Montag, 13. Januar 2020

Dracula - NETFLIX-Serie verflacht nach starkem Beginn

Inmitten eines scheinbar sich immerwährend steigernden Peak TVs, das fast wie aus dem Handgelenk jährlich Serien im dreistelligen Bereich auf den Markt wirft, muss man schnell entscheiden, was man sich zumutet und was nicht. Im Falle der BBC-Miniserie „Dracula“ lautet der Rat: bitte die erste Folge anschauen, dann auf den Rest verzichten.



Unerschöpfliche Schauergeschichte

Muss man das sehen? Oder anders gefragt: Schafft man das noch? Im Jahr 2002 wurden allein für den US-amerikanischen Markt über 180 Serien produziert. 2016 waren es über 450. 2019 wurde dann die Marke geknackt: 532 Serien waren es laut New York Times. Für Broadcast, Cable TV, Streaming-Anbieter etc. Und nun auch noch zum x-ten Mal Dracula, obwohl NBC erst vor wenigen Jahren dem Fürsten der Finsternis eine Serie spendierte.

Natürlich kann es keinen Kritiker geben, der alles sieht. Wer sich grob orientieren will, muss sich quer durch den medialen Medienwald lesen. Was dabei entsteht, ist eigentlich ziemlich klar: man orientiert sich an den Mega-Hits, am Mainstream also, oder an seinen eigenen Genreaffinitäten. Oder man packt sich eine Handvoll Serien in den Fundus und schaut sich im jährlichen Rhythmus die neuen Staffeln an. Ein Streaminganbieter soll ja bereits seinen Kunden anbieten, die neue Ware in 1,5-facher Geschwindigkeit anschauen zu können. Auch die Serienproduzenten
haben mittlerweile erkannt, dass knackige Quoten und lange wirkende Bindungskräfte nicht immer auf Bestellung hergestellt werden können. Mini- oder Anthologie-Serien sind daher ein moderater Versuch, zwischen „dauerhaft“ und „kurz und knackig“ zu vermitteln. Besonders dann, wenn die Autoren und Showrunner mehrfach bewiesen haben, dass sie ihr Metier beherrschen.

Die von Mark Gattis und Steven Moffat für BBC One produzierte dreiteilige Miniserie „Dracula“ konnte vor diesem Hintergrund durchaus als neuer Platzhirsch im Frühjahrsgeschäft wahrgenommen werden. Gattis und Moffat waren nicht nur die Schöpfer von
„Sherlock“, der Erfolgsserie mit den von Benedict Cumberbatch und Martin Freeman brillant verkörperten Superdetektiven Sherlock Holmes und Dr. Watson, sondern mischten auch 12 Jahre erfolgreich bei „Dr. Who“ mit. Bessere Referenzen gibt es nicht. Und nun der Fürst der Finsternis! Mit Gattis und Moffat am Ruder konnte nach Arthur Conan Doyles Superhirnen mit Bram Stokers Blutsauger eigentlich nichts schiefgehen.
Doch Vorsicht! Um die Figur des legendären Vampirs Dracula, die Bram Stoker im viktorianischen England des 19. Jahrhunderts ersonnen hatte, wurde im Jahrhundert des Kinos ein visueller Kosmos voller Konventionen und gelegentlicher Updates aufgebaut. In dem vertrauten Treiben war außer formalen Mätzchen über die Dekaden hinweg eigentich nicht viel Neues zu erwarten. Und eigentlich war es nur noch spannend, durch welchen Darsteller man in das dunkle Triebleben des scheinbar unsterblichen Vampirs eingeführt werden sollte. Eine Frage, die sich wohl auch Gattis und Moffat stellten.

