finsternis, wie sie Joseph Conrad ersonnen hat und die in Francis Ford Coppolas Vietnam-Epos „Apokalypse Now“ ihre Hauptfigur in ein Reich des Wahnsinns führte. Was uns Scorsese, der zeitlebens seinen Katholizismus mit einem kritischen Agnostizismus auszusöhnen versuchte, damit erzählen will, wird in dem fast drei Stunden langen Film nicht auf Anhieb ersichtlich. Aber natürlich wird rasch klar, dass die beiden entbehrungsreich lebenden Jesuiten die Suche nach Ferreira nicht aufgeben wollen. Dass sie dabei zunehmenden Glaubenskonflikten ausgesetzt sein werden, wird allerdings schnell deutlich. Es ist das eigentliche Thema des Films.

Gedreht wurde „Silence“ in Taiwan. Martin Scorsese begnügt sich dabei allerdings nicht mit den bildgewaltigen Außenansichten seines kongenialen mexikanischen und mehrfach preisgekrönten Kameramanns Rodrigo Prieto („The Wolf of Wall Street“), sondern geht ans Eingemachte. Im Off lässt er Sebastião Rodrigues die Erlebnisse kommentieren, besser gesagt: der Jesuit liest einen Brief vor, in dem er rückblickend die Ereignisse kommentiert. Off-Erzähler gelten nicht als kinoaffin, aber in Scorseses Film liegt dieser Kunstgriff auf der Hand, da er minuziös die seelische Verfassung seines Protagonisten und dessen existenzielle Krise feinsäuberlich rekonstruiert. 
Diese ist aber sehr ambivalent. Denn unabhängig von dem, was Scorsese im Sinn hatte, befindet sich seine Hauptfigur angesichts des unbekannten Landes, einer lebensbedrohlichen Situation, der Sprachprobleme und einer unverständlichen Kultur nicht nur inmitten einer spirituellen Krise, sondern offenbart sich auch als Kind seiner Zeit: unwissend, naiv und ideologisch bis zum Äußersten aufgeladen. Rodrigues kennt ebenso wenig wie sein Reisebegleiter die japanische Kultur und erst recht nicht die Geschichte des Landes und seine aktuellen politischen Wirrnisse.

Dies scheint ihm auch herzlich egal zu sein, es reichen Glaubensfestigkeit und Wahrheitsanspruch, um seinen Auftrag zu rechtfertigen. Als Vertreter des wahren Glaubens kann er die Andersartigkeit einer fremden Kultur nicht einmal ansatzweise ins Kalkül ziehen, zumal sein Weltbild in spiritueller Hinsicht durchaus hegemonialer Natur ist. Eine Form der Verblendung, die offenbar universell ist.
Verblendung heißt aber auch Ausblendung. Und während Rodrigues an der überwältigenden Gewalt, die ihm auf seiner Reise begegnet, bald zu verzweifeln droht, kommt ihm nicht in den Sinn, dass die Katholische Kirche über die Jahrhunderte ebenso gnadenlos vermeintliche Häretiker verfolgte wie die Japaner nun die Christen. Merkwürdig erscheint dabei, dass ausgerechnet ein Glaubensmann, der zu den in der Regel exzellent ausgebildeten Jesuiten gehört, nicht die Analogie zur katholischen Inquisition auffällt, die spätestens seit Beginn des 13. Jh. systematisiert wurde und 1252 mit dem von Papst Innozenz IV. erlassenen Dekret Ad extirpanda die Folter zur Wahrheitsfindung bei Inquisitionsprozessen legitimierte. Auch Jay Cocks („Gangs of New York“), der zusammen mit Scorsese das Drehbuch verfasste, blendet diesen Aspekt vollständig aus. Und auch das ist ein Akt offensichtlicher Ver- und Ausblendung.