Du bist, was du isst

Natürlich wieder mit einem überragenden Hauptdarsteller! In der BBC-Serie ist es der Däne Claes Bang, der tatsächlich eine exzellente Version des transsylvanischen Grafen hinlegt. Und Mark Gattis und Steven Moffat erzählen die vertraute Geschichte zunächst originell und abwechslungsreich und auch mit Respekt vor dem Kanon des Stoffes.
Diegetisch orientiert sich die Erzählung daher an Bekanntem. Wieder einmal ist es der unglückselige Jonathan Harker (John Heffernan), der als britischer Anwalt in Draculas Schloss aufschlägt, um dessen Übersiedlung nach England vorzubereiten. Dracula tritt ihm als betagter Klappergreis gegenüber, erfreut sich aber nach einigen Tagen bester Gesundheit und neuer Gestalt, während der schüchterne Anwalt zusehends verfällt. Man weiß, warum. Erst recht, als in Großaufnahme eine Fliege über Jonathan Harkers Auge krabbelt und dann in der Augenhöhle verschwindet.

„Dracula“
funktioniert in
Episode 1 „The Rules of the Beast“ ausgezeichnet, weil Gattis und Moffat aus dem Grafen nicht nur die bekannte blutrünstige Bestie gemacht haben, das auch, sondern einen faszinierenden und äußerst eloquenten Vampir, der seinen Opfern nicht das Blut aussaugt, sondern sich mit dem roten Lebenssaft auch deren Erinnerungen und Kenntnisse aneignet. Der dandyhafte Dracula wird sozusagen multi-lingual und so trinkt er in der zweiten Episode auf die Schnelle das Blut eines Bayerisch sprechenden Matrosen, um danach mit einer deutschen Adeligen sein Gespräch in blendendem Bayerisch fortsetzen zu können. Messerscharfe Rhetorik und intellektuell faszinierende Argumentationskraft verkörpert Claes Bang in solchen Szenen virtuos.

Ohne einen Gegenspieler auf Augenhöhe funktioniert das aber nur eingeschränkt. Und wieder einmal ist es ein Spross der Van Helsing-Linie, der dem untoten Blutsauger gehörig auf die Nerven geht. Dem Zeitgeist folgend ist es diesmal eine Frau, die ungarische Nonne Agatha van Helsing (Dolly Wells). Die treibt aber weniger ein religiöses als vielmehr ein wissenschaftliches Interesse an. Mark Gattis und Steven Moffat entwickeln diese Figur richtig gut und mit viel Chuzpe. Als Agatha den aus Draculas Schloss entkommenen Jonathan Harker in einem Kloster ausgiebig verhört, erweist sich die Nonne nämlich als sarkastische Kommentatorin, die auch ihre Motive schnell ins rechte Licht rückt: „Wie viele Frauen bin ich gezwungen, an einer Ehe ohne Liebe festzuhalten – nur um ein Dach über dem Kopf zu haben!“
Bei so viel Eigensinnigkeit ist eine von tiefem Glauben erfüllte Bekämpfung des Vampirs eher nicht zu erwarten („Glaube ist nur ein Schlaftrunk für Kinder und Einfaltspinsel“), eher schon ein gesundes Interesse an empirisch relevanten Fakten und einer messerscharfen psychologischen Analyse. Das macht Spaß, auch als der Graf in der Form eines Wolfes vor dem Kloster auftaucht und von der souveränen Agatha gezwungen wird, sich in seiner wahren Gestalt zu zeigen. Wenig später steht Dracula splitterfasernackt vor einer Schar entsetzter Nonnen, kann aber das Kloster nicht ohne ausdrückliche Einladung betreten. 


Die erste Episode der dreiteiligen Miniserie dauert wie alle anderen Folgen knapp 90 Minuten. Mark Gattis und Steven Moffat haben dieses ungewöhnliche Format in der ersten Episode aber völlig im Griff. Sie bieten in „The Rules of the Beast“ ein mitreißendes Spektakel, das mit schlagfertigen Dialogen glänzt und seinen Horror sehr explizit und sehr blutig auf eine Weise präsentiert, die auch angesichts der Genrekonventionen frisch und unverbraucht aussieht. Dracula wirkt dabei eher redselig als dämonisch. Die nun wirklich nicht splatterfreien Szenen nehmen dem Zuschauer allerdings jeden Glauben daran, dass der Graf aufgrund seines Enthusiasmus für intelligente Gespräche und seiner exquisiten Umgangsformen vielleicht ein Herz für seine Opfer hat. Wenigstens gelegentlich. Hat er nicht. Leider müssen das auch die Nonnen erfahren.