Glaubensproben

Silence heißt übersetzt nicht etwa Stille, sondern Schweigen. In Martin Scorseses Film ist es das Schweigen Gottes, das den von Andrew Garfield vergrübelt und schmerzvoll gespielten Jesuiten Sebastião Rodrigues spirituell auf die Probe stellt. Dabei geht es nicht nur um die Frage, ob man sein Leben retten darf, indem man seinem Glauben abschwört. Vielmehr ist „Silence“ durchsetzt von religiösen Glaubensinhalte, die nicht sofort jedem Zuschauer auffallen werden. 
Zu ihnen gehört die besondere Rolle der Märtyrer in der Geschichte der christlichen Kirchen, die „Blutzeugen“ genannt wurden, wenn ihnen Folter und Tod wiederfuhr. Das Bekenntnis zum Glauben im Angesicht des Todes führte über die Jahrhunderte zu einer Glorifizierung dieser Märtyrer. Nicht nur im Christentum. Die sonderbare Dialektik, die sich hier zeigt, führt allerdings dazu, dass es immer die eigenen Glaubensbrüder sind, die posthum verehrt werden – die Märtyrer der Glaubensgegner sind selbstverständlich Häretiker oder haben schlicht und einfach den falschen Glauben. Dass uneingeschränkter Glaube und rigider Wahrheitsanspruch die Idee des Zweifelns ignorieren und vom passiven Märtyrertum zu einer Instrumentalisierung des wahren Glaubens als Waffe führen, folgt einer inneren Logik, die nicht erst im islamistischen Terror ihre ganze Perfidie gezeigt hat.

Das Schweigen Gottes angesichts dieser Qualen, Wahnhaftigkeiten und Absurditäten wird allerdings nicht immer als Problem erfahren. „Wir brauchen die Gottesfinsternis, wir brauchen das Schweigen Gottes, um wieder den Abgrund seiner Größe zu erfahren, den Abgrund unserer Nichtigkeit, der sich auftun würde, wenn er nicht wäre“, stellte Benedikt XVI. (Joseph Ratzinger) 2006 bei einem Besuch des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau fest und meinte damit besonders die Christen, die aus Glaubensgründen von den Nationalsozialisten verfolgt wurden.
Trotz dieses päpstlichen Trostes bleibt das Schweigen Gottes für Christen ein gewaltiges Problem. „Es wäre unwahrhaftig, zu verschweigen, dass gerade das Schweigen Gottes die größte Belastungsprobe unseres Glaubens darstellt“, stellte der Theologe Helmut Thielicke Anfang der 1960er Jahre fest. Thielicke sah in der Liebe, die der Gläubige durch Jesu Christi erfährt, den metaphysischen „Weltgrund“, der Furcht und Angst verschwinden lässt. Aber es ist eben diese christliche Metaphysik der Liebe, die in „Silence“ auf den Prüfstand geraten wird und zu einer erneuten Glaubensfrage führen wird.

Denn Rodrigues und Garupe haben ein weiteres Dorf kennengelernt, in dem heimlich Christen leben, und sie sind auch dem Konvertiten Kichijiro (Yosuke Kubozuka) begegnet, der die Hinrichtung seiner gesamten Familie miterleben musste, aber sein eigenes Leben retten konnte, weil er dem Christentum abschwor. In „Silence“ ist die Figur des Kichijiro interessant, weil die Unterwerfung des Konvertiten unter das geltende Gesetz ihn zwar völlig traumatisiert überleben lässt, die Spirale aus Verrat und Pragmatismus aber nicht beendet.
Kichijiro bleibt eine ambivalente Figur. Ist er ein negatives Beispiel für die moralische Korrumpierung, die Unterwerfung mit sich bringt? Oder hatte Scorsese etwa vor, zu zeigen, dass weder im Märtyrertum der Dörfler noch im verzweifelten Selbsterhaltungswillen etwas Heroisches zu entdecken ist? Oder schlimmer: Ist Kichijiros Verrat die unerbittliche Folge seiner Weigerung, als Märtyrer zu sterben? Es bleibt unklar, was Scorsese hier im Sinn hatte, und das ist keineswegs ein Positivposten seines Films.

In Tomogi sind inzwischen die Beamten des japanischen Inquisitors Inoue (Issey Ogata) aufgetaucht und fordern die Auslieferung der Jesuiten und der Christen, die auf ein Reliefbild der Jungfrau Maria oder eine Christus-Ikone treten sollen, um öffentlich ihrem Glauben abzuschwören. 
Rodrigues’ Rat, angesichts der tödlichen Konsequenzen dem Glauben abzuschwören, wird von Garupe abgelehnt. Die Dörfler verweigern sich einer Kollaboration. Daraufhin ertränken die Inquisitoren stellvertretend vier Dorfbewohner. Danach trennen sich Rodrigues und Garupe, die sich nun getrennt auf die Suche nach Ferreira begeben. Wenig später verrät Kichijiro für eine Handvoll Silber Rodrigues an die Verfolger. Der Jesuit wird nach Nagasaki gebracht und dort dem Chefinquisitor Inoue vorgeführt.

Der Verlust des Glaubens

In Nagasaki lernt Rodrigues den „Dolmetscher“ (Tadanobu Asano) kennen, der ihm den Clash of Cultures aus einer anderen Perspektive vorführt. Der polyglotte und gebildete japanische Intellektuelle erklärt dem Jesuiten aber weniger die Hintergründe der japanischen Abschottungspolitik, sondern konfrontiert ihn mit einer einfachen pragmatischen Frage: Ist es ein Akt der Liebe, wenn katholische Priester in seinem Land ihre Schützlinge nicht zu einem einfachen Akt der Glaubensabkehr ermutigen, um dadurch das Leben ihre Gemeinde zu retten?

Rodrigues hatte diesen Gedanken bereits selbst. Aber sein Gesprächspartner versucht ihm den eigentlichen Gehalt seiner Frage zu verdeutlichen: Die Japaner würden sich gar nicht so sehr für den Glauben ihrer Landsleute interessieren. Der Tritt auf das Reliefbild sei rein symbolisch zu verstehen, als Akt der Anerkennung der Autoritäten. Was andere tatsächlich glaube, sei letztlich egal, macht auch der Chefinquisitor Inoue dem Jesuiten klar. 
Was hier nicht nur als religiöses, sondern auch als metaphysisches Problem auftaucht, ist das Verhältnis eines von äußeren Bedingungen unabhängigen Glaubens, der seine Authentizität allein in der Innerlichkeit erfährt, und einem Glauben, der an Symbole, Reliquien, formale Akte semi-magische Rituale gefesselt ist. 

 

Die Gespräche Rodrigues’ mit dem Dolmetscher und dem Chefinquisitor sind sowohl historisch als auch glaubensethisch von zentraler Bedeutung. Was dem portugiesischen Padre dabei entgeht, sind die Feinheiten der formalistischen Religionstoleranz, die ihm seine japanischen Gesprächspartner anbieten.
Der Jesuit kann sich aber diesmal nicht dazu durchringen, die in Nagasaki zusammen mit ihm internierten Japaner dazu aufzufordern, den von der Obrigkeit bereits bagatellisierten Symbolakt zu vollführen. Als folgerichtiges Ergebnis seines moralischen Dilemmas wird Rodrigues Zeuge grausamer Folter. Seine japanischen Glaubensbrüder werden kopfunter über einer Grube aufgehängt und ein kleiner Schlitz an ihren Hälsen führt dazu, dass sie langsam und qualvoll ausbluten. Rodrigues muss auch miterleben, dass Francisco Garupe, den die Japaner inzwischen ebenfalls aufgespürt haben, ums Leben kommt, als er eine Ertränkung von Konvertiten zu verhindern versucht.

Dann arrangieren die Japaner endlich eine Begegnung mit Ferreira. Tatsächlich hat der Priester, der in Portugal für Ferreira und Garupe Lehrer und spirituelles Vorbild gewesen ist, dem christlichen Glauben abgeschworen und lebt unter japanischem Namen recht komfortabel in seinem Gastland als Lehrer und Wissenschaftler. Liam Neeson spielt den Abtrünnigen eher unterkühlt und distanziert. Rodrigues wird nicht erkennen können, ob die Assimilation seines väterlichen Vorbilds ein Instrument des Überlebens ist oder die folgerichtige Konsequenz einer völlig anderen Spiritualität, die sich der Symbolik entledigt hat und sich nun dadurch ausdrückt, dass Ferreira ein pragmatisches, sozial sinnvolles Leben führt. Ferreira räumt zudem auch nüchtern mit Rodrigues’ Glaubensproblemen auf. Er bezweifelt, dass die japanischen Konvertiten, deren Seelenheil der junge Jesuit verzweifelt zu retten versucht, tatsächlich Christen sind. Möglichweise fühlen sich die Japaner lediglich von der christlichen Symbolik mit ihren Marienbildern und Liturgien angezogen, vielleicht sehr utilitaristisch auch von der Vergebung der Sünden und dem Versprechen, nach dem Tode im Paradies für die Zumutungen des irdischen Lebens belohnt zu werden.