Es folgt der Niedergang. Leider.

Leider kann dann die Serie das Niveau der ersten Folge nicht halten. Bereits in Folge 2 „Blood Vessel“ beschränken sich die Showrunner auf eine ausgelutschte Agatha Christie-Erzählschablone. Die Handlung wird auf das Handelsschiff „Demeter“ verlegt, auf dem auch Dracula einen Platz gebucht hat, um endlich nach England zu gelangen. 

„Ein Land voller kluger und kultivierter Menschen“, schwärmt der Graf, der viel Wert darauflegt, als „Connaisseur“ wahrgenommen zu werden, der nur dann wahllos seine Opfer wählt, wenn es die Not erfordert. Und so dezimiert der Graf, der die Reise auch deshalb antrat, um seine Zurückhaltung zu trainieren, nicht nur die Besatzung des Schiffes, sondern auch die noble Gesellschaft, die sich an Bord befindet. Wie in einem
Agatha Christie-Krimi verschwindet einer nach dem anderen. Der Graf beteiligt sich vergnüglich an der Suche nach dem Mörder, in Sachen Selbstbeherrschung fehlt ihm aber offenbar die erforderliche Disziplin. Denn in der mysteriösen Kabine Nr. 9 schlummert die überwältigte Agatha van Helsing vor sich hin, die der Connaisseur als Premium-Lebensmittel mit auf die Reise genommen hat.

Das kann man sich noch anschauen, aber bereits auf halber Wegstrecke ist den beiden Showrunnern dabei die Originalität abhandengekommen. Einige Figuren recht interessant sind, werden aber nicht spannend entwickelt, weil ihr Schicksal sich schneller erfüllt als es der Handlung guttut. Diese Halbherzigkeiten werden von dem Ensemble gut überspielt, mit zunehmender Dauer sorgt der konventionelle Plot aber für gepflegten Stillstand.


Mit der letzten Folge „The Dark Compass“ verirren sich dann Gattis und Moffat beim Versuch, dem nicht zu Unrecht altmodischen Stoff eine moderne Ausrichtung zu geben. Das hatten bereits die Hammer Studios 1972 mit „Dracula A.D. `72“ (Dracula jagt Minimädchen) versucht und die Handlung ins London des Jahres 1972 verlegt. Das wirkte albern, für viele Zuschauer war es kultig. Aber das Drehbuch war schwach und kündigte das Ende der Hammer-Version des von Christopher Lee gespielten Dracula an. Modernes Aufpeppen gelingt halt nicht immer.


Auch „The Dark Compass“ spielt im England der Gegenwart. Und das, nachdem der Graf über 120 Jahre in den Tiefen des Meeres in seinem Sarg schlummerte. Nun watet er an Land und wird prompt von einer Truppe Polizisten erwartet - und von Dr. Zoe Van Helsing (ebenfalls Dolly Wells), der Ur-Ur-Nichte von Agatha. Nach einigen Verwicklungen und leider auch einigen Logiklöchern kann Dracula entkommen und sich unters Volk mischen. 
Das führt zu einigen witzigen Szenen, etwa wenn der Graf staunend vor einem Flat Screen sitzt und einen in bestem HD flimmernden Tierfilm ebenso bestaunt wie die luxuriöse Unterkunft einer Sozialhilfeempfängerin, die sich so ein Gerät leisten kann.
Dann wird Dracula von seinen Häschern gefangengenommen und in die Jonathan Harker Foundation verbracht, wo er (natürlich!) wissenschaftlichen Zwecken dienen soll. Auf die verblüffenden neuen Technologien des 21. Jh. lässt sich Dracula dann schneller ein als es den Wissenschaftlern und dem paramilitärischen Wachpersonal lieb sein kann. Mithilfe eines geklauten Tablets und dem schnell erratenem WLAN-Password (wenig einfallsreich: Dracula) heuert der eingesperrte Vampir den Anwalt Frank Renfield an (von Mark Gatiss höchstpersönlich gespielt), der ihn prompt befreit: auch ein Vampir hat Menschenrechte!