Ob es die Dekonstruktion des Symbolischen ist oder pure Verzweiflung angesichts der Qualen der Gefolterten: Rodrigues tritt schließlich auf eine Christus-Ikone und rettet damit das Leben der über den Grubenlöchern hängenden Menschen. 

Martin Scorsese inszeniert dies als Akt auktorialer Ermächtigung. War zuvor Rodrigues als Off-Erzähler ein integraler Teil der Diegese, so tritt Scorsese nun als auktorialer Erzähler auf und lässt Christus aus dem Off sprechen. Und der ermutigt Rodrigues zum symbolischen Tritt. Dies ist einer von zwei hässlichen Stilbrüchen in Scorseses Film, eine gewisse Fahrigkeit, die billig wirkt, weil hier der Dispens von höchster Stelle erfolgt und mit einer lässigen Souveränität das Thema des göttlichen Schweigens wortwörtlich zum Schweigen gebracht wird: Gottes Sohn spricht höchstpersönlich zu einem Verzweifelnden. 

Oder halluziniert Rodrigues lediglich? Ganz auszuschließen ist das nicht, denn zuvor sah der junge Jesuit bereits in einer Pfütze sein Ebenbild mit dem Gesicht von Jesus Christus verschmelzen. Damit zeigt Martin Scorsese, dass er sich mit mittelalterlicher Mystik auskennt. Sein deus ex machina aus dem Off wirkt allerdings wie ein billiger Jahrmarktstrick, der die zuvor verhandelten Glaubensfragen wie eine überflüssige Charade aussehen lässt. Es sei denn, dass Scorsese die sich daraus ergebende Inkonsistenz zum Erzählprinzip machen wollte. Es wird Zeit, sich der Geschichte zuzuwenden, die Scorsese nicht erzählt.

Christenverfolgung in Japan

"Silence" beruht auf dem Roman "Schweigen" des japanischen Schriftstellers Shūsaku Endō. In seinem 1966 erschienenen Buch erzählte der katholische Schriftsteller von einer japanischen Variante der Theodizee: kann ein allmächtiger Gott furchtbare Grausamkeiten zulassen und gleichzeitig gerecht sein? Und ist das Schweigen Gottes überhaupt auszuhalten. In Endō multi-perspektivisch erzähltem Roman glaubt die Hauptfigur am Ende, dass Gott nicht geschwiegen hat und eschatologisch all diese Qualen doch wohl einen Sinn ergeben.
Auch Scorsese bietet dem Zuschauer eine Reihe unterschiedlicher Perspektiven an: eine aus heutiger Sicht merkwürdig wirkendes christlich zentriertes Weltbild mit Hegemonialanspruch, im Off vorgetragen von einem distanzlosen Verfechter, der schließlich ein Opfer seiner eingeschränkten Wahrnehmung wird; andererseits auch eine japanische Sicht auf die Dinge, deren Protagonisten offenbar trotz aller Grausamkeiten gute Gründe für ihr Handeln haben, ohne dafür großes Vergnügen zu entwickeln.

In Scorseses überlangen Film bleibt wenig Platz für die komplizierte Geschichte Japans in der Sengoku-Epoche, die Ende des 15. Jh. mit einem völligen Zerfall der zentralen Machtstrukturen begann und zu einem Jahrhundert der Kriege zwischen unterschiedlichen Feudalherren, Warlords und lokalen Fürsten führte, ehe mit Oda Nobunaga (1934-1582) der erste der drei legendären Reichseiniger auftrat. Nobunaga unterwarf während seiner Feldzüge brutal zahlreich buddhistische Klöster, da die Mönche sich auf die Seite seiner Feinde geschlagen hatten. Ansonsten galt der erste Reichseiniger als jesuitenfreundlich.

Dies änderte sich in der Ära Toyotomi Hideyoshis (1537-1598), dem Widersprüchlichkeiten bei der Missionsarbeit der in Japan geduldeten Franziskaner auffielen und 1596 einige Mönche sowie 20 Konvertiten in Nagasaki kreuzigen ließ und sämtliche Kirchen in Japan schließen ließ. 
Seine Nachfolger setzten Hideyoshis Ausweisungsedikt im frühen 17. Jh. noch energischer um. Dabei ging es weniger um Glaubensfragen, sondern um politische und ökonomische Überlegungen, denn den Japanern war nicht entgangen, dass besonders die portugiesischen und spanischen Ordensbrüder mit der Etablierung christlicher Gemeinden in Japan auch zu Handlangern kolonialer Machtperspektiven wurden. Zudem bestand die Gefahr, dass ein uneingeschränkter Handel mit anderen Ländern dazu führen konnte, dass sich lokale Fürsten mit importierten Waffen (die Europäer hatten die Schusswaffen in Japan eingeführt) und üppige Handelsgewinne erneut in eine militärstrategisch günstige Position bringen könnten.

Das sogenannte „christliche Jahrhundert“ begann in Japan Mitte der 16. Jh. und endete 1639 mit der Niederschlagung des Shimabara-Aufstands. An ihm beteiligten sich viele christlich getaufte Bauern und etliche Samurai, aber es ging dabei eher um die zu hohen Steuern, mit denen die Bauern belastet wurden. Nach dem Aufstand wurden sowohl die Missionare als auch die portugiesischen Kaufleute aus dem Land geworfen.

Bei der Christenverfolgung ging es also nicht um die Verteidigung der eigenen Landesreligion und auch nicht um eine Anti-Globalisierungspolitik, wie einige Rezensenten des Films vermuteten, sondern um inländische Machtpolitik. Eine Zeitlang schienen die Christen ein zweckmäßiges Gegengewicht zu den politisch gefährlichen buddhistischen Orden zu sein, dann schätzten sie die Japaner der Hideyoshi-Ära als genauso bedrohlich wie ihre buddhistischen Gegenspieler ein. Die japanischen Konvertiten wurden so zu Opfern einer militärisch-ökonomischen Auseinandersetzung, in der die Japaner miteinander, aber auch mit kolonialen Bedrohungen im Clinch lagen. Die eigentlichen Hintergründe änderten nichts daran, dass die „Märtyrer von Nagasaki“ 1862 vom Vatikan heiliggesprochen wurden.

Der letzte Reichseiniger, Tokugawa Ieyasu (1543-1616), ging schließlich mit unerbittlicher Härte gegen die verbliebenen christlichen Gemeinden und Missionare vor: sie wurden ausgewiesen oder umgebracht. Die sogenannte Abschließungspolitik (sakoku) hatte damit ihren erfolgreichen Höhepunkt erlebt und Martin Scorseses Film spielt zu einer Zeit, als eigentlich alles Entscheidende bereits passiert ist. Bekennende Christen wurden gekreuzigt, ein einfacher Tritt auf eine Fumie (Tretbild) mit christlicher Symbolik rettete das Leben der Korobi Kirishitan (umgefallene Christen), die in der Folge wie der fiktive Jesuit Ferreira permanent jahrelang überwacht wurden. 

Mit der Niederschlagung des Shimabara-Aufstands war alles endgültig vorbei. Nur die Holländer wurden geduldet. Sie hatten während des Aufstands die Festung der Rebellen erfolgreich mit ihren Schiffskanonen beschossen. Man kann daran erkennen, dass Geschichte viel zu komplex ist, um aus der japanischen Abschließungspolitik des 17. Jh. mithilfe zusammengezimmerter Analogien irgendwelche brauchbaren Bewertungen für die Migrationsbewegungen des 21. Jahrhunderts zu gewinnen.