So mäandert die letzte Episode zwischen einige gelungenen Pointen, mäßigen Sitcom-Witzen und einer etwas abstrusen Liebesgeschichte Draculas mit der polygamen und zynischen Lucy Westenra (Lydia West) hin und her, während weitere Figuren aus Bram Stokers Roman recht lieblos in die Handlung geworfen werden, ohne dass Nennenswertes über sie erzählt wird.
Die Geschichte verliert dadurch die Konsistenz der ersten Episode, das Drehbuch
erzeugt mit belanglosen Nebenhandlungen einen eher stolpernden Rhythmus. Da sich vieles dann auch noch als Chimäre in den Köpfen der Protagonisten ereignet, nimmt der Anteil parodistischer und flachwitziger Szenen trotz vieler pointierter Dialoge zu wie auch die unnötige Verkomplizierung der Handlungsebenen - bis das Interesse am Ausgang der Geschichte verlorengeht.
In „Sherlock“ war durch unzählige Filme und Serien der Referenzrahmen auch ziemlich groß gewesen, aber mit dem erfolgreichen Transfer des Superdetektivs ins England der Gegenwart hatten Mark Gattis und Steven Moffat einen kreativen Volltreffer gelandet. Nun glaubten sie offenbar, dass man das noch einmal machen könne: Sherlock im Internet! Klappt nochmal: Dracula mit Tablet und Smartphone! Klappte aber nicht.

Das Ende machte es mit einer wenig flamboyanten Psychoanalyse von Agatha Van Helsing aka Zoe noch schlimmer. Die
deskonstruiert innerhalb weniger Minuten nicht nur die „Regeln des Biests“, sondern enthüllt mit einem Fingerschnips auch seine tiefste Angst, was den 500 Jahre alten Vampir überraschend schnell existenziell entwurzelt und in den Suizid treibt. Das wirkte wenig plausibel, kaum glaubwürdig und eher zusammengeschludert.
Nun gut, der Tod des Monsters muss nichts bedeuten, denn die Rückkehr Draculas ist ein bekannter Topos des Genres. Also ein Cliffhanger? Mark Gattis und Steven Moffat
haben bereits angedeutet , dass ihnen ein Sequel unangenehm wäre. Vielleicht ahnen sie, dass sie den Charme von „Sherlock“ nicht hinbekommen haben. Und ohnehin stehen die beiden Erfolgsgaranten bei einigen Kritikern im Verdacht, einen Anfang gut erzählen zu können, aber kein Ende hinzubekommen.

In England waren die Quoten befriedigend, aber nicht überragend: 3,6 Mio. Zuschauer sahen die erste Episode, danach folgten mit 2,8 und 2,5 Mio. etwas weniger Zuschauer der Horrorserie. Und das Fazit? Man riskiert einiges, wenn man sich dem neuen „Dracula“ anvertraut, der gerade bei NETFLIX in Schaufenster steht. Zeit auf jeden Fall, vielleicht werden auch einige Lebenskräfte von der BBC-Serie ausgesaugt. Die ist bei der Kritik überwiegend gut angekommen, auch wenn einige Schreiber doch Zweifel bekamen. In einem Punkt sind sich alle einig: Die erste Episode war brillant.


Note: BigDoc = 3


Dracula – BC, Netflix (2020) – Miniserie, 3 Episoden (90 Minuten) - Showrunner, Buch: Mark Gattis, Steven Moffat – D.: Claes Bang, Dolly Wells, John Heffernan, Jonathan Aris, Lydia West, Matthwe Beard, Mark Gattis.