Glaubensfragen im Niemandsland

In Martins Scorseses „Silence“ bewegt sich seine Hauptfigur Sebastião Rodrigues in einem historischen Niemandsland. Andrew Garfield macht seine Sache als verzweifelter Sinnsucher durchaus gut, spielt aber im eigentlichen Sinne einen völlig faktenbefreiten Simplex, der ein Land aufsucht, dessen Geschichte er nicht kennt und der nicht wissen kann (oder will), was ihn erwartet. Er setzt seinen Fuß auf japanischen Boden, als es bereits zu spät ist für Missionsarbeit. Und sein zentrales Reiseziel führt in der Begegnung mit seinem Mentor Ferreira zu der bitteren Erkenntnis, dass Religion und Metaphysik zu marginalen Randphänomenen werden, wenn die alles bestimmenden politischen und ökonomischen Bedingungen den inneren und äußeren Glaubenskämpfen die Bedeutung nehmen.
Scorsese mag dies so nicht im Sinn gehabt haben, aber immerhin lässt er seine Hauptfigur am Leben. Rodrigues wird wie auch Kichijiro zu einem routinierten Glaubensverleugner, der sich in Japan niederlässt und eine Familie gründet. Später sieht man ihn zusammen mit Ferreira in einem Hafen: sie prüfen, ob sich unter den holländischen Handelswaren auch christliche Produkte und Symbole befinden. Man kann dies durchaus als Ergebnis einer gelungenen Integration deuten, aber womöglich ist auch dies eine unpassende Analogie.

Das mag Scorsese nicht gereicht haben, obwohl es völlig ausreichend gewesen wäre. Aber so kommt es zu einem zweiten ärgerlichen Stilbruch. Als Rodrigues nach einigen Jahrzehnten stirbt und nach buddhistischen Ritus verbrannt wird, fährt Roberto Prietos Kamera nämlich in besserwisserischer Manier ins Innere des Sarkophags und zeigt ein Kreuz in Rodrigues’ Händen. 
Hat es Rodrigues’ Witwe dort platziert oder hat es der Sterbende kurz vor dem Tode in seine Hand genommen?
Beide Versionen lassen unterschiedliche Deutungen zu. Und das gilt dann auch wohl für „Silence“, einen Film, zu dessen Vorzügen es gehört, ein grandioses Panorama metaphysischer Fragen zu entwerfen, dass so viele Erzählperspektiven bietet, dass man zum Glück am Ende nicht so ganz weiß, was Martin Scorsese eigentlich im Sinn hatte. 

Das Scheitern des mystischen Erlebens, dessen spirituelles Ziel die Versenkung und Vereinigung mit dem Göttlichen ist? Die gelingt ja, dem Willen des Regisseurs folgend. Nur sagt Jesus Christus, als er zu Rodrigues spricht, ausgerechnet das Falsche.

Oder untersucht Scorsese, der zaudernde katholische Agnostiker, die Facetten der Passionsmystik, dem Mitleiden mit Christus, dass diese obsessive Identifikation in seiner Erzählung fast zwangsläufig tödliche Folgen haben muss?
Dekonstruiert Scorsese diese Ideen etwa in der Konfrontation eines selbstgewissen Jesuiten mit dem vielschichtigen Weltbild einer Kultur, die ihn mit einer brutalen Politik konfrontiert, aber im Kern eine pragmatische Religionstoleranz zu bieten hat, zu der die Katholische Kirche in ihrer nicht weniger brutalen Geschichte erst viel zu spät fähig war?
Ist Rodrigues’ Passionsgeschichte vor diesem Hintergrund vielleicht auch nur die Lektion, sich von Symbolen und Riten zu trennen, von Äußerlichkeiten, die den subjektiven Wahrheitsgehalt des Glaubens nur behindern? Dann wäre die filmische Lektion Scorseses nämlich einfach: Das Symbol ist nicht die Sache selbst. Eine durchaus verträgliche Botschaft in Zeiten, die wieder in die entgegengesetzte Richtung drängen.

„Silence“ bleibt unentschlossen. Das ist trotz einiger Misstöne vielleicht die Stärke des Films, für den sich allerdings nur ein handverlesenes Publikum interessieren wird.
Aber das ist nun wirklich kein Problem.

Noten: Klawer, BigDoc = 1,5, Melonie  2

Silence - USA 2016 - Regie: Martin Scorsese – Drehbuch: Martin Scorsese, Jay Cocks (nach dem Roman „Chinmoku“ von Shūsaku Endō) – Kamera: Rodrigo Priesto – Schnitt: Thelma Schoonmaker – D.: Andrew Garfield, Adam Driver, Liam Neeson, Tadanobu Asano, Yosuke Kubozuka, Issey Ogata - Laufzeit: 159 Minuten